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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Der lange Weg in die Autonomie

Maria Hunger | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

„Was verstehst du unter Zapatismus?“ – „Mmh, zum einen Autonomie, zum anderen viel, viel Geduld!“[1]

Dreizehn Jahre ist es nun her, dass die zapatistische Bewegung der Campesin@s[2] (Kleinbauern/Kleinbäuerinnen) mit ihrem Ruf nach Anerkennung als Teil der mexikanischen Gesellschaft in die Öffentlichkeit trat. Die Forderung nach Autonomie, die alle gesellschaftlich relevanten Bereiche, wie die kulturelle Eigenständigkeit, die Kontrolle über die Ressourcen, politische Selbstverwaltung und ein eigenes Rechtsystem umfasst, existierte dabei eigentlich schon lange bevor die Guerilla der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) erschien und hat sich bis heute kaum verändert.

Sichtbar verändert hat sich dagegen, dass seit dem Aufstand der Zapatistas am 01. Januar 1994 die Autonomie in den aufständischen Gebieten nicht mehr nur gefordert, sondern gegen den Willen der Regierung und mit der Unterstützung der EZLN in die Tat umgesetzt wird. Dabei verstehen die Zapatistas unter Autonomie ausdrücklich nicht die „Fragmentierung des Landes oder Separatismus, sondern die Ausübung des Rechtes, sich selbst zu regieren, wie in Artikel 39 der politischen Verfassung [Mexikos] verankert“ (Subcomandante Marcos). Ihr Politikverständnis und ihre Vorstellungen vom revolutionären Kampf, für eine radikale Basisdemokratie, für ihre Selbstbestimmung und für die Würde stellen dabei nicht nur abstrakte Ziele dar, sondern sind in ihrem Alltag allgegenwärtig.

Durch die großflächige Wiederaneignung und Besetzung von fruchtbarem Land wurden seit 1994 nötige Freiräume geschaffen, in denen autonomes Denken und Handeln überhaupt erst möglich wurde. Bis heute hat sich somit ein alternatives Verwaltungssystem etabliert, in dem die einzelnen Comunidades (Gemeinden) die oberste Entscheidungsebene darstellen. Die staatlich festgelegten Landkreise (Municipios) wurden nach geographischen und kulturellen Aspekten neu aufgeteilt und sind heute Orte kollektiver Landwirtschaft und Entwicklung sowie der Streitschlichtung. Überregional organisieren sich die Zapatistas über fünf zentrale Versammlungssorte, sogenannte Caracoles[3], die untereinander weitgehend unabhängig sind und denen die jeweils umliegenden Municipios zugeordnet wurden. Die Caracoles fungieren in erster Linie als Kommunikations- und Logistikzentren, in denen sich neben den großen Versammlungsstätten auch Läden, Werkstätten, Kultureinrichtungen und vereinzelt weiterführende Schulen und Hospitäler befinden. Sie dienen als Anlaufstelle für jene, die Kontakt mit den Zapatistas aufnehmen wollen. Hier finden auch die Treffen mit der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft[4] statt.

Das entscheidende Merkmal der zapatistischen Selbstverwaltung ist der Grundsatz, dass die Entscheidungsmacht über die Gestaltung des Zusammenlebens bei den Gemeinden liegt, die alle Belange in Vollversammlungen diskutieren und im Konsens beschließen. Dies gilt ebenfalls für Entscheidungen, die das militärische und politische Vorgehen der Guerilla betreffen. Die EZLN sieht sich ihrer Basis verpflichtet und handelt nicht, ohne vorher Absprachen mit ihr zu treffen. Die gewählten Vertreter/innen werden in die politischen Ämter der Landkreise und Caracoles entsandt, wo sie nach dem Grundprinzip des „gehorchenden Regierens“ jederzeit wieder von ihren Aufgaben enthoben werden können, sofern diese nicht nach den Beschlüssen ihrer Gemeinde handeln. Ein weiteres entscheidendes Merkmal ist die ständige Rotation der Verantwortlichen zwischen den einzelnen Ämtern. Je nach Gebiet haben somit die jeweiligen Entsandten nur wenige Wochen einen Aufgabenbereich inne. Dies soll einen wirksamen Schutz gegen Korruption und Amtsmissbrauch bieten, aber auch möglichst vielen Menschen die Möglichkeit geben, selbst an den Verwaltungsaufgaben teilzuhaben, um dann als Multiplikatoren ihre Erfahrungen in die Gemeinden zurück tragen und somit ein breites Verständnis für die Anforderungen der Selbstverwaltung in der Bevölkerung erzeugen.

Diese Art der Politikgestaltung ist natürlich sehr zeitintensiv und verlangt von den Zapatistas sehr viel Geduld. Gerade dieser Aspekt spiegelt aber auch den Anspruch des zapatistischen Politikverständnisses wieder, “im Tempo des Langsamsten zu gehen”, um auch alle, die es wollen, am Aufbau alternativer Formen des Zusammenlebens zu beteiligen. Gemäß diesem Prinzip und dem des Preguntando caminamos („fragend gehen wir voran“) probieren die Zapatistas ihre Vorstellungen von Autonomie immer wieder neu aus und modifizieren ihr Konzept nach aufgetretenen Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung. Das hat auch zur Folge, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Gemeinden zum Teil erheblich sind und allgemein gültige Aussagen über das Leben dort kaum getroffen werden können. Jede Dorfgemeinschaft lebt die Autonomie auf ihre eigene Art, wobei die verschiedenen indigenen Traditionen eine entscheidende Rolle spielen. Auch dieser Umstand bildet einen grundlegenden Konsens im Autonomiekonzept der Zapatistas. Das erklärte Ziel „eine Welt“ aufzubauen, „in der viele Welten ihren Platz haben“ beinhaltet gerade eben den Versuch, eine Vielzahl von möglichen Lebensformen nebeneinander existieren zu lassen, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Eben darin unterscheidet sich der zapatistische Autonomieanspruch von dem homogenisierenden Konzept des modernen kapitalistischen Staates, in dem das Individuum unabhängig von seiner kulturellen Identität (bspw. als Angehörige/r einer indigenen Kultur) als bloßes Wirtschaftssubjekt (z.B. als Kleinbauer/Kleinbäuerin) oder potenzielle Wähler/in verstanden wird. Darüber hinaus stößt dieser Anspruch in der Selbstbetrachtung aber gleichzeitig auch an eigene traditionsbestimmte Ungleichgewichte sozialer Machtverhältnisse, die einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Das betrifft an dieser Stelle insbesondere das Rollenverständnis von Mann und Frau. So wurde bereits ein Jahr vor dem Aufstand der Zapatistas in den Gemeinden das als ‚Revolution in der Revolution‘ bekannt gewordene „Revolutionäre Frauengesetz“[5] verabschiedet.

Leben im Süden Mexikos

Die meisten der zapatistischen Gemeinden wurden im Zuge der Landbesetzung nach 1994 gegründet und befinden sich auf Gebieten ehemaliger Großgrundbesitzer/innen, die teilweise vertrieben wurden oder freiwillig ihr Land aufgaben. Einige der Gemeindeländereien wurden mittlerweile durch den Kauf des Landes legalisiert, was allerdings nur wenigen zapatistischen Gemeinden möglich ist. Der Großteil lebt währenddessen nach wie vor mit einer kaum abschätzbaren Bedrohungslage der Landvertreibung. Im Rahmen des staatlichen Programms zur “Aufstandsbekämpfung” zielt die Schaffung eines permantenten Zustandes der Angst und Unsicherheit in erster Linie auf die Zermürbung und Spaltung der zivilen Basis der EZLN und ist in vielen Fällen bereits geglückt. In Chiapas sind derzeit ca. 60 000 Soldaten in 118 Camps (davon 57 direkt auf Gemeindeland der Indigenen und Bauern)[6] stationiert, so dass die Bevölkerung selbst in den entlegensten Winkeln des Landes einer ständigen Repression durch die Anwesenheit des Militärs ausgesetzt ist.

Zur staatlichen Strategie des Krieges Niederer Intensität7 gehören zudem die Landvergabe und Ansiedlung regierungstreuer Bauern (sog. Priistas – abgeleitet von ihrer Unterstützung der Staatspartei PRI), die überdurchschnittlich hohe staatliche Zuwendungen erhalten und somit den sozialen und ökonomischen Druck auf die zapatistischen Familien erhöhen. Gleichzeitig stellen diese in vielen Fällen auch die Basis für paramilitärische Organisationen. Die Duldung und Unterstützung paramilitärischer Gruppen durch die politische und wirtschaftliche Elite des Landes zielt vor allem auf die Verschleierung der staatlichen Verantwortung für Übergriffe auf zapatistische Gemeinden, indem der Konflikt in Chiapas in der Öffentlichkeit als Problem zwischen unterschiedlichen indigenen Gemeinden oder Gruppen dargestellt wird.

Trotz diesen Umstandes hat sich die Lage der zapatistischen Kleinbauern in den letzten 13 Jahren vielerorts sichtbar verbessert, vor allem im Hinblick auf die Nahrungsmittelversorgung, die neben der Selbstversorgung durch die vielen unterschiedlichen Kooperativen für Kunsthandwerk, Kaffee und andere Agrarprodukte erreicht wurde. Ein zapatistischer Dorfbewohner kommentierte dies mit Blick auf die dicken Bäuche der Männer in seiner Gemeinde. Allgemein sollte das aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Leben der Campesin@s nach wie vor von Armut geprägt ist. Noch heute sind die häufigsten Todesursachen leicht heilbare Krankheiten, zu einem Großteil hervorgerufen durch die meist fehlende Trinkwasser- und Abwasserversorgung sowie die Nichtbereitstellung öffentlicher Basisdienste[8].

Der Konstruktion eines regierungsunabhängigen Gesundheits- und Bildungssystems kommt daher im Kampf um die Autonomie eine besondere Bedeutung zu. In fast jeder Gemeinde wird über die Ernennung von Promotoren (als eine Art Beauftragte) für den Schulbereich und die medizinische Versorgung eine schrittweise Verbesserung der Lebensbedingungen angestrebt. Zum einen bietet dies die Gelegenheit, traditionelles und auf die Region abgestimmtes Wissen, das teilweise bereits verlorengegangen schien, wieder zu beleben und auch weiterhin zu nutzen. Zum anderen dient gerade das staatliche Gesundheits- und Bildungswesen immer wieder zur massiven Einflussnahme und rassistischen Unterdrückung der indigenen Bevölkerungsschichten (so z.B. zur Zwangssterilisation indigener Frauen oder dem “Verlorengehen” der Mayasprachen durch ausschließlich in spanischer Sprache geführten Unterricht).

Widerspruch zwischen Alltag und revolutionärer Utopie?

Auf dem Weg in die kulturelle Selbstbestimmung stehen die Zapatistas erst am Beginn eines langen aber notwendigen Prozesses, was ihnen auch bewusst ist. Autonomie kann dabei in vielen Fällen aber gerade nicht mit Autarkie gleichgesetzt werden. Nach wie vor sind gerade die Projekte zur grundlegenden Verbesserung der allgemeinen Lebenssituation nicht ohne die Unterstützung von außen realisierbar. Dies betrifft beispielsweise die technische und finanzielle Abhängigkeit der zapatistischen Campesin@s von solidarischen Organisationen und Einzelpersonen aus dem In- und Ausland beim Aufbau einer unabhängigen Trinkwasser- und Stromversorgung, wie auch die Notwendigkeit einer weiterhin breiten, weltweiten Öffentlichkeit, die durch alle aktiven Unterstützer/innen, insbesondere aber durch die Menschenrechtsbeobachtung, erreicht wird. Dass es trotz aller politischen Abwägungen dabei auch zu Grenzfällen zwischen der guten Absicht konkreter Unterstützungund fehlender Konfliktsensibilität mit Blick auf die langfristigen Folgen einer nicht genügend reflektierten Einwirkung von außen kommen kann, ist nicht auszuschließen. Gerade die Arbeit als internationale/r Unterstützer/in verlangt in dieser Hinsicht die Reflexion des eigenen kulturellen Selbstverständnisses und der Vielschichtigkeit des politischen Kampfes, der in den bestehenden Verhältnissen und alltäglichen Möglichkeiten zum Widerstand unterschiedlich gegeben ist, in Chiapas ebenso wie in allen anderen Teilen der Welt.

Dabei bleiben auch die zapatistischen Campesin@s hinsichtlich ihres eigenen Emanzipationsprozesses selbstkritisch im Bezug auf die Reflexion ihrer eigenen Tradition und Werte. Seit der Rebellion 1994 wurde vieles hinsichtlich der Verwirklichung einer alternativen Lebenspraxis erreicht, dagegen in vielen sozialen Teilbereichen erst zögerliche Schritte begonnen. Daher wird es auch zukünftig nötig sein, weiterhin das nötige Durchhaltevermögen beizubehalten und den alltäglichen Widerstand poco en poco umzusetzen…Si la lucha sigue![9] (3/07)


Informationen zum Kampf der Zapatistas und Möglichkeiten zur Arbeit als Menschenrechtsbeobachter/ in auf Deutsch und Spanisch unter:
www.ezln.org
www.chiapas.ch
www.chiapas98.de
www.gruppe-basta.de
www.frayba.org.mx
www.sipaz.org
Informationen zur Menschenrechtsarbeit in Chiapas und wie man selbst aktiv werden kann, unter:
www.buko.info/carea

Anmerkungen:

[1] Aussage eines zapatistischen Bauern auf meine Frage, was er unter Zapatismus versteht, Sommer 2006
[2] Als gendergerechte Schreibweise wird in der kastilischen (allgemein als Spanisch bekannten) Sprache das „a“ für die weibliche bzw. das „o“ für die männliche Form durch ein „@“ ersetzt und im Artikel im Weiteren in dieser Art verwendet.
[3] Übersetzt „Schneckenhaus“. Dieses Symbol wurde bewußt gewählt, um den zapatistischen Entscheidungsprozess zu veranschaulichen, in dem die vielen Stimmen am Ende der basisdemokratischen Entscheidungsfindung zu einem Konsens führen sollen
[4] Zivilgesellschaft wird im zapatistischen Diskurs in Abgrenzung zur europäischen Definition im Allgemeinen als der Teil der Bevölkerung verstanden, der außerhalb der staatlichen Strukturen den Kampf um die Wiederaneignung seiner Lebensbedingungen aufgenommen hat.
[5] Eine deutsche Version der ersten Fassung von 1993 unter http://www.npla.de/poonal/p134.htm
[6] Vgl. http://www.sipaz.org/data/chis_de_03.htm (Stand 2005)
[7] Der Krieg der Niederen Intensität zielt weniger auf eine direkte militärische Zerschlagung der Guerilla, sondern ist vielmehr als eine psychologische Kriegsführung gegen die Basis, also den zivilen Teil der Bewegung, zu verstehen. Diese Strategie wurde bereits in den 40er Jahren an der in Panamá, durch US-amerikanisches Militär, gegründeten School of the Americas (S.O.A.) entwickelt, wo die Mehrzahl militärischen Führungspersönlichkeiten Lateinamerikas ausgebildet wurde. Heute befindet sich die Schule unter dem Namen Western Hemisphere Institute for Security Cooperation (WHINSEC) in Fort Benning im US- Bundesstaat Wisconsin. Weitere Informationen unter http://www.imi-online.de/download/AUSDRUCK-08-2004JP-Chiapas.pdf#search=%22Krieg%20niederer%20Intensitaet%22
[8] Vgl. http://sipaz.org/fini_deu.htm
[9] „Dass der Kampf weitergeht“

Menschenrechtsarbeit in Chiapas

Im Sommer des letzten Jahres war ich über vier Monate als Menschenrechtsbeobachterin in verschiedenen zapatistischen Gemeinden unterwegs. Vorbereitet wurde ich auf die Arbeit bereits in Deutschland über den gemeinnützigen Verein CAREA e.V. in Berlin. Zusammen mit anderen internationalen Beobachter/innen arbeitete ich für das Menschenrechtszentrum Fray Bartólome de las Casas in San Cristóbal, der zweitgrößten Stadt in Chiapas. Von dort aus wurden wir jeweils für zwei Wochen in unterschiedliche Dörfer entsandt, um eventuelle Menschenrechtsverletzungen und Militärbewegungen zu dokumentieren.

Die Arbeit als Menschenrechtsbeobachter/in besteht vorwiegend darin, eine kritische Öffentlichkeit für die Geschehnisse in Chiapas herzustellen, indem zum einen vor Ort als auch im Herkunftsland über die zapatistische Bewegung berichtet wird und Menschenrechtsverletzungen angezeigt werden, um damit Druck auf die Regierungspolitik auszuüben. Beobachter/innen werden dabei nur in Gemeinden entsandt, die sich im Vorfeld mit der Bitte um Unterstützung an das Menschenrechtszentrum gewandt haben. Durch die Anwesenheit von Beobachter/innen sollen vor allem die bereits bestehenden Freiräume erhalten und auch neue geschaffen werden. Aufgrund der anhaltenden staatlichen und paramilitärischen Repression, wie die jüngsten Vorfälle der Räumung der chiapanekischen Gemeinden Chol de Tumbalá und Busiljá im Jahr 2006, bleibt dies leider auch weiterhin notwendig.

Die Menschenrechtsbeobachtung stößt allerdings auch an ihre Grenzen, wenn wie in Städten anderer mexikanischer Bundesländer internationale Beobachter/innen als „radikale“ Aktivist/innen kriminalisiert werden und somit in den direkten Konflikt mit dem mexikanischen Staatsapparat geraten. In San Salvador Atenco waren Ausländer/innen ebenfalls wie viele andere politische Gefangene der Folter und sexuellen Gewalt ausgesetzt. In Oaxaca kam es im Zuge der Vorbereitung einer Großdemonstration Ende des letzten Jahres ebenso zur gezielten Suche nach Ausländer/innen.

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