Microcuentos – der Name verrät es – sind kleinste Geschichten, eine in Lateinamerika beliebte literarische Form. Man denke nur an den Guatemalteken Augusto Monterroso. Im Jahr 2009 brachte die Zeitschrift „Caballo de proa“ eine Sammlung von Microcuentos aus der Feder südchilenischer Autoren heraus. Quetzal wird diese kleinen Geschichten „aus dem tiefen Süden“ in loser Folge vorstellen, als deutsche Erstveröffentlichung.
Wir danken den Autoren, insbesondere Herausgeber Pedro Guillermo Jara, für die Genehmigung zur Veröffentlichung. Und wir danken Gabriele Eschweiler, die die Geschichten ins Deutsche übertragen hat.
Luis Bocaz (Valdivia)
Schaf
Ein unvollendeter Artikel über Andrés Bello ließ mich keinen Schlaf finden.
Ich griff auf das Schäfchenzählen zurück.
Mein erster Fehler war, sie einzeln zu betrachten. Ihre umstürzlerischen Felle verhinderten es, in der milchigen Masse, die mir die Augenlider schwer werden ließ, klar umrissene Gestalten zu erkennen.
Ich versuchte, sie einzupferchen. Sofort umzingelte mich ein Trupp Gleichklänge (Mehre die Mär von der alle Hürden nehmenden Mähre!), und alles war drauf und dran in der Unermesslichkeit der Grassteppe des Chaco zu verschwinden.
Kurzzeitig bildete ich mir ein, sie unter Kontrolle zu haben, dass sie in Reih und Glied bereit stünden, um auf die andere Seite zu springen, hinüber zu einem Renaissance-Hain, den man als Gelegenheitsarbeit in einem Winkel der Landschaft anzulegen geschafft hatte. Die Gewieftesten jedoch stoben auseinander und ihr bebendes Blöken drohte mich aufzuwecken.
Auf dem Gipfel der Heuchelei kamen einige määääh machend näher, um mir wie Argos die Hand zu lecken. Über das Privileg des Hundes in der Gesamtheit aller Wesenheiten nachsinnend ging ich des Schlafes endgültig verlustig.
Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler.
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Ricardo Mendoza (Valdivia)
Boxclub
Für Jorge Ojeda A.
Der alte Boxer und sein Schatten sind beim Training – Schattenboxen wie eh und je. Mit flinken und selbstbewussten Bewegungen ist er locker fast so schnell wie sein Schatten, den er an der verschwitzten Wand der Trainingshalle wahrnimmt. Dies lenkt ihn kurz ab. Just in diesem Moment sieht der verschwitzte Schatten die Chance seines Lebens gekommen, mehr als nur ein Schemen zu sein.
Sogleich macht er sich diese Wendung zunutze und versetzt gnadenlos jenen Schlag, der sie beide für immer außer Gefecht setzt.
Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler.
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Ramón Quichiyao (Futrono)
Das Leben ist zu nichts nutz!
Schon seit undenklichen Zeiten hatte er diese Angewohnheit. Kaum trank er ein Glas Wein, hob er in reinstem José-Alfredo-Jiménez-Stil laut und klagend an zu singen:
„Nutzlos ist das Leben,
das Leben nützt zu nichts,
gleich am Anfang stehen Tränen
und genau so endet es auch …“.
Und er sang, bis ihm vor lauter Leid und Sehnsucht angst und bange wurde und Tränen in den Augen standen …
Jahre später nahm ihn der Kommandant einer Militärstreife in Curriñe fest und an Händen und Füßen gebunden wurde er auf der Ladefläche eines olivgrünen Lastwagens abtransportiert. Es war jene kühle Nacht des 9. Oktobers 1973 in den Thermen von Chihuío, während der das alte Gebirge beharrlich seinen feinen Kristallen der Einsamkeit und Transparenz nachspürte. Endlich erschlossen sich meinem alten Freund Segundo Pedreros die traurigen Worte seines Lieblingsliedes.
Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler.
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