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Politik und Kultur in Lateinamerika

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El Salvador statt Kolumbien

Heidrun Zinecker | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Über den Wechsel an der Spitze der „Champions‘ League“ der Gewalt

Ursprünglich war klar: Sollten die folgenden Seiten dem Violentesten Land Lateinamerikas gelten, so würde hier nur von Kolumbien die Rede sein können. Doch spätestens für das Jahr 1996 bestätigten inzwischen die Statistiken (u.a. die der seriösen Organización Panamericana de Salud – OPS) die Sensation: Der Spitzenplatz nicht nur der lateinamerikanischen, sondern weltweiten „Champions‘ League der Gewalt“ hat gewechselt. Mit 156 Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohner hat das kleine El Salvador Kolumbien um Längen geschlagen, wo auf dieselbe Einwohnerzahl „nur“ 75 derartige Todesfälle kommen.

Kaum einer hat das so erwartet, denn für die einen war, als in El Salvador die Friedensglocken schlugen, nicht nur der Krieg, sondern die Gefahr der Waffen schlechthin vorbei, für die anderen schien unmöglich, was in der Literatur nicht vorkam: Während in Kolumbien, wo sich die „Violentologie“ sogar zu einem selbständigen Zweig der Soziologie entwickelt hat, die Schriften zur (La) Violencia fast unüberschaubar geworden sind, existiert in El Salvador keine „Kratologie“; Beispiele gewaltsoziologischer Literatur sind an einer Hand abzuzählen. Die vergleichsweise geringe Zahl von Veröffentlichungen zum Thema liegt nicht nur an mangelnder wissenschaftlicher Logistik, sondern vielmehr am für El Salvador typischen, anderen Fokus – dem der Revolution, des Bürgerkrieges, des regionalen Konfliktes. Die methodologische „Klammer“ der Gewalt wurde für El Salvador bisher kaum benutzt, um diese Phänomene zusammenzufassen.

Nunmehr, da sich der Gewalttypus in El Salvador so geändert hat, daß der genannte Fokus nicht mehr „greift“, wird augenscheinlich, wie wenig bisher Gewalt „an sich“ und darunter deren historisches Kontinuitätsmoment in El Salvador in die Erklärungsmuster einbezogen worden ist (das war bislang stets Kolumbien vorbehalten), wodurch nun neu und unerwartet scheint, was durchaus tiefgehende Wurzeln hat.

Dennoch ist in unserem Vergleich mindestens zweierlei zu beweisen: Zum einen, daß die in beiden Ländern zunächst kontrastierenden Gewalttypen unterschiedliche strukturelle Voraussetzungen für einen Friedensschluß boten, der demgemäß nur in El Salvador „integral“ war (d.h. alle bewaffneten politischen Akteure und zur gleichen Zeit erfaßte), in Kolumbien hingegen „atomisiert“ (d.h. nur mit einigen Guerrilla-Gruppierungen und nacheinander geschlossen wurde); zum anderen, daß und warum sich dann die einst kontrastierenden Gewalttypen nach dem Friedensvertrag in El Salvador einander in der Weise annähern, daß nunmehr „bloße“ Delinquenz politische Gewalt verdrängt. Dies gilt für Kolumbien tendenziell und für El Salvador nach Ablauf der ersten Jahre der Nachkriegszeit generell.

Trotz dieses Unterschiedes trifft jedoch heute auf beide Länder als Gemeinsamkeit zu, daß sie durch zwar zivile, aber violente – sich banditisierende – Gesellschaften geprägt sind. Zugespitzt wäre zu fragen, ob sich nun El Salvador „kolumbianisiert“, so daß der dortige Friedens- und Demokratisierungsprozeß letztlich nur als ein trügerischer Erfolg anzusehen ist, weil er genau dorthin mündet, wodurch Kolumbien schon immer charakterisiert war: in eine zwar zivile, aber violente Gesellschaft?

Gewalt erweist sich in unseren beiden Länderfällen als ein Legat. Doch sie ist in El Salvador und Kolumbien jeweils unterschiedlich historisch strukturell-präfiguriert und hat demzufolge auch kontrastierende Typen ausgeprägt, deren Herleitung und Unterscheidung eine Voraussetzung für Konfliktverregelungs- und Transitionsstrategie ist. Auch die Widerstandskultur kann sich den im jeweiligen Land herrschenden Gewalttraditionen und -typen nicht entziehen. Wir gehen davon aus, daß in beiden Ländern (bis zum Friedensvertrag in El Salvador) als Langzeitphänomen kontrastierende Gewalttypen vorherrschten, die eine Konfliktverregelung befördert (El Salvador) oder behindert (Kolumbien) haben.

Unsere These lautet im weiteren, daß in einer strukturell polarisierten (El Salvador) und fragmentierten Gesellschaft (Kolumbien) die Tendenz zu einem unterschiedlichen Grad von Homogenität bzw. Heterogenität von Gewalt besteht. In El Salvador war Gewalt bis zum Friedensvertrag langzeitlich polarisiert und eminent politisch, in Kolumbien letztlich immer anomisch, dispers und auch weitgehend delinquent, weil von einem Banditismus charakterisiert, der politischen Impetus verdeckt oder in den Hintergrund drängt. Anders gesagt, die Kolonisierung im Zuge der Durchsetzung der Kaffee-Wirtschaft hatte tendenziell entweder zu einer Bifurkation, Polarisierung und Politisierung (El Salvador) oder zu einer Regionalisierung,

Diversifizierung und Banditisierung des (Agrar)Konfliktes (Kolumbien) geführt, wobei zunächst ein hypertropher (El Salvador) und ein hypotropher Staat (Kolumbien) zur Bündelung (El Salvador) oder zur Zerfaserung (Kolumbien) von Gewalt und Gegengewalt beigetragen hat.

Um die kontrastierenden Gewalttypen in Kolumbien und El Salvador (bis zum Friedensvertrag von Chapultepec) erklären zu können, bedienen wir uns der von Eckstein vorgeschlagenen generellen kategorialen Unterscheidung zwischen einer inherent und einer contingent violence: Inhärenz benennt Übliches, Chronisches, Verfestigtes. Kontingenz dagegen beruht auf anomalen, akuten, „zufälligen“ Bedingungen. Inhärenz blockiert und Kontingenz befördert schnellen und tiefen Wandel. Während Eckstein diese Unterscheidung benutzt, um generell Gewalttheorien zu typologisieren, erlauben wir uns den Kunstgriff, mit der Kategorie inherent violence die Kolumbien-typische und mit contingent violence die – vor dem Friedensvertrag geltende – El Salvador-typische Gewaltstruktur zu bezeichnen. Die in Kolumbien inhärente Gewalt ist inertialisierte und routinisierte Gewalt, die weder politisch strukturiert werden konnte, noch die „faulende“ Gesellschaft aufzubrechen vermochte und die somit über die Jahrzehnte eine Verhaltensdisposition zu einem bestimmten Gewalttyp hervorgebracht hat, der chronisch von autodefensa- und bandolerismo-Attitüden dominiert ist.

Anders in El Salvador, wo sich Gewalt – auch weil legativ vorgezeichnet – vor und in dem Bürgerkrieg politisch bündeln ließ, wobei die auf militärischem Wege erreichte politische Strukturierung mit dem Ende des Bürgerkrieges folgerichtig „verpuffte“. Nach Überschreiten des mit dem Friedensvertrag gegebenen Transitionshöhepunktes setzt sich nunmehr in El Salvador ein „neuer“ Gewalttyp durch, weil die „alte“ Gewalt ihrer politisch-militärischen Verklammerung verlustig gegangen ist und zudem von den Folgen einer relative deprivation überlagert wird, die angesichts der vom bisherigen Transitionsprozeß nicht erfüllten (vor allem sozioökonomischen) Erwartungen der Bevölkerung entstanden sind und nun die auf die „normale“ Regellosigkeit einer sich umstrukturierenden Gesellschaft treffen. Das heißt, El Salvador zeigt, daß in Gesellschaften, die einst Austragungsort von Bürgerkriegen oder Guerrillakriegen mit revolutionärer Dimension waren, sich eine zuvor strukturierte und bifurkierte in eine disperse und stark kriminalisierte Gewalt, wie wir sie für Kolumbien als traditionell beschrieben haben, wandeln kann. In unserem Fall heißt das: Die salvadorianische Gesellschaft hat sich weitgehend „kolumbianisiert“.

Sombra Negra (Schwadronen zur „Bekämpfung“ der Kriminalität, die aber inzwischen kaum noch existieren), Maras (Jugendbanden), „rationale“ (vorgesehene) und „irrationale“ (der unvorhergesehene Mord im Zuge der Eskalation eines Konfliktes) Delinquenz sowie die Mafiotisierung der Gesellschaft etc. legen davon Zeugnis ab. Betrug zu Zeiten des Bürgerkrieges der jährliche „Tötungssaldo“ in El Salvador 6.250, so waren es in den letzten beiden (Nachkriegs!)Jahren jährlich 8.506 Menschen, die gewaltsam zu Tode kamen. Auf die Frage, ob die Situation im Lande nach dem Friedensvertrag besser ist als davor, antwortete in einer Umfrage eine Bäuerin aus Cantarrana auf eine sehr bezeichnende Weise: „Sehen Sie, ich denke, sie ist eher schlechter: Wenn sich früher jemand nicht in die Politik eingemischt hat, so hat man ihn nicht ermordet, jetzt dagegen ja, man kann zu Hause bleiben und wird ebendort ermordet.“

Während die von Eckstein eingeführte Inhärenz und Kontingenz den Grad der Verfestigung von Gewalt beschreibt, ist für den angesprochenen Grad der Geordnetheit (Bipolarität vs. Multipolarität) von Gewalt noch eine weitere begriffliche Bestimmung vonnöten. Dafür übernehmen wir von Durkheim und Merton die Kategorie der Anomie, die von ihnen als die Kluft zwischen Differenzierung und Regulierung sozialer Beziehungen und damit als Strukturlosigkeit oder Normenlosigkeit gefaßt wird, wobei bei Merton Delinquenz bzw. Kriminalität als eine besondere Form anomischen (abweichenden) Verhaltens interpretiert wird.

Ist in Kolumbien der anomische Gewalttyp inhärent, so war in El Salvador während des Bürgerkrieges die Anomie der Gewalt zwischenzeitlich strukturiert, also aufgehoben worden. Insbesondere für die Klärung des sich nach dem Friedensvertrag „kolumbianisierenden“ salvadorianischen Falles fügen wir nun zur Durkheimschen und Mertonschen Anomiedefinition hinzu, daß Anomie auch als Normenkonfusion auftreten kann, wenn – beispielsweise im Zuge einer Transition – alte Normen erst partiell abgeschafft und neue Normen genauso partiell hinzugefügt oder „übergestülpt“ werden.

Während für Kolumbien tatsächlich Struktur- und Normenlosigkeit charakteristisch ist, so kann für El Salvador nach dem Bürgerkrieg zunächst eher eine solche anomische Normenkonfusion festgestellt werden, die letztlich aber einen ähnlichen anomischen Effekt wie in Kolumbien zeitigt. Ob nun die „neue“ Anomie in El Salvador so wie die „alte“ Anomie in Kolumbien Inhärenz aufweisen wird, ist noch nicht zu sagen. Innerhalb des für Kolumbien typischen „inhärenten“ Gewalttyps ist die Scheide zwischen krimineller und politischer Gewalt eine diffuse. Wann wird ein Krimineller für politische Zwecke rekrutiert, und wann überwiegt Delinquenz politische Zielsetzung? „Reine“ politische Gewalt existiert fast nicht mehr. Autodefensa, narcos, guerrilleros, sicarios, bandoleros, Terrorismo de Estado, paramilitares, milicias urbanas, Convivir (rurale Selbstverteidigung mit Verbindung zu den paramilitärischen Banden) verweben sich zu einem undurchschaubaren Gemisch, das zwar zumeist nicht politisch-institutionell ist, den politischen Raum aber stets zumindest am Rand berührt. Die Comisión Colombiana de Juristas hat in ihrem neuesten Bericht (über das Jahr 1996) festgestellt, daß in jenem Jahr allein 62,69 Prozent der von bewaffneten Akteuren (Staat, Guerrilla, Paramilitares) verursachten Tötungsdelikte auf das Konto der paramilitärischen Banden kommen. (Dem stehen 10,52 Prozent auf Seiten des Staates und 26,79 Prozent aufseilen der Guerrilla gegenüber.) Daß es also die Paramilitares sind, deren Status als politischer Akteur im äußersten Maße umstritten ist, welche die überwiegende Mehrzahl der Morde begehen, zeigt, wie eng in Kolumbien Politisches und Kriminelles in der Gewaltausübung verknüpft sind. In diesem Land handelt es sich somit prinzipiell um ein Geflecht von politischer und krimineller Gewalt, während hingegen in El Salvador die Gewalt inzwischen nahezu völlig kriminalisiert und depolitisiert ist. So gesehen, besteht heute ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Ländern darin, daß nur noch in Kolumbien das Verbrechen Teil einer „Subkultur“ des politischen Konfliktes ist, womit die Rekrutierung Krimineller für politische Zwecke bzw. die Wandlung politischer in kriminelle Akteure analytisch ins Blickfeld gerät. Das betrifft bei weitem nicht nur den „subalternen“ Kriminellen, sondern auch die Protagonisten von staatlicher Kriminalität (darunter des Narco-Staates), Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Verknüpfung von politischer mit krimineller Gewalt „von unten“ bezeichnen wir als (Sozial)Banditismus. Die Verknüpfung von politischer und krimineller Gewalt „von oben“ nennen wir Staatskriminalität. Die Verschmelzung von politischer und krimineller Gewalt bzw. die Depolitisierung politischer Gewalt ist ein der Demokratisierung entgegenlaufender Prozeß. Das gilt nicht nur für Kolumbien, sondern auch für El Salvador.

Die von Marvin/Ferracuti entwickelte These von der „subculture of violence“, die davon ausgeht, daß sich innerhalb der Wertecluster die Gewalt als ein potentes Thema, das Lebensstil und Sozialisationsprozeß zu bestimmen vermag, und gleichzeitig impliziert, daß diese sich sowohl im Konflikt mit der dominierenden Kultur befindet, als auch Teil von ihr ist, ist für uns deshalb von so großer Relevanz, weil die Urheber des Konzeptes diese Subkultur auch als ein learning environment definieren, da für sie Aggression eine erlernte Antwort ist. Gewalt kann demnach -durch eine solche subkulturelle Affinität – erlernt und routinisiert werden, da Gewalt gegen den Feind als Norm akzeptiert wird. In dieser Beziehungen haben die chronische violencia in Kolumbien und der Bürgerkrieg in El Salvador ähnliche Konsequenzen gezeitigt, mit einer Einschränkung: Erlernt und routinisiert werden kann nur der Waffengebrauch als schnelle und vermeintliche Konfliktlösung; politische Gewalt als ein besonderer Gewalttypus kann hingegen nicht erlernt werden. Fällt – wie in El Salvador- die politische Strukturierung weg, bleiben Banditismus und Delinquenz „übrig“, die nun unter der Oberfläche hervortreten.

Legate können also die politische Strukturierung von Gewalt und damit die Konfliktverregelung nur erleichtern oder erschweren, nicht aber determinieren. Eine – etwa im Transitionspakt – erreichte „künstliche“ politische Vorwegnahme ökonomisch nicht gegebener Kohäsionen, bringt zwar mehr Demokratie mit sich, „verwischt“ aber auch die zuvor klar strukturierten Konflikt- und Gewaltlinien. Die ökonomisch durch die Bifurkation von Eliten und Marginalen geprägten Legate sind in El Salvador zweifellos auch nach dem bisherigen Transitionsprozeß bestehen geblieben, nur daß diese gewissermaßen unter der Oberfläche „verschwunden“ sind. Damit strukturieren sie nicht mehr direkt die herrschenden Konflikt- und Gewaltmuster, sondern werden innerhalb einer „komplexe Situation“ von neuem sozialen Sprengstoff und einer damit einhergehenden frustrierten Erwartungshaltung überlagert, die die im Bürgerkrieg antagonistischen, im Friedensvertrag aber paktierenden Akteure – Staat und FMLN -nicht mehr zu bündeln vermögen. Das „Verdrängen“ statt der Lösung des sozioökonomischen Konfliktes zwischen Elite und Marginalisierten impliziert zum einen die Gefahr, daß die Transition rückläufig wird und die politische Lösung des Bürgerkriegkonfliktes keine auch weiterhin ansteigende Konsensbereitschaft mit sich bringt. Zum anderen zeigte sich innerhalb eines historisch extrem kurzen Zeitraumes, daß die politisch nicht aufgehobene, aber politisch nicht mehr direkt „durchschlagende“ Bifurkation in Elite und Marginalisierte zu einem neuen dispersen Konfliktamalgam avanciert, das von Anomie und multipolarer Gewalt überlagert ist.

Diesen neuen und außerordentlich komplexen Zusammenhang auszuleuchten, ist in der Literatur noch nicht versucht worden. Der Vergleichspartner Kolumbien mit seiner anomischen Gewalt als chronisches Phänomen bietet indes für diesen Fall anomischer Gewalt als neues Phänomen einen Zugang, den die intra-zentralamerikanischen Vergleiche, in die El Salvador üblicherweise eingebunden war, so nicht besaßen.

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El Tiempo, 10 de Agosto de 1997, S. 13A.

Politics: Essays on Political Theory, Stability, and Change. Berkeley/Los Angeies/Oxford 1992, S. 311 ff.

J. M. Cruz: La violencia en El Salvador. In: L. A. González/J. M. Cruz (eds.) Sociedad y violencia. El Salvador en la post-guerra. San Salvador 1997, S. 43.

E. Durkheim: Regeln der soziologischen Methode. Neuwied l976, p. 56 ff. R.

K. Merton: Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin/New York 1995, S. 169 ff.

Comisión Colombiana de Juristas: Colombia, De-rechos Humanos y Derecho Humanitario: 1996. Bogota 1997, S. 7.

W. E. Marvin/F. Ferracuti: The Subculture of Violence. Towards an Integrated Theory in Criminology. London 1967,  S. 140 ff.

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