Quetzal Vogel
News Icon
Quetzal

Politik und Kultur in Lateinamerika

Template: single_normal
Artikel

Lula trifft Xi. Brasilien und das Ende der unipolaren Weltordnung

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 15 Minuten

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (Lula) besuchte vom 12. bis 15. April 2023 die Volksrepublik China. Beide Länder gehören wie auch Russland, Indien und Südafrika zu den BRICS, die seit ihrem ersten Gipfeltreffen 2009 in Jekaterinburg (Russland) für eine multipolare Weltordnung eintreten. Im selben Jahr wurden die Gruppe der 20 (G20) aus der Taufe gehoben, in der die führenden Industrie- und Schwellenländer ihre internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit abstimmen und der neben den G7 (USA, Kanada, Japan, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien) auch die BRICS angehören. BRICS und G20* entstanden in Reaktion auf die globale Krise 2008, die das Weltfinanzsystem fast zum Einsturz gebracht hätte. 2020 stürzte dann die Covid-19-Pandemie die Welt in bislang ungekannte Turbulenzen und zwei Jahre später beschleunigte der Krieg in der Ukraine den Umbruch der zerfallenden Weltordnung. Vor diesem Hintergrund lassen sich aus dem Treffen Lulas mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und anderen führenden Politikern Einschätzungen über den Kurs Brasiliens im gegenwärtigen Übergang von der unipolaren Weltordnung Washingtons zu einer globalen Neuordnung gewinnen, wobei die brasilianisch-chinesischen Beziehungen im Mittelpunkt stehen.

Neue Etappe im Ringen um eine multipolare Weltordnung

Der Krieg in der Ukraine hat die zentralen Konfliktlinien im Great Game um eine neue Weltordnung deutlicher hervortreten lassen und zugleich verschoben, was der damit verbundenen Mächterekonfiguration eine neue und gefährliche Dynamik verliehen hat. Nach 14 Monaten Krieg dürfte Klarheit darüber herrschen, dass sich der ursprüngliche Regionalkonflikt in der und um die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland entwickelt hat. Der Versuch des Westens, Moskau ökonomisch in die Knie zu zwingen und international zu isolieren, ist zwar gescheitert, hat aber zu einer Polarisierung und Verschärfung des Konflikts geführt, was alle anderen Akteure der internationalen Politik dazu zwingt, sich zu positionieren. Auch wenn der Westen sich ge- und entschlossen zeigt, seine Vormachtstellung um (fast) jeden Preis zu verteidigen, ist sein internationaler Einfluss deutlich zurückgegangen. Eine Minderheit von etwa 40 Länder, die Washington in seinem Sanktions- und Kriegskurs gegen Russland zu folgen bereit ist, bezahlt dies mit dem Verlust ihrer strategischen Autonomie und Souveränität, wofür das Schweigen Deutschlands zur Sprengung der Nordstream-Pipelines einen sichtbaren Beleg liefert.

Aus der Sicht Washingtons stellt Russland zwar die gegenwärtig am meisten zu bekämpfende Herausforderung dar, als einziger ernstzunehmender Rivale in Sachen Hegemonie gilt jedoch China (The White House, S. 3, 8f, 11, 23-27). Die sich daraus ableitende US-Strategie hat dazu geführt, dass sich Russland und China enger zusammengeschlossen haben, ohne ein formelles Bündnis eingegangen zu sein. Wie China pochen auch die meisten Länder Lateinamerikas, Afrikas, Zentralasiens und des Nahen Ostens sowie Schwellenländer wie Indien, Indonesien und die Türkei auf ihren neutralen Status. Praktisch bedeutet dies, dass sie den Krieg zwar verurteilen und für sein schnelles Ende eintreten, sich aber der Sanktions- und Kriegspolitik des Westens verweigern. Die russische Invasion in der Ukraine wird bei Abstimmungen im Rahmen der UNO teils verurteilt, teils enthält man sich der Stimme. In der Debatte über den Ukrainekrieg wird zumeist auf die Mitverantwortung des Westens und die Vorgeschichte des Krieges verwiesen. Waffenlieferungen an die Ukraine werden abgelehnt. Bevor wir uns der Frage zuwenden, welche Position Brasilien in dieser neuen weltpolitischen Konstellation bezieht und welche Bedeutung dabei des Treffen Lulas mit Xi besitzt, sollen zuvor die außenpolitischen Herausforderungen und Spielräume Brasiliens nach der Rückkehr Lulas ins Präsidentenamt kurz umrissen werden.

Lulas Comeback

Lula wurde am 30. Oktober 2022 im zweiten Wahlgang mit 50,90 Prozent der abgegebenen Stimmen erneut zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Mit seiner Regierungsübernahme am 1. Januar 2023 begann seine dritte Amtszeit. Zuvor hatte er das Land von 2003 bis 2010 regiert, danach trat Dilma Rousseff, die wie Lula der Arbeiterpartei angehört, die Präsidentschaft an. In einem umstrittenen Verfahren, das von ihr als Putsch gebrandmarkt wurde, wurde sie im August 2016 ihres Amtes enthoben. Um zu verhindern, dass Lula bei den 2018 anstehenden Wahlen erneut kandidierte, organisierten seine Gegner eine juristische Verschwörung, die ihn für 580 Tage ins Gefängnis brachte. Im November 2019 wurde er vorläufig freigelassen und im März/ April 2021 wurden schließlich alle Urteile gegen ihn aufgehoben (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Luiz_In%C3%A1cio_Lula_da_Silva).

Während Lula für eine aktive und selbstbestimmte Außenpolitik steht, repräsentiert Jair Bolsonaro, der das Land von 2019 bis Ende 2022 regierte und auch als „brasilianischer Trump“ bezeichnet wird, einen Kurs, der von einem „außenpolitischen Wandel“ gekennzeichnet ist:

„In der Praxis bedeutet er, dass Brasilien seinen Führungsanspruch in Südamerika aufgibt, seine strategische Beziehung mit Argentinien beendet und stattdessen eine strategische Partnerschaft mit den USA anstrebt. Kontinuität herrscht hingegen in den Beziehungen zu China sowie im Hinblick auf die Politik in der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Die Beziehungen zur Europäischen Union und die breitgefächerte Kooperation mit Deutschland werden von der Auseinandersetzung um Fragen der Umweltgovernance überschattet, besonders was den Schutz des Amazonasgebiets anbelangt.“ (Zilla, S.6)

Die Außenpolitik wurde in starkem Maße von religiösen Einflüssen und einer sozialkonservativen Agenda bestimmt, was sich auch in den Positionen Brasiliens in internationalen Organisationen zeigte. Damit nahm das Land nicht nur Abstand von der liberal-progressiven Haltung der Vorgängerregierungen, sondern brach auch mit einer langjährigen brasilianischen Tradition (Zilla, S. 30). Das Postulat einer „automatischen Blockbildung“ mit den USA prägte unter Bolsonaro die außenpolitische Grundorientierung des größten Landes Lateinamerikas (Zilla, S. 20).

In Hinblick auf den Ukrainekonflikt entsprach die Politik der Bolsonaro-Regierung weitgehend der oben beschriebenen Haltung der Länder des globalen Südens. Zum einen votierte Brasilien am 25. Februar 2022 im UN-Sicherheitsrat, dem es 2022-2023 als nichtständiges Mitglied angehört, für eine Verurteilung der russischen Invasion, während sich Indien, China und Südafrika enthielten. Auf der UNO-Vollversammlung am 2. März 2022, stimmte das südamerikanische Land für die Resolution, in der der russische Einmarsch vom 24. Februar verurteilt wurde (UN-Resolution A/RES/ES-11/1). Zum anderen gehört Brasilien zu jenen Staaten, die die OAS-Resolution über „Die Krise in der Ukraine“ vom 25. März 2922, in der dieser Einmarsch ebenfalls verurteilt wurde, nicht unterstützen (Zilla, S. 23f). Wie viele andere Länder des globalen Südens auch enthielt es sich am 7. April 2022 bei der Abstimmung über Russlands Suspendierung vom VN-Menschenrechtsrat (United Nations Human Rights Council – UNHRC).

Streben nach strategischer Autonomie …

Lula kann nicht einfach zur seiner „alten Außenpolitik“ vor Bolsonaro zurückkehren. Einerseits haben sich in den letzten zehn Jahren die Probleme, denen sich die gesamte Welt gegenübersieht, weiter verschärft und das Erbe von Bolsonaros reaktionärer Politik wiegt nach wie vor schwer. Andererseits verfügt Brasilien als größtes Land Lateinamerikas über ein Potential, das ihm – nicht zuletzt durch die geschickte Nutzung der Spielräume, die sich aus den geopolitischen Verschiebungen im Zuge des Ukrainekrieges ergeben – erlaubt, das zu erlangen, wonach die EU bislang vergeblich gestrebt hat: strategische Autonomie. Wie Lula an die Umsetzung dieses Zieles geht, lässt sich gut anhand seiner Auslandsbesuche in den ersten vier Monaten seiner dritten Amtszeit darstellen.

Seine erste Auslandsreise führte ihn am 23. Januar 2023 nach Argentinien, Damit erneuerte er nicht nur die strategische Allianz mit Argentinien, sondern Brasilien kehrte damit auch in die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) zurück. Die Regionalorganisation, die sich als Gegenentwurf zur Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), welche maßgeblich von den USA kontrolliert wird, versteht, wurde auf Initiative von Lula Ende 2011 in Caracas (Venezuela) gegründet. Damit verstärkt das Land sein Engagement für die regionale Integration, die Lula als entscheidend für die Interessen Brasiliens und den gemeinsamen Wohlstand in der Region ansieht. Ferner wurden wichtige Schritte zur Stärkung des südamerikanischen Staatenbundes Mercosur, dem neben Brasilien und Argentinien auch Uruguay und Paraguay angehören, eingeleitet. Die Präsidenten beider Länder sprachen zudem über eine gemeinsame Währung, die den Namen „Sur“ (dt.: Süden) tragen soll. 

Zu seinem Treffen mit US-Präsident Joe Biden in Washington am 10. Februar 2023 kam Lula mit einer klaren Botschaft: Nach Bolsonaros Intermezzo ist Brasilien auf der internationalen Bühne zurück und gedenkt, in den Konfliktherden dieser Welt eine Mittlerrolle einzunehmen. Bereits beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz am 30. Januar in Brasilia hatte Lula betont, dass sich sein Land weder an den Sanktionen gegen Russland noch an den Waffenlieferungen an die Ukraine beteiligen wird, sondern für Verhandlungen plädiert. Während Biden die Notwendigkeit der Stärkung der Demokratie in beiden Ländern und die Verbesserungen im Klimaschutz (Stichwort: Amazonas) als gemeinsame Interessen betonte, ging es Lula vor allem um die neue Rolle Brasiliens in Lateinamerika. Mit seinen guten Beziehungen zu Kuba, Nicaragua und Venezuela, gegen die Washington – teilweise seit Jahrzehnten – mit schweren Sanktionen vorgeht, sieht sich Lula sowohl innerhalb Lateinamerikas als auch in den Beziehungen der Region zu Washington in einer Vermittlerrolle.

… mit chinesischer Hilfe?

Bei den Gesprächen im Weißen Haus stand zugleich ein ziemlich großer Elefant im Raum: der gegensätzliche Umgang mit China. Während sich Washington in einem neuen kalten Krieg mit der Volksrepublik sieht und deren Containment (dt.: Eindämmung) betreibt, arbeiten Brasilia und Beijing an der Intensivierung ihrer strategischen Partnerschaft. Diese gründet sich zum einen in gemeinsamen Vorstellungen über die kommende Weltordnung, die ihren dauerhaften und sichtbaren Ausdruck in der Mitgliedschaft im Club der großen Schwellenländer (BRICS) finden. Zum anderen bilden die bilateralen Beziehungen, die in der engen ökonomischen Kooperation ein festes Fundament haben, den nicht minder wichtigen zweiten Eckpfeiler der brasilianisch-chinesischen Partnerschaft.

So hat China seit 2009 die USA als wichtigsten Handelspartner des größten lateinamerikanischen Landes abgelöst. Auf das asiatische Land entfielen 2021 mehr als 31 Prozent aller brasilianischen Exporte, während nur 11,2 Prozent in die USA gingen, gefolgt Argentinien mit 4,2 Prozent und den Niederlanden mit 3,3 Prozent. Bei den brasilianischen Importen sieht es ähnlich aus: China liegt mit 22,8 Prozent an der Spitze, gefolgt von den USA (17,7 Prozent), Argentinien (5,3 Prozent) und Deutschland (5,1 Prozent). Im letzten Jahr betrug der Gesamtumsatz im brasilianisch-chinesischen Handel 157,5 Milliarden US-Dollar. Die wichtigsten Exportgüter Brasilien sind Agrarprodukte und Rohstoffe, was sich auch in der Ausfuhr nach China widerspiegelt. 2022 lag Soja mit 36 Prozent klar an der Spitze. Eisenerz (20 Prozent) und Erdöl (18 Prozent) folgten auf dem zweiten bzw. dritten Platz. 70 Prozent der brasilianischen Sojaexporte gehen nach China. Beim Erdöl und beim Eisenerz liegt der Anteil bei 40 bzw. 63 Prozent**.

Diese Außenhandelsstruktur offenbart die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Länder. Zum einen stammen bei Rohstoffen wie Sojabohnen, Eisenerz, Rohöl, Erdgas, Kupfer, Bauxit und Gold bis zu 80 Prozent des chinesischen Verbrauchs aus dem Ausland. Im Falle von Soja kommen 60 Prozent der chinesischen Importe aus Brasilien. Dass der Anteil der Soja-Importe aus den USA nunmehr bei 30 Prozent liegt, ist nicht zuletzt den Handelskriegen von US-Präsident Donald Trump geschuldet – ein Kurs, der von Biden fortgesetzt wird. Immerhin lag noch 2016 der Anteil brasilianischen Soja-Importe nach China mengenmäßig nur knapp über dem US-amerikanischen. Da der chinesische Bedarf jedoch rasant wächst, kommt auch Brasiliens Produktion nicht mehr hinterher. Peking versucht daher, sich weitere Kanäle in Russland und Südostasien zu erschließen. Eine Besonderheit der Handelsbilanz zwischen Brasilien und China besteht darin, dass das lateinamerikanische Land 2022 auf einen Überschuss von 30 Milliarden US-Dollar verweisen konnte.

Diese positive Bilanz hat jedoch eine Kehrseite: Sie bestätigt und verfestigt die Rolle Brasiliens in der internationalen Arbeitsteilung als Rohstoff- und Agrarexporteur. Lula hingegen hat sich die Re-Industrialisierung seines Landes auf die Fahnen geschrieben. Angesichts der engen Beziehungen mit China kommt dem asiatischen Land mit seinem großen technischen und wissenschaftlichen Knowhow bei dieser wirtschaftspolitischen Neuorientierung eine wichtige Rolle zu. Welch großen Stellenwert dieses Thema gewonnen hat, wurde auch beim Treffen mit Xi Jinping deutlich.

Neue Ära der gegenseitigen Beziehungen

Nach der außenpolitischen Isolation Brasiliens unter Jair Bolsonaro ging es Lula und seiner rund 250-köpfigen Delegation vor allem darum, die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China zu reaktivieren und auf ein höheres Niveau zu heben sowie den Multilateralismus der eigenen Außenpolitik zu stärken. Staatspräsident Xi betonte seinerseits die Bereitschaft Chinas zur Zusammenarbeit mit Brasilien, „um eine neue Ära der sino-brasilianischen Beziehungen zum Nutzen beider Völker“ einzuleiten. Ausdruck dessen war neben der Unterzeichnung von insgesamt 15 bilaterale Abkommen die Reaktivierung der von Lula 2009 eingerichtete Sino-Brasilianische Spitzenkommission für Konzertation und Kooperation (Comissão Sino-Brasileira de Alto Nível de Concertação e Cooperação – Cosban). Die Abkommen vertiefen die Kooperation in den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Medien und „digitaler Ökonomie“. Außerdem betreffen sie verschiedene Handels- und Wirtschaftsbereiche, in denen nun auch in den Landeswährungen abgerechnet werden soll. Innerhalb der Cosban wurde eine Unterkommission für Umwelt und Klimaschutz eingerichtet. In einer gemeinsamen Erklärung werden die Länder des globalen Nordens aufgefordert, ihre Finanzierungszusagen zur Bewältigung des Klimawandels in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr einzuhalten.

Während des Staatsbesuchs betonte Lula mehrfach die gemeinsamen Interessen beider Länder und die damit verbundene Möglichkeit, ein „neues Paradigma von Entwicklung“ anzusteuern. In Shanghai wohnte er der Amtseinführung von Dilma Rousseff als neuer Präsidentin der BRICS-Entwicklungsbank (New Development Bank – NDB) bei. Die gelernte Ökonomin löst damit Marcos Troyjo ab, der von Bolsonaro ernannt worden war. Brasiliens Finanzminister Fernando Haddad hob hervor, dass die Außen- und Handelspolitik seines Landes multilateral orientiert sei. Neben der Stärkung des Mercosur-Blocks sollen mit allen drei großen Wirtschaftsregionen – Europa, USA und China – die bestmöglichen Vereinbarungen erzielt werden. Xi hatte gegenüber Lula betont, dass China bereit sei, die „strategische Verknüpfung zwischen der Neuen Seidenstraße und der Re-Industrialisierung Brasiliens“ aktiv zu erörtern. Dieser Punkt ist deshalb bedeutsam, weil Brasilien im Unterschied zu 20 anderen lateinamerikanischen Staaten bislang noch nicht Mitglied der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) ist.

Diplomatie statt Konfrontation

Obwohl bei seinem Besuch in China der Ukrainekrieg nicht im Vordergrund stand, hat Lula auch dort seine Position deutlich gemacht und eine Verhandlungslösung gefordert. Mit seinen Äußerungen, die Vereinigten Staaten müssten „aufhören, den Krieg zu fördern, und anfangen, über Frieden zu reden“, erregte er den Unwillen des Weißen Hauses. Dort hieß es, Lula plappere russische und chinesische Propaganda nach. Wie ernst es der brasilianische Präsident mit seinem Friedensengagement meint, zeigen seine außenpolitischen Aktivitäten während der letzten Wochen. Bereits Ende März hatte Lula seinen obersten außenpolitischen Berater Celso Amorim nach Moskau entsandt, um mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über die Möglichkeit von Friedensgesprächen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine zu sprechen. Unmittelbar nach seinem Chinabesuch unternahm Brasilien den nächsten Schritt in seiner selbst gewählten Rolle als Friedensstifter. Am 17. April 2023 empfing Lula im Präsidentenpalast in der Hauptstadt Brasília den russischen Außenminister Sergej Lawrow zu einem vertraulichen Gespräch.

Im Rahmen der anschließend begonnenen ersten Europareise nach Amtsantritt traf er am 22. April mit dem portugiesischen Präsidenten Marcelo Rebelo de Sousa in Lissabon zusammen, wo er auf einer gemeinsamen Pressekonferenz erneut die Position seines Landes zu diesem Konflikt darlegte: „Ebenso wie meine Regierung die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine verurteilt, treten wir für eine politische Verhandlungslösung für den Konflikt ein.“ Um diese auf den Weg zu bringen, bräuchte es „dringend eine Gruppe von Ländern, die sich sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland gemeinsam an den Tisch setzt.“ Sein portugiesischer Amtskollege vom rechtsliberalen Partido Social Democrata (PSD) reagierte – anders als Washington – diplomatisch. „Für einen Verbündeten der EU und der NATO wie uns ist die Linie eine andere als die von Lula definierte. Jedes Land muss selbst entscheiden, was es als seine Prioritäten ansieht.“ In der Zeitung Diário de Notícias betonte Lula noch einmal: „Brasilien möchte einen Weg finden, um Frieden zu schaffen. Es ist besser, einen Ausweg am Verhandlungstisch zu suchen als auf dem Schlachtfeld.“

Geopolitischer Umbruch als Chance

Diesen Äußerungen zum Ukrainekonflikt sind ein Beleg dafür, dass Brasilien bereit ist, sich den neuen geopolitischen Herausforderungen selbstbewusst zu stellen. Als größtes Land Lateinamerikas und BRICS-Mitglied besitzt es genügend internationales Gewicht und mit Lula nun auch wieder einen fähigen und anerkannten Politiker an seiner Spitze, um sich mit der notwendigen strategischen Autonomie einen adäquaten Platz in der kommenden Weltordnung zu sichern. Wie Lulas bisherige außenpolitische Aktivitäten zeigen, wird der Kurs Brasiliens zum einen durch eine größere Distanz zu den USA geprägt sein, ohne zum anderen die traditionellen Beziehungen zu Spanien und Portugal zu vernachlässigen. Zweitens sieht sich das Land in seiner Rolle als Motor der lateinamerikanischen Integration (und Autonomie) stärker als zuvor gefordert. Drittens steht es vor Aufgabe, die engen Beziehungen zu China im Sinne einer Re-Industrialisierung Brasiliens zu nutzen. Viertens zeigt das brasilianische Beispiel – wie auch die geopolitische Positionierung Indiens – dass die weltpolitische Hauptkonfliktline nicht zwischen Demokratien und Autokratien verläuft. Vielmehr handelt es sich derzeit – und das zeigt auch und gerade der Krieg in der Ukraine – um einen Konflikt zwischen den Protagonisten einer unipolaren Weltordnung unter Führung der USA einerseits und den Befürwortern einer multipolaren Weltordnung, für die sowohl die großen Schwellenländer als auch der globale Süden insgesamt eintreten, andererseits. Als lateinamerikanisches Schwellenland hat Brasilien die große Chance, die Kooperation zwischen beide Gruppen – den Schwellenländern und solchen Regionen des globalen Südens wie Lateinamerika und Afrika – voranzutreiben und zu vertiefen. Lulas neue Amtszeit bietet dafür die besten Voraussetzungen.

 


*Neben G7 und BRICS gehören außerdem die EU, Argentinien, Mexiko, die Türkei, Saudi-Arabien, Indonesien, Südkorea und Australien zu den G20.

** zur Handelsstatistik vgl. https://news.agropages.com/News/NewsDetail—45970.htm und https://www.statista.com/chart/29718/brazil-china-bilateral-trade/

 

Literatur:

Hollensteiner, Stephan: Präsident von Brasilien betont in China gemeinsame Interessen. Amerika21 vom 19. April 2023; unter: https://amerika21.de/2023/04/263487/brasilien-lula-staatsbesuch-china

Rodrigues Vieira, Vinícius Guilherme: Embedded Nationalism in a Fragmented World: Lula’s Brazil, in: The Washington Quarterly, 46 (2023) 1, S. 45-60

The White House: National Security Strategy. Washington D.C., October 2022

Zilla, Claudia: Außenpolitischer Wandel in Brasilien: Bedingungsfaktoren und Implikationen. SWP-Studie 7, Berlin Mai 202

Zimmering, Raina/ Wahl, Achim: Brasilien unter Lula: Länder des Südens nicht mehr bereit, Westen zu folgen, in Welttrends 196 (im Internet unter: www.telepolis.de/features/Brasilien-unter-Lula-Laender-des-Suedens-nicht-mehr-bereit-Westen-zu-folgen-8515319.html)

Bildquellen: Quetzal-Redaktion [1]_gc; [2]_soleb

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert