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Auch Organisationen haben ein Geschlecht

Lesedauer: 5 Minuten

Zwei kürzlich ergangene Urteile des Obersten Gerichtshofs bzw. der Berufungsabteilung des Friedenstribunals der JEP (Jurisdicción Especial para la Paz – Spezielle Gerichtsbarkeit für den Frieden), zeigen uns, wie wichtig es ist, den Opfern zuzuhören. Sie zeigen die Schwierigkeiten, Diskriminierung nachzuweisen und Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu verhindern.

Eine Kollegin und Freundin, mit der ich viele Diskussionen geführt und Vorschläge zur Beseitigung und Verhinderung der Geschlechterdiskriminierung an der Universidad de los Andes ausgearbeitet hatte, übergab mir vor einigen Monaten einen Artikel von Joan Acker, der im Juni 1990 in der angesehenen Zeitschrift „Gender and Society“ veröffentlicht wurde. Acker argumentiert in diesem Artikel, dass Organisationen ein Geschlecht hätten und dass das Schwierigste daran, sie zu verändern ist, davon auszugehen, dass die Organisation geschlechtsneutral ist und Diskriminierung das Ergebnis von Menschen mit Vorurteilen oder schlechtem Geschmack. Sie bietet einige Ideen an, inwiefern es notwendig ist, gründlich die Art und Weise zu hinterfragen, in der das Arbeitsumfeld aufgebaut ist, einschließlich der Art und Weise, wie Menschen ihren Bedürfnisse an Fürsorge und Zuneigung pflegen. Mir gefiel die Art und Weise, wie sie die Frage behandelte, aber ich hätte mir mehr konkrete Instrumente gewünscht, um die schrittweisen Veränderungen voranzutreiben, die wir im Alltag unserer Organisationen vornehmen müssen. Ich denke, die jüngsten Urteile des Obersten Gerichtshofs und der Berufungsabteilung des Friedenstribunals der JEP werfen ein Licht auf diese Frage. Sie erklären, dass die Anhörung des Opfers von grundlegender Bedeutung ist, um den Schaden zu verstehen und den Prozess der Wiedergutmachung in Angriff zu nehmen.
In dem Urteil SL2850-2020 vom 27. Juli 2020 wies die Kassationskammer für Arbeitssachen Unter dem Vorsitz von Richter Carlos Arturo Guarín Jurado die Berufung von Cervecería Unión gegen die Entscheidung des Obersten Gerichts von Medellín zurück. In Organisation_Recht_Foto_#9A_Reporte_ fotográfico_#5dieser war festgestellt worden, dass die Entlassung von Jaime Jaramillo Vélez ungerechtfertigt war und das Unternehmen daher alle seit dem Tag seiner Arbeitseinstellung entgangenen Löhne zahlen muss. Der Fall ist interessant, weil der Grund für die Entlassung von Herrn Jaramillo Vélez laut Angaben des Unternehmens seine Gewalttätigkeit gegenüber einem Kollegen war: Er warf seinen Schutzhelm auf ihn. Das Unternehmen argumentierte, dass es nicht seine Aufgabe sei, zu untersuchen, warum Herr Jaramillo Vélez den Helm geworfen habe; e sei nur dafür verantwortlich, dass solche Handlungen am Arbeitsplatz nicht vorkommen. Herr Jaramillo Vélez, der 25 Jahre lang (von 1988 bis 2013) für das Unternehmen gearbeitet hatte, erklärte, der Grund für diese Tat sei gewesen, dass sein Kollege ihn ohne ersichtlichen Grund oder Rechtfertigung als „schwarzer Hurensohn“ und „schwarzer Dummkopf“ beschimpft habe. Der Gerichtshof stellte fest, dass es zwar richtig ist, dass die Unternehmen dafür sorgen müssen, dass auf ihrem Gelände keine Gewalttaten verübt werden, dass sie aber nicht neutral gegenüber den subjektiven Gründen sein können, die Gewalttaten motivieren. In diesem Fall war er der Ansicht, dass die Reaktion von Herrn Jaramillo Vélez angesichts der erlittenen Aggression „instinktiv“ und „normal“ war. Der Gerichtshof schloss sich der Auslegung an, die gegenüber den Gründen für die Gewalt nicht neutral ist und rassistische Gewalt aufgrund ihrer strukturellen Auswirkungen als besonders schwere Gewalt verurteilt.
Im Urteil TP-SA 261 der Berufungsabteilung des Friedenstribunals vom 15. September 2021 unter dem Vorsitz von Richter Danilo Rojas wurde einer Beamtin der JEP Schutz gewährt, die eine Beschwerde wegen sexueller Belästigung vonseiten eines Richters der Abteilung für Wahrheit und Rechenschaftspflicht des Friedenstribunals eingereicht hatte. Von den Beamten, die die Beschwerde entgegengenommen hatten, wurde sie erneut viktimisiert wurde, weil es kein klares Verfahren für die Behandlung solcher Anträge gab. Die Beamtin, die in dem Urteil als Frau XYZ bezeichnet wird, erklärte, sie habe die Beschwerde in dem Glauben eingereicht, dass sie intern und unter dem Gesichtspunkt der opferorientierten Justiz behandelt würde, da sie kein Interesse an einem Straf- oder Disziplinarverfahren gegen den beschuldigten Richter habe. Die Vorsitzende der JEP beschloss jedoch, die Beschwerde vor den Anklagenausschuss des Repräsentantenhauses zu bringen, und verzichtete auf weitere Maßnahmen mit der Begründung, dass die Verfahrensgarantien für den Angeklagten an erster Stelle stehen sollten. Frau XYZ reichte daraufhin eine Schutz-Klage ein, um zu fordern, dass ihre eigene Entscheidung, die Angelegenheit durch Maßnahmen zur Wiedergutmachung zu lösen, berücksichtigt wird und dass Schutzmaßnahmen wie die vorübergehende Entfernung des beschuldigten Richters aus seinem Amt ergriffen werden. Frau XYZ gewann das Verfahren, und die Berufungsabteilung betonte, dass das Opfer zwar nicht in vollem Umfang den Mechanismus bestimmen kann, nach dem sein Fall geprüft und der Fehler behoben wird. Es muss aber an der Entscheidung beteiligt und seine Stimme berücksichtigt werden, damit das Verfahren und die ergriffene Maßnahme an die Umstände des Falls angepasst werden. Die Entscheidung ist von entscheidender Bedeutung für den internen Regelungsprozess der Gerichte zum Schutz der Opfer von sexueller Belästigung.
Obwohl die Entscheidungen in diesen Fällen eindeutig erscheinen mögen, sind sie es rechtlich nicht ohne Weiteres. Einerseits ist körperliche Gewalt so schwerwiegend, dass sie nur in absoluten Ausnahmefällen gerechtfertigt ist. Notwehr und Notstand sind Gründe, die nur in wenigen Fällen geltend gemacht werden können. Dies ist unter anderem deshalb der Fall, weil die Existenz des Staates das Einverständnis voraussetzt, dem Staat die Anwendung von Gewalt zu gestatten. Andererseits erfordert ein ordnungsgemäßes Verfahren, dass die Regeln für die Untersuchung, das Verfahren und die Verurteilung für alle gleich sind und nicht in jedem einzelnen Fall „nach dem Geschmack“ des Betroffenen entschieden werden. Es ist ein grundlegender Bestandteil der Gleichheit, auf die gleiche Weise verurteilt und bestraft zu werden. Die Urteile zeigen jedoch die besonderen Herausforderungen, die sich uns in Fällen stellen, in denen es um reale Gleichheit geht. Wir müssen über die allgemeinen Regeln hinausgehen und die Opfer ernst nehmen. Sie wissen am besten, wie wir beginnen können, uns zu ändern.

 

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Original-Beitrag aus La Semana vom 29. Oktober 2021. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift.

Übersetzung aus dem Spanisch: Gabi Töpferwein

Bildquelle: [1] Flickr_#9A Reporte fotográfico #5_cc

 

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