Vom 28. bis 31. Januar 2023 besuchte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Argentinien, Chile und Brasilien. Auf seiner Agenda stand neben der Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen und dem Zugang zu strategischen Rohstoffen auch der Ukraine-Konflikt. Dabei musste er im „Realitätscheck“ (taz vom 31.1.2023) erfahren, dass alle drei Länder ihre eigenen Vorstellungen hatten. Besonders offensichtlich wurde dies auf seiner letzten Station in Brasilien, die eigentlich den Höhepunkt der Reise bilden sollte. Statt den wiederholten Forderungen nach Waffen und Munition für die Ukraine zu entsprechen, bot sich Präsident Luiz Inácio Lula da Silva als Vermittler für Verhandlungen zur Beendigung des Krieges an. Auch Argentinien und Chile beharren darauf, keine Militärhilfe zu leisten. Mit ihrer ablehnenden Haltung unterstreichen die drei Länder eine Position zum Ukraine-Konflikt, die sich von der des Westens grundsätzlich unterscheidet, aber im gesamten globalen Süden weitgehend geteilt wird. Diese Unterschiede aufzuzeigen und die Gründe dafür zu benennen, ist Anliegen dieses Beitrages.
Ist Russland international isoliert?
Zunächst stellt sich die Frage, wie die Staatengemeinschaft auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine unmittelbar reagiert hat. In unseren Mainstream-Medien wird immer wieder betont, dass Russland wegen seines Krieges international isoliert sei. Als Maßstab wird zumeist auf das Abstimmungsverhalten der Staatengemeinschaft in internationalen Organisationen und Foren verwiesen. Hier scheint das Bild eindeutig zu sein. Auf der UNO-Vollversammlung am 2. März 2022, die den russischen Einmarsch vom 24. Februar verurteilte und den sofortigen, vollständigen und bedingungslosen Rückzug aller militärischen Kräfte Russlands aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen forderte (UN-Resolution A/RES/ES-11/1, bes. Artikel 2-4)), stimmten die 193 Mitgliedsstaaten wie folgt ab:
141 Staaten, das sind etwa drei Viertel, stimmten für die entsprechende Resolution, fünf (Russland, Belarus, Syrien, Eritrea und Nordkorea) dagegen, 35 enthielten sich und 12 nahmen nicht teil. Teilt man das Abstimmungsverhalten nach Weltregionen bzw. geopolitischer Ausrichtung auf, ergibt sich hinsichtlich der Ja-Stimmen folgendes Bild: Jene Länder, die zum politischen Westen und seinem unmittelbaren Einflussbereich zählen, haben geschlossen für die Resolution gestimmt (alle G7-, NATO- und EU-Mitglieder nebst weiteren europäischen Ländern wie die Schweiz, Liechtenstein, Andorra, Monaco, San Marino, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Nordmazedonien, Ukraine, Moldau, Georgien sowie Israel, Australien, Neuseeland). Dies gilt auch für die pazifischen Inselstaaten und – mit Abstrichen – für Lateinamerika (einschließlich der Karibik). So hat kein lateinamerikanisches Land gegen die Resolution gestimmt, während sich nur vier der Stimme enthalten haben. Venezuela, das suspendiert war, konnte nicht teilnehmen (vgl. Resolution ES-11/1 der UN-Generalversammlung). Anders sieht es hingegen bei Afrika und Asien aus. Zahlreiche Länder dieser beiden Kontinente enthielten sich oder waren abwesend. Zu dieser Gruppe zählen insgesamt 47 UN-Mitgliedsstaaten – neben fünf lateinamerikanischen Staaten (Bolivien, Kuba, Nicaragua, El Salvador, Venezuela) 25 afrikanische und 17 asiatische Länder (darunter Südafrika bzw. China und Indien).
Wie ist das oben beschriebene Abstimmungsverhalten in Bezug auf Russland zu werten? Erstens verurteilt die große Mehrheit der UN-Mitglieder (etwa drei Viertel) den Einmarsch russischer Truppen in das Territorium der Ukraine als eindeutigen Bruch der UN-Charta und damit des Völkerrechts (A/RES/ES-11/1, Artikel 2). Diese Mehrheit setzt sich zweitens aus unterschiedlichen Staatengruppen zusammen, wobei der globale Westen das Zentrum bildet. Diesem haben sich Lateinamerika bis auf fünf Ausnahmen sowie Afrika und Asien etwa zur Hälfte angeschlossen, wobei besonders die Stimmenthaltung von China und Indien das politische Gewicht der Ja-Stimmen stark mindert. In einer zentralen Frage scheiden sich aber drittens die Ansichten und Interessen innerhalb der Gruppe der Befürworter – in der Frage der Sanktionen. Während der globale Westen geschlossen harte Sanktionen gegen Russland verhängt hat, haben sich dem – bis auf wenige Ausnahmen (Bahamas, Südkorea, Taiwan) – auch ein knappes Jahr nach Beginn des russischen Einmarsches keine weiteren Länder angeschlossen. Sieht man sich den Text der Resolution näher an, so stellt sich viertens die Frage, welche Bedeutung die Artikel 8 und 15 für die einzelnen Länder haben. Artikel 8 „fordert die Parteien auf, sich an die Minsker Vereinbarungen zu halten und in den einschlägigen internationalen Rahmen, einschließlich des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe, konstruktiv auf deren vollständige Durchführung hinzuwirken.“ Artikel 15 „… fordert nachdrücklich … zur Unterstützung der Deeskalation der aktuellen Situation“ auf. Wie ihr Verhalten bereits vor dem 24. Februar 2022 gezeigt hat, haben die westlichen Länder an der Umsetzung beider Bestimmungen, denen auch sie zugestimmt haben, kein Interesse.
Indem die übrigen Länder sich den westlichen Sanktionen und Waffenlieferungen verweigern, kehrt sich das Bild faktisch um. Immerhin vertreten damit über 140 Staaten, also etwa so viele, wie insgesamt für die Resolution gegen Russlands Einmarsch gestimmt haben, in Hinblick auf die internationale Isolierung Russlands eine andere Politik als der globale Westen. Die praktisch-politische Trennlinie verläuft also nicht zwischen Befürwortern und Nicht-Befürwortern der Resolution A/RES/ES-11/1, sondern zwischen denjenigen, die Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine praktizieren einerseits, und denjenigen, die diese Eskalationspolitik ablehnen, andererseits. Legt man dieses Kriterium zugrunde, dann ist nicht Russland, sondern vielmehr der globale Westen isoliert.
Wessen Krieg?
In Fortsetzung der Dringlichkeitssitzung vom März tagte die UN-Generalversammlung erneut und beschloss am 7. April 2022 den Ausschluss Russlands aus der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen – eine einschneidende Maßnahme, für die eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist. Der Antrag, der auch die Unterstützung der G7-Länder fand, war unter Verweis auf die tragischen Ereignisse in Butcha, deren Bilder wenige Tage zuvor um die Welt gegangen waren, von den USA initiiert worden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Vereinigten Staaten vier Jahre zuvor, im Juni 2018, ihren Austritt aus den UN-Menschenrechtsrat erklärt hatten und erst unter Präsident Joe Biden im Februar 2021 in diesen zurückgekehrt waren.
Mit 93 Ja-Stimmen und 24 Gegenstimmen fiel die Entscheidung gegen Russland offenbar eindeutig aus. Im Vergleich zur Abstimmung über die Resolution A/RES/ES-11/1 zeigen sich jedoch einige interessante Veränderungen. Quantitativ waren sowohl der Lager der Nein-Stimmen (24:5) als auch das der Enthaltungen (58:35) deutlich angewachsen. Auch in Hinblick auf deren Zusammensetzung war einiges in Bewegung geraten. Der Großteil der Stimmen, die den Ausschluss Russlands ablehnten, kam aus Asien (China, Nordkorea, Iran, Kasachstan, Kirgisistan, Laos, Syrien, Tadschikistan, Usbekistan und Vietnam), denen sich neun afrikanische Länder (Algerien, Burundi, Zentralafrikanische Republik, Kongo, Eritrea, Äthiopien, Gabun, Mali, Simbabwe) anschlossen. Aus Lateinamerika kamen die Stimmen von Bolivien, Kuba und Nicaragua und vom europäischen Kontinent stimmte neben Russland nur Belarus gegen den Ausschluss (Abruf vom 9.2.2023). Enthaltung übten u.a. Indien, Brasilien, Mexiko, Ägypten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien, Katar, Kuwait, Irak, Pakistan, Singapur, Thailand, Malaysia, Indonesien, Kambodscha, Südafrika sowie 15 weitere afrikanische Länder.
Gemessen an der großen Zahl der Länder Asiens und Afrikas, die diesmal dem Westen nicht folgen wollten, erscheint das Verhalten der lateinamerikanischen Länder eher zögerlich. So verwundert die Ablehnung durch Bolivien, Kuba und Nicaragua wenig, da diese als enge Verbündete Moskaus gelten. In der Enthaltung der Schwellenländer Brasilien (damals noch unter Jair Bolsonaro) und Mexiko deutet sich immerhin eine Verschiebung zugunsten Russlands an (zum Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat vgl. Guzmán).
Deutlich differenzierter gestaltet sich das Bild auf dem IX. Amerika-Gipfel, der vom 6.-10. Juni 2022 in Los Angeles stattfand. Der Einladung des Gastgebers Joe Biden folgten nur 23 von 35 Staatsoberhäuptern. Neben den zwei Streitpunkten, die das Verhältnis Washingtons zu seinen lateinamerikanischen Nachbarn belasteten – die Ausladung von Kuba, Nicaragua und Venezuela durch Washington sowie das Reizthema Migration –lieferten die Differenzen zum Ukrainekrieg zwischen der Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder einerseits und den USA andererseits die entscheidenden Gründe für das Fernbleiben der Staats- und Regierungschefs aus Mexico, Guatemala, El Salvador, Honduras, Bolivien, Uruguay, Grenada sowie St. Kitts und Nevis, die stattdessen den Außenminister oder einen Botschafter entsandt hatten (vgl. Maihold).
An dieser Stelle ist es angebracht, näher auf die Argumente führender lateinamerikanischer Politiker einzugehen, mit denen sie den Krieg in der Ukraine bewerten. Alle lateinamerikanischen Länder sehen im Krieg gegen die Ukraine eine Verletzung des Völkerrechts. Anders als die westlichen Länder steht bei ihnen jedoch die Suche nach einer zügigen Verhandlungs- und Friedenslösung im Vordergrund. Dabei betonen sie den Status ihrer Region als einer Zone des Friedens, die sich zudem 1967 für atomwaffenfrei erklärt hat. Drittens lehnen sie deshalb mehrheitlich den westlichen Eskalationskurs (Sanktionen gegen Russland und militärische Unterstützung für die Ukraine) ab, was noch einmal mit der Lateinamerikareise von Olaf Scholz Ende Januar diesen Jahres deutlich geworden ist.
Bei der Einschätzung des Charakters des Ukrainekrieges spielen die historischen Erfahrungen Lateinamerikas eine entscheidende Rolle. Als Beispiel jüngeren Datums sei hier auf ein Interview verwiesen, das der Gustavo Petro, der neu gewählte Präsident Kolumbiens am 12. November 2022 Radio France Internationale (RFI) und France24 gegeben hatte. Auf die Frage, wer für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sei, antwortete er:
„Lateinamerika wurde bereits mehrfach überfallen. Erste Invasion: Spanien und Portugal. Aber von da an fielen die Franzosen, die Engländer und die Nordamerikaner ein. In der jüngeren Geschichte gab es eine ganze Reihe nordamerikanischer Invasionen. Wir haben im 21. Jahrhundert Invasionen im Nahen Osten erlebt: Irak, Libyen, Syrien. Ich frage mich, warum es einige Invasionen gibt, die gut sind und begrüßt werden, während dieselben Leute, die diese Invasionen begrüßen, andere ablehnen. Gibt es gute Invasionen und schlechte Invasionen, oder gibt es eine Machtachse, die das eine oder das andere bestimmt und qualifiziert, die einen fördert und die anderen angreift, je nach ihrem eigenen geopolitischen Interesse?“
Die „Spiele“ Washingtons (Nato-Russland-Spiel, Handelskrieg USA-China) lehnt er ab, weil sie „nichts mit den Interessen Lateinamerikas zu tun“ haben und „insofern ist das Beste, was wir tun können, Abstand nehmen und Frieden vorschlagen“. Mit diesen Worten macht Gustavo Petro deutlich, dass die militärischen Auseinandersetzungen in der und um die Ukraine „nicht unser Krieg“ sind. Vielmehr handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg (eng.: proxy war) Washingtons gegen Russland – eine Einschätzung, die inzwischen kaum noch bestritten wird (vgl. u.a. Hal Brands in der Washington Post vom 10.5.2022 sowie das Interview mit General a.D. Harald Kujat vom 18.1.2023). Bereits im Mai vergangenen Jahres hatte Luiz Inácio Lula da Silva in einem Interview mit dem Time Magazine auf die Verantwortung der USA und der EU für den Ausbruch des Krieges hingewiesen:
„Putin hätte nicht in die Ukraine einmarschieren sollen. Aber nicht nur Putin ist schuldig. Auch die Vereinigten Staaten und die Europäische Union sind schuldig. Was war der Grund für den Einmarsch in die Ukraine? Die Nato, die USA und Europa hätten also sagen sollen: Die Ukraine wird der NATO nicht beitreten. Das hätte das Problem gelöst.“ (deutsche Übersetzung aus: Zimmering, S. 73; zum englischen Original siehe unter Quellen: Lula …). Obwohl es unter den Linken Lateinamerikas eine „Vielfalt der Positionen“ zum Charakter des Krieges gibt, unterscheidet sich ihr kleinster gemeinsamer Nenner „von dem der Positionen in der europäischen Linken“ (Pomar, S. 88). Mehrheitlich teilen erstere die Positionen von Petro und Lula, was hier aus Platzgründen leider nicht ausgeführt werden kann (vgl. dazu den gesamten Beitrag von Valter Pomar).
Globale Zeitenwende oder globale Polykrise?
Der 24. Februar 2022 markiert zweifellos eine tiefe Zäsur, die jedoch je nach Lage und Betroffenheit unterschiedlich bewertet wird. Während Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar für Deutschland eine „Zeitenwende“ verkündete, aus der er neun Monate später in einem Gastbeitrag für Foreign Affairs eine „globale Zeitenwende“ machte, sehen das die Länder des globalen Süden anders (Plagemann 2022; Schirm 2022, S. 8). Seit die USA das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama 1989) verkündet hatten und sich fortan im „unipolaren Moment“ (Charles Krauthammer 1990) wähnten, litt der globale Süden unter der Vorherrschaft der „einzigen Weltmacht“ (Zbigniew Brzezinski 1997). Das Spektrum der US-Strategie reichte von militärischen Interventionen über Sanktionen, Handelskriege und wirtschaftlichen Schocktherapien bis Ausplünderung von Rohstoffen und anderen strategischen Ressourcen. Unter dem Stichwort der „Polykrise“ wird auf der Ebene der EU versucht, die neuen Dimensionen der globalen Krisenära analytisch zu fassen (vgl. Tooze 2022, S. 23/24; ausführlicher zum Konzept der globalen Polykrise: Lawrence u.a.).
Vor dem Hintergrund ineinandergreifender und sich gegenseitig verstärkender globaler Krisen, die von den Folgen Klima- und Umweltkrise über Energie-, Lebensmittel-, Wirtschafts- und Finanzkrisen bis hin zu Pandemien wie Covid-19 reichen, stellt der Ukrainekrieg zweifellos eine neue Facette der „Polykrise“ dar, die wie ein „Brennglas“ (Messner, S. 59) und „Multiplikator tiefergehender Spannungen im internationalen System“ (ebenda, S. 60) wirkt. Obwohl in seinem Gefolge besonders die Gefahr eines dritten Weltkrieges deutlich zugenommen hat, ist der Ukrainekrieg jedoch keineswegs die Ursache für den „Dauermodus der globalen Interdependenzkrisen“ (ebenda, S. 61), die seit der Jahrtausendwende eine Schockwelle nach der anderen über den Globus jagen.
Auch die Länder Lateinamerikas, die bereits unter der Covid-Pandemie schwer gelitten hatten, sehen sich angesichts der globalen Auswirkungen des Ukrainekrieges schweren zusätzlichen Problemen und Erschütterungen gegenüber. Deshalb ist es nur allzu verständlich, dass sie die westlichen Sanktionen ablehnen. Dafür sind vor allem zwei Gründe ausschlaggebend:
Erstens machen ihnen die gestiegenen Lebens- und Energiepreise, der Zusammenbruchs von Handelsketten, der Ausschluss der Empfänger lateinamerikanischer Exporte aus dem Swift-Abkommen, die Erhöhung der Transportkosten und die um sich greifenden Inflation schwer zu schaffen. Lateinamerika fürchtet einen steilen Anstieg der Armut und eine Hungersnot in verschiedenen Ländern. Strukturell wirkt sich dabei besonders die große Abhängigkeit von Rohstoffexporten negativ aus. In Lateinamerika entfallen immerhin 72 Prozent der Gesamtexporte auf Rohstoffe, während alle anderen Weltregionen davon weniger abhängig sind: in Afrika 62 Prozent, im Nahen Osten 51 Prozent, in den europäischen Transformationsländern 37 Prozent und in Asien 25 Prozent (German Foreign Policy, 28.03.2022, zitiert in: Zimmering, S. 75/76).
Zweitens haben fast alle lateinamerikanischen Staaten ökonomische Beziehungen zu Russland. Wegen ihrer Bedeutung für das Weiterfunktionieren ihrer krisengeschüttelten Wirtschaften wollen sie diese auch weiterhin aufrechterhalten. Zudem bildet Russland einen wichtigen Bestandteil der ökonomischen Diversifizierungsstrategie der lateinamerikanischen Staaten, die damit die traditionelle Abhängigkeit von den USA überwinden wollen (vgl. Zimmering, S. 73). Obwohl die Handelsbeziehungen der lateinamerikanischen Länder mit Russland im Vergleich zu denen mit China oder mit der EU weniger entwickelt sind, hat sich bisher nur Costa Rica als einziges Land der Region den westlichen Sanktionen angeschlossen. Bei bestimmten strategischen Gütern wie Düngemitteln, Treibstoffen und Getreide spielen die Importe aus Russland für viele Länder eine wichtige Rolle. So hat Brasilien 2021 fünf Millionen Tonnen Düngemittel importiert, das entspricht 25 Prozent seines Bedarfs. Auch die Landwirtschaft Argentiniens, Perus und Mexikos ist von solchen Importen abhängig. Viele lateinamerikanischen Länder erleiden durch die gestörten Lieferketten erhebliche Verluste. 20 Prozent der argentinischen Zitronen und 38 Prozent der Mandarinen gehen nach Russland. Neue Märkte konnten bis jetzt nicht erschlossen werden. In Uruguay hat der Rückgang des Handels mit Milchprodukten mit Russland und anderer Lebensmittel zu einem Rückgang der Lebensmittelexporte um 98 Prozent geführt, was entsprechende negative Folgen für den Binnenmarkt hatte. Was lateinamerikanische Energieimporteure wie Mexiko und die zentralamerikanischen Länder angeht, so ist dort eine Erhöhung der Benzinpreise zu erwarten. (vgl. Harrison 2023 und Zimmering, S. 76-78)
Welche Weltordnung?
Neben diesen unmittelbaren Wirkungen kündet der Ukrainekrieg vom „Ende der Unipolarität“ (Stuenkel, S. 2) und der „Realität einer multipolaren Welt“ (Sachs, S. 3), die durch eine „neue Komplexität“ (Plagemann, S. 4) gekennzeichnet ist. Robert Kappel prognostiziert infolge „großer Verschiebungen in der Machtverteilung“ den weiteren „Abstieg des Westens“ und die „drohende Bifurkation der Weltordnung“, ohne dass es jedoch zu einer neuen bipolaren Ordnung kommt (Plagemann, S. 6). Die von Krisen und Umbrüchen geprägten Machtverschiebungen, die durch den Ukrainekrieg zusätzlich an Dynamik gewonnen haben, lassen sich wie folgt beschreiben:
„Die unipolare Phase, in der die Vereinigten Staaten die wirtschaftliche und militärische Weltrangliste dominierten, geht zu Ende. Europa und Japan sind ebenfalls geschwächt. Zusammengenommen verlieren diese ihre führende Rolle, nicht durch einen geordneten Abstieg, sondern durch interne Schwächen (Populismus, Nationalismus, nachlassendes Wachstum, Verlust der technologischen Führerschaft, zögerliche Klimapolitik, zu geringe Bildungsanstrengungen und F&E-Ausgaben). Es handelt sich um eine allmähliche Verschiebung der Macht weg vom Westen. Aber China wird nicht an die Stelle treten, China kann die Vereinigten Staaten kaum als Hegemon ablösen – dazu fehlen die Kohäsionskräfte. Und der globale Süden wird wahrscheinlich nicht als geopolitischer Block agieren, der die von den USA geführte Ordnung herausfordert.“ (Kappel, S. 14)
Auch wenn noch nicht ganz klar ist, welche die Vor- und Nachteile die neue Machtkonstellation für den globalen Südens hat, so zeigen sich gerade in Hinblick auf den Ukrainekrieg und seine Folgen erste Konturen. Am Beispiel Lateinamerikas sollen diese kurz umrissen werden. Bereits in den Jahren vor Ausbruch des Krieges hat die Region sowohl vom wachsenden Gewicht des „chinesischen Faktors“ als auch von der neuerlichen Präsenz Russlands, das an alte Kontakte aus der Zeit der Sowjetunion anknüpfen konnte, profitiert. Während bei China in erster Linie die Wirtschaftsbeziehungen ins Gewicht fallen, spielen bei Russland vor allem sicherheitspolitische Aspekte und der Import von Dünge- und Nahrungsmitteln eine Rolle (s.o.). So erzielt Brasilien die meisten Exporteinnahmen aus der Lieferung von Fleisch, Getreide und Mineralien nach China. Auch für die übrigen südamerikanischen Länder ist die Volksrepublik mehrheitlich der wichtigste Handelspartner. Mit Kuba, Nicaragua und Venezuela pflegt Russland strategische Partnerschaften. Während der Covid-Pandemie nutzte vor allem Argentinien den russischen Impfstoff „Sputnik“.
Hinzu kommt die Einbindung der beiden wichtigsten Länder Südamerikas in neue internationale Strukturen wie die BRICS, eine Ländergruppe, in der Brasilen neben Indien, Russland und China Gründungsmitglied ist (seit 2011 gehört auch Südafrika dazu) und Argentinien die Mitgliedschaft beantragt hat. Inzwischen gehören auch 21 Länder Lateinamerikas und der Karibik zur Belt and Road Initiative (BRI), die 2013 von China initiiert worden war.
Durch die enger werdende Kooperation mit China und Russland ist es den lateinamerikanischen Ländern möglich, ihre Spielräume gegenüber den USA, die immer noch auf ihrer Rolle als Hegemonialmacht beharren, auszuweiten. Mit dem Ukrainekrieg hat die Autonomie Lateinamerikas gegenüber Washington weiter zugenommen, was sich nicht zuletzt im Abstimmungsverhalten in der UNO und beim Amerikagipfel gezeigt hat. Indirekt zeugt auch die Regierungsübernahme linker Präsidenten – Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien und Gustavo Petro in Kolumbien – nach Beginn des Ukrainekrieges vom gewachsenen Selbstbewusstsein der Lateinamerikaner.
Joe Biden muss die bittere Erfahrung machen, dass die Monroe-Doktrin – seit 200 Jahre Symbol und Instrument des US-amerikanischen Anspruchs auf die Vorherrschaft über die Westliche Hemisphäre – immer löchriger wird. Wenn in Washington die Rolle Chinas als „supporter of last resort“ (dt.: Unterstützer in letzter Instanz) für die „illiberalen Regimes“ der Region (gemeint sind die Linksregierungen – P.G.) ebenso beklagt wird wie die Wirkung des Ukrainekrieges als „Stressfaktor“, der die Stabilität gesamten Region gefährdet (Ellis, S. 4 und S. 7), dann zeigen diese Einschätzungen, dass die 1945 begründete Weltordnung auch im unmittelbaren Einflussbereich der USA ihrem Ende entgegen geht. Prognostiziert wird die Bildung einer „illiberalen Gegenordnung“ in Konkurrenz zur „liberalen Ordnung“, was auf eine Entkopplung beider „Blöcke“ hinauslaufe (ebenda, S.8f)
Wie weiter?
Indem sich die Schwellenländer wie auch die übrigen Staaten des globalen Südens der Eskalationspolitik des Westens gegenüber Russland verweigern und zugleich ihr wachsendes Gewicht für eine Verhandlungs- und Friedenslösung des Ukrainekonflikts in die Waagschale werfen, nutzen sie die Machtverschiebungen im Weltsystem sowohl zur Stärkung ihrer Autonomie als auch im Sinne der Stabilisierung der neuen, multipolaren Weltordnung. Die Friedensinitiativen des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador vom September 2022 leisten wie auch die Friedensappelle der Staatsoberhäupter von Argentinien, Kolumbien und Brasilien etwas, wozu der globale Westen offensichtlich nicht mehr bereit oder fähig ist: Sie treten für die sofortige Beendigung des Krieges in der Ukraine ein und fordern dazu auf, „gemeinsam an den Grundpfeilern einer neuen Weltordnung zu arbeiten“. Da „außer Zweifel (steht), dass ein westliches liberales Modell außer Reichweite ist“, kommt es darauf an, „in einer gespaltenen Weltgesellschaft … um Normen und Ordnungen für alle Länder zu ringen“ (Kappel, S. 15). Dazu müsste der „Westen … allerdings eine multipolare Machtverteilung und die Vielfalt interner Ordnungsmodelle akzeptieren, um dafür eine stärkere globale Kooperation und Beachtung internationaler Regeln zu erreichen“ (Schirm, S. 9). Notwendig sind der Abschied vom neoliberalen Modell und die Anerkennung der Gleichberechtigung aller Staaten beim Aufbau einer inklusiven Weltordnung, die „sozial, demokratisch, solidarisch“ ist und „sozialen Schutz und ökologische Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellt“ (Kappel, S. 15). Kurzfristig entscheidet der Ausgang des Krieges in der Ukraine darüber, ob dieser Weg beschritten wird. Auch wenn der Schlüssel zum Frieden in Washington und Moskau liegt (vgl. Kujat vom 18. Januar 2023), können die Länder Lateinamerikas in Fortsetzung ihrer bisherigen Politik dennoch einen wichtigen Beitrag beim friedlichen und kooperativen Übergang zur multipolaren Weltordnung leisten.
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Quellen:
Brands, Hal: Russia Is Right: The U.S. Is Waging a Proxy War in Ukraine, Abruf vom 10.2.2023 unter: https://www.washingtonpost.com/business/russia-is-right-the-us-is-waging-aproxy-war-in-ukraine/2022/05/10/2c8058a4-d051-11ec-886b-df76183d233f_story.html
Ellis, Evan: The Transitional World Order: Implications for Latin America and the Caribbean. Centro de Estudios Estratégicos del Ejército de Perú (CEEEP), April 6, 2022. Ursprünglich publiziert bei Global Americans unter: https://theglobalamericans.org/2022/03/the-transitional-world-order-implications-for-latin-america-and-the-caribbean
Guzmán, Vilma: Ukraine-Krieg: Kritik in Lateinamerika an Ausschluss Russlands aus Menschenrechtsrat, Abruf vom 30.1.2023 unter: https://amerika21.de/2022/04/257537/kritik-lateinamerika-ausschluss-russland
Harrison, Chase: One Year in, What Does the Ukraine Conflict Mean for Latin America? Februar 9, 2023 (Abruf am 12.2.2023 unter: https://www.as-coa.org/articles/one-year-what-does-ukraine-conflict-mean-latin-america
Kappel, Robert: Die drohende Bifurkation der Weltordnung. Der Abstieg des Westens geht weiter. Leipzig, 20.4.2022, Universität Leipzig, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-79399-9
Lawrence, Michael/ Janzwood, Scott/ Homer-Dixon, Thomas: What Is a Global Polycrisis?
And how is it different from a systemic risk? Version 2.0. Discussion Paper 2022-4. Cascade Institute. https://cascadeinstitute.org/technical-paper/what-is-a-global-polycrisis/
Lula Talks to TIME about Ukraine, Bolsonaro, and Brazil’s Fragile Democracy. Interview mit Luiz Inácio Lula da Silva vom 4. Mai 2022 (Abruf vom 2.2.2023 unter: https://time.com/6173232/lula-da-silva-transcript/)
Maihold, Günther: Amerika-Gipfel mit hemisphärischen Divergenzen, SWP-Aktuell Nr. 42, Juli 2022
Messner, Dirk: Taumelnde Weltordnung. Die Zeitenwende und die globale Klimapolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 67 (2022) 7, S. 59-68
Plagemann, Johannes: Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein „Epochenbruch“. GIGA-Fokus Global 2, Hamburg, April 2022
Pomar, Valter: Der Krieg. Von Lateinamerika aus gesehen, in: in: Crome, Erhard (Hrsg.): Zeitenwende? Der Ukraine-Krieg und die deutsche Außenpolitik. Potsdam 2022, S. 87-95
Präsident von Kolumbien: „Wofür der Krieg? Es gilt die menschliche Spezies zu retten“. Gustavo Petro im Interview mit France24 und Radio France Internationale, 12. November 2022, Abruf vom 30.1.2023 unter: https://amerika21.de/analyse/261441/kolumbien-petro-drogenhandel-frieden
Sachs, Jeffrey: Lulas Brasilien – Zentrum der Neuen Weltökonomie. Makroskop vom 18.1.2023, Abruf vom 11.2.2023 unter: https://makroskop.eu/03-2023/lulas-brasilien-zentrum-der-neuen-weltokonomie/
Schirm, Stefan: Alternative Weltordnungen. Stärkt Russlands Ukraine-Krieg internationale Antagonismen? Aus: Zeitschrift für Politikwissenschaft, published online am 1.12.2022 unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s41358-022-00336-0
Stuenkel, Oliver: The War in Ukraine and the Emergence of the Post-Western World: A View from Brazil, Institut Montaigne, 29. Sep. 2022, Abruf am 31.1.2023 unter: https://www.institutmontaigne.org/en/analysis/war-ukraine-and-emergence-post-western-world-view-brazil
Tooze, Adam: Zeitenwende oder Polykrise? Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand. Willy Brandt Lecture 2022
Ukrainekonflikt: „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, die Verhandlungen wieder aufzunehmen“. Interview mit General a. D. Harald Kujat vom 18.1.2023 (Abruf vom 10.2.2023 unter: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-1-vom-18-januar-2023.html)
Vereinte Nationen: Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 2. März 2022 (A/RES/ES-11/1, Abruf am 9.2.2023 unter: https://www.un.org/depts/german/gv-notsondert/a-es11-1.pdf)
Zimmering, Raina: Lateinamerika und der Ukraine-Krieg, in: Crome, Erhard (Hrsg.): Zeitenwende? Der Ukraine-Krieg und die deutsche Außenpolitik. Potsdam 2022, S. 71-86
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