Nelson Antonio Torres (Castro)
Japanien
Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges überließen Chile den Japanern. Diese fanden Santiago bezaubernd. Es war Liebe auf den ersten Blick. Außer einer großen Kleinigkeit: der Smog. Ihre Ingenieure diskutierten verschiedene Lösungsansätze: Turbinen, Rohre, Aufforstung. Letztendlich sprengten sie den Kordillerensektor und eliminierten so die Seite des Trichters, die die Luftzirkulation verhinderte. Mit den so gewonnenen Steinen erbauten sie ein zweites Gemeinwesen: Japanien auf dem Meer. Es ist eine riesige, majestätische und sich drehende Stadt. Santiago hat saubere, reine Luft, aber auf der Suche nach ihren Wurzeln verließen die Bewohner die Hauptstadt: Heute leben sie in Japanien.
Luis Bocaz (Valdivia)
Kondor
Ein herrlicher Kondor ließ sich auf meiner Schulter nieder und lenkte mit äußerster Zuvorkommenheit meine Aufmerksamkeit auf einen in einem Schaufenster kauernden Computer. Ich versuchte ihm weiszumachen, dass ich ein Ungläubiger sei, zumindest ein Agnostiker, dass das Leben mich über die Maßen gebeutelt habe, dass mein Chef mich jeden Morgen schlecht behandele, meine unglückliche Ehe, kurz und gut …
Er verrenkte sich die Kinnladen, bis ihm die Venen aus den Schläfen traten.
(All dies beobachtete ich klammheimlich.)
Um ihn nicht noch weiter gegen mich aufzubringen, versuchte ich es mit dem Thema „Chilenische Münzen aus dem Jahr 1933“.
Da winselte er tränenerstickt: „Aber die Mistral hat mich nie gemocht. Sie hat mir den Andenhirsch vorgezogen.“
Sein Kummer beunruhigte mich. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass er etwas für nationale Kunst übrig habe.
Unterdessen gesellte sich unserer Falknereigruppe (ich aufrecht mit ihm auf meiner Schulter) ein weibliches Lächeln zu:
– Was darf es sein?
Aufgeschreckt davon, dass mich das Lächeln von „Was auch immer“ überzeugen könnte, errötete ich bis zu den Achseln und stotterte irgendetwas Dummes.
Mein neuer Freund befreite mich aus der peinlichen Situation, indem er ungesehen seine Krallen in mein Schlüsselbein bohrte.
Ich schaffte es, mich zu beruhigen.
Ich werde mich von ihm beraten lassen, sagte ich mir, in seinem Lebenslauf ist ganz bestimmt ein Informatikkurs für Fortgeschrittene aufgeführt.
Aber das Lächeln verflüchtigte sich und auch er verschwand genau so wie er gekommen war.
Seitdem stolpere ich nur noch durchs Leben. Der simpelste Second-Hand-Computer lässt mich in Tränen ausbrechen.
In den frühen Abendstunden liebkose ich die Münze, betaste die Spuren seiner Berührung auf meiner Schulter und denke manchmal an das Lächeln.
Meister, wohin hat es dich verschlagen?
Yuri Soria-Galvarro (Puerto Montt)
Shift F9
Dies ist eine schlechte Angewohnheit aus der Zeit, als die Software noch nicht so anwenderfreundlich war, Herr Doktor, sagte der arme Teufel. Er war Programmierer gewesen, entnahm ich seiner Karteikarte, und irgendwann drehte er dann durch, das Übliche eben. Früher musste man sich bei einem Textverarbeitungsprogramm wie Wordstar 3.11 oder WordPerfect 5.1 für die meisten Grundfunktionen Tastenkombinationen einprägen, fügte der sichtlich verwirrte Patient hinzu. Beruhigen Sie sich, ließ ich beiläufig verlauten, während ich das Rezept ausschrieb und ihn nicht aus den Augen ließ, falls ich Hilfe rufen müsste. Herr Doktor, Sie glauben mir nicht, Shift F3, zum Beispiel, verwandelt Klein- in Großbuchstaben, Control C schließt die meisten Programme, genau so, es ist als ob beim Schließen von Windows das Bild von Bill Gates erscheint, nur eben anders herum.
Gestatten Sie mir, es Ihnen zu zeigen, Herr Doktor, was kann schon groß passieren, machen Sie mir endlich eine Hand frei und lassen Sie mich an die Tastatur. Ich zögerte kurz, aber die Pfleger waren ja direkt hinter der Tür und der Mann kam mir harmlos vor, schnell überdachte ich sein Krankheitsbild. Dann band ich ihm eine Hand aus der Zwangsjacke los und stieß aus: Los Mann, zeig‘s mir, genieß diesen kleinen Glücksmoment. Umständlich drückte er Shift mit dem einen Finger und F 9 mit dem anderen und der arme Teufel verschwand für immer und nahm dabei den kleinen Rest von Vernunft mit, den wir Psychiater noch haben.
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Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler
Bildquellen: [1], [2], [3] Quetzal-Redaktion, nic