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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Quito: 17. – 22. Januar 2000

Marcela Herrera | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

Eine wachsende Unruhe hatte seit meiner Ankunft in Ecuador vor drei Monaten die gesamte Stadt erfaßt. In der Familie, in der Nachbarschaft, in den Bussen, am Arbeitsplatz, auf dem Markt, an Schulen und an Universitäten – überall wurde diskutiert. Die Inflation war erschreckend. Die Preise stiegen erbarmungslos (und sie tun es immer noch). Seit November kosteten alle Grundnahrungsmittel das Doppelte. Jeden Tag steigt der Dollarkurs. Ende Januar entsprach der Mindestlohn von 1.500 Sucres 50 Dollar. Die Medien und die Regierung priesen in dieser Situation marktschreierisch ein Wundermittel an, das die Wirtschaft förmlich über Nacht retten und uns auf den sicheren Pfad in die Erste Welt führen würde: La Dolarización.

Wir haben in Ecuador keine Demokratie, aber es gibt Momente und Orte, die fast auf utopische Weise Demokratie möglich machen. Ein Ort davon ist die Kirche, nicht die offizielle, sondern die Menschen selbst, die zu der jeweiligen Gemeinde gehören und die Priester und die Ordensfrauen, die wissen, daß lebendiger Glaube Verantwortung und Zivilcourage bedeutet. Diese Kirche gehört zu den Movimientos Sociales, den Bürgerrechtsbewegungen. Die Bewegung ist nicht einheitlich: Künstlergruppen, Fraueninitiativen, indianische Organisationen, Studentengruppen, Arbeiter, Intellektuelle, Vereinigungen kleiner und mittelständischer Unternehmer, aber auch landwirtschaftliche Genossenschaften gehören beispielsweise dazu. Die Movimientos Sociales haben seit Ende der Militärdiktatur 1979 immer mehr an Raum gewinnen können. Diese Bewegung vertritt die Interessen von Bürgern, die in der Mehrheit zur Unter- und Mittelschicht gehören. Also von 99% der ecuadorianischen Bevölkerung.

Am Sonntag, dem 16.1.2000, erfuhr ich, daß sich in allen Provinzen Parlamentos Populares gebildet hätten und daß es ein nationales Parlamento Popular gibt. Hier versammeln sich Vertreter aller Movimientos Sociales. Der Wirtschaftswissenschaftler Napoleon Saltos erläuterte in einem zweistündigen Vortrag, was die Regierung verschwieg. Saltos erklärte uns, daß der Dollar die Nationalwährung ersetzen und Ecuador die Souveränität über seine Geldpolitik verlieren wird, daß wir in einem weit größeren Maß von der Wirtschaftspolitik der USA abhängen werden. Die Parlamentes erarbeiteten und diskutierten Alternativen zu diesem Plan. Die Produktion wurde jahrelang nicht gefördert. Eine Kreditpolitik, die lediglich auf sogenannten Freundschaftsdiensten der Bankerfamilien basierte, hatte Investitionen und Existenzgründungen im Land erschwert. Die Parlamentes suchten Wege, die Produktion zu fördern.

Aus fast ganz Ecuador kamen inzwischen die indianischen Völker meines Landes zu Fuß nach Quito. Sie waren unterwegs vielen Schikanen durch das Militär ausgesetzt. Man nahm ihnen ihre Fahrzeuge und Vorräte. Sie kamen über die alten Inka-Wege. Sie tragen die Huipala-Fahne, die Teil der Fahne des Inka-Reiches war und zu Ehren der Sonne die Farben des Regenbogens trägt. Ich sehe auch die ecuadorianische Fahne und die Fahne der Quitos, eines indianischen Volkes.

Die Bevölkerung hält sich in den ersten Tagen zurück. „Gehören wir wirklich zu diesen ‚Indios‘, haben wir die gleichen Interessen wie sie?“ Der Rassismus in unserer Gesellschaft schuf eine tiefe Kluft zwischen den Mestizen und der indianischen Bevölkerung. Aber nach und nach verstehen immer mehr Leute, daß es hier nicht um einzelne geht. Die Musik gibt den Menschen im immer größer werdenden Demonstrationszug Energie. Die Künstler haben hier eine wichtige Aufgabe. Musik und Tanz sind mehr als nur Unterhaltung. Durst, Hitze und Tränengas sind unerträglich. Am Donnerstag, dem 21. Januar, bilden Menschen eine Kette um den Kongreß und den Obersten Gerichtshof. Sie lassen niemanden aus dem Regierungsgelände hinaus. Auf diese Weise haben wir zwei Minister und mehrere Abgeordnete gefangen genommen. Das Militär wirft Tränengas, aber die Demonstranten kommen immer wieder zurück. Mit Holzlatten schlagen sie die ganze Nacht einen gleichmäßigen und eindringlichen Rhythmus. Die Mächtigen sollen wissen, daß man nicht 99% der Bevölkerung ignorieren kann. Etwas Unglaubliches geschieht: Teile des Militärs – zum größten Teil junge Offiziere – sind auf Seiten der Bewegung. Der Demonstrationszug bewegt sich am nächsten Tag auf den Präsidentenpalast zu, an der Spitze junge Soldaten. Sie tragen keine Waffen, sie wissen, daß ihre Kameraden Schießbefehl haben. Mit Liedern nähern wir uns dem Ziel.

Innerhalb weniger Minuten hat sich unsere neue Regierung im Palast niedergelassen, Präsident Mahuad ist geflohen. Der Sprecher der indianischen Völker, Antonio Vargas, der General Moncayo und ein von den Bewegungen geachteter Richter sollen eine neue Wahl vorbereiten. Es ist das erste Mal, daß ich die Nationalhymne mit der Überzeugung singe, daß dieser Staat für uns Ecuadorianer da sein wird. Wir tanzen gemeinsam. Wir tanzen sogar mit den Soldaten. Und auf einmal sind die mit Gasmasken verdeckten Gesichter junge Männer.

Am nächsten Tag erfahren wir in den Medien, daß General Moncayo zurückgetreten ist, da unsere Regierung von den USA nicht anerkannt wurde. Nebot, der bisherige Vizepräsident, ein Mitglied der Social-Cristiana, wurde zum neuen Machthaber des Landes erklärt. Die Anführer der Bewegung wurden verhaftet. Man verkündet, daß der Putsch einiger machtgieriger Soldaten niedergeschlagen und die Demokratie wiederhergestellt wurde. Die Dollarisierung wird fortgesetzt. Es kommen schwere Zeiten auf Ecuador zu. Aber diese Tage haben uns viel Selbstbewußtsein gegeben.

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