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Verwaltung in Brasilien

Christian Roschmann | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

Die wirtschaftlichen Strukturen Brasiliens sind die der Entwicklungsländer mit der Besonderheit hoher Produktionskapazitäten und entwickelter Technologie. Die Wirtschaft ist immer noch geprägt durch fehlenden Massenkonsum, dem fehlende Masseneinkommen gegenüberstehen. Das volkswirtschaftliche Mehrprodukt ist sehr ungleich verteilt. Ein hoher Prozentsatz der Kaufkraft und damit der wirtschaftlichen Macht ist in den Händen relativ Weniger konzentriert. Die Produktion ist daher nicht auf Massenbedürfnisse ausgerichtet. Dies hat billige Löhne und damit niedrige Einkommen zur Folge. Der Mittelstand ist relativ klein. Ca. 40% der Bevölkerung nimmt fast überhaupt nicht an der Volkswirtschaft teil. Dieser Personenkreis ist nicht produktiv tätig und konsumiert auch kaum.

Trotz dieser Strukturen besitzt die brasilianische Volkswirtschaft hohe Produktionskapazitäten und entwickelte Technologie. Durch die schwache Ausbildung eines Mittelstandes ist ein hoher Anteil des staatlichen Sektors an der Wirtschaft entstanden. Dies hat in Brasilien zu einem Monopol des Staates in manchen Sektoren geführt. Hierdurch wurde die Funktion der Konkurrenz für den Markt stark herabgesetzt, was wiederum die Ausbildung entwickelter Märkte verhindert hat.

In den 60er und 70er Jahren zeichnete sich Brasilien durch ein außerordentlich schnelles Wachstum aus. Brasilien entwickelte sich zur stärksten Volkswirtschaft im lateinamerikanischen Raum. Das galt sowohl für den landwirtschaftlichen wie für den industriellen Bereich. Brasilien wurde zum Empfängerland bedeutender ausländischer Investitionen, besonders auch aus der Bundesrepublik Deutschland. Die brasilianische Wirtschaft konnte stetige Zuwachsraten verzeichnen. Dieser Zuwachs erlitt einen ersten entscheidenden Rückgang während der Ölkrise 1973. Brasilien verzeichnete in der Folge 1974 ein Zahlungsbilanzdefizit, das zur Aufnahme hoher Auslandsverbindlichkeiten führte. Diese wurden zum Teil dazu verwendet, die noch schwache Infrastruktur weiterzuentwickeln. Eine zweite Krise durchlebte die brasilianische Wirtschaft 1979. In Ihrem Gefolge wurde die Aufnahme weiterer größerer Auslandsdarlehen notwendig. Seitdem hat es Brasilien nicht geschafft, die hohe Auslandsverschuldung abzubauen. Im Gegenteil konnten während der 80er Jahre weder Zinsen noch Tilgung der Auslandsschulden vollständig bedient werden. Hiermit Hand in Hand ging ein Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums, der gegen Ende des Jahrzehnts zu einer starken Rezession führte. Politisch fiel die Zeit der wirtschaftlichen Blüte wie auch der ersten Phase der Rezession in die Zeit der Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 währte. Die 1985 erfolgte schrittweise Rückkehr zur Demokratie, die sich in der Verfassung von 1988 manifestierte, war überschattet von der wirtschaftlichen Krise des Landes.

Wirtschaftspolitisch hat Brasilien traditionell einen stark interventionistischen Kurs verfolgt. Immer häufiger erlassene Regierungsprogramme sollten vor allem mit den Mitteln von Lohn- und Preisfestsetzungen sowie Geldmengenverringerungen die seit Jahren galoppierende Inflation (1989 ca. 1600% pro Jahr) eindämmen und die Rezession bekämpfen.

Hand in Hand hiermit ging eine Marktreservenpolitik, die bestimmte Bereiche, insbesondere im Informatiksektor, der brasilianischen Wirtschaft vorbehielt und Importe verbot. Gleichzeitig wurde auch der Export stark beschränkt. Zur selben Zeit nahm die direkte Aktivität des Staates in der Wirtschaft durch vermehrte Gründungen staatlicher Großunternehmen zu. Die Grundtendenz der Wirtschaftspolitik in den 80er Jahren war Abschottung nach außen, interne Kontrolle und Dirigismus.

Diese politische Linie erfuhr ab 1990 eine grundlegende Änderung. Versucht wird nunmehr der Anschluss an die internationale Arbeitsteilung. Marktreservenpolitik, Export – und Importbeschränkungen wurden sukzessive aufgegeben. Brasilien soll international konkurrenzfähig gemacht werden. Die bisherige Politik wurde als verfehlt und verantwortlich für die Krise der brasilianischen Wirtschaft angesehen. Bisher bestandene Behinderungen des ausländischen Kapitals wurden aufgegeben. Gleichzeitig sind Verbesserungen der Infrastruktur im Gange, wie etwa die Schaffung eines effizienten Verbraucherschutzes. Es wurde erkannt, dass es nicht möglich ist, Brasilien den Anforderungen der globalisierten Wirtschaft zu entziehen. Der Standort Brasilien musste gesichert und ausgebaut werden. Globalisierung der Wirtschaft heißt schnelle Beweglichkeit von Kapital und Konkurrenz nationaler Standorte um Investitionen. Ein wesentliches Element hierbei ist die kostengünstige Produktion öffentlicher Güter durch die Staatsapparate, die über die Höhe von Steuersätzen einen unmittelbaren Anreizfaktor im globalen Wettbewerb der Volkswirtschaften darstellt.

Ein ebenso wesentliches Element ist die kostengünstige Produktion privater Güter, die auf dem Markt gehandelt werden. Dies bedeutet für Brasilien eine Abkehr von staatlichem Engagement bei der Produktion privater Güter und umfangreiche Privatisierungen – beim dortigen Umfang des öffentlichen Sektors bei der Produktion privater Güter eine gewaltige Aufgabe – , da diese nun einmal im kapitalistischen Konkurrenzmechanismus kostengünstiger produziert werden. Als Beispiel sei die „success story“ der Stahlindustrie angeführt. Die Compania Siderurgica Paulista erwirtschaftete als Staatsbetrieb zwischen 1985 und 1993 zwei Mrd. $ Verlust, 1994, dem ersten privaten Jahr, wurden 45 Mio. $ Gewinne erwirtschaftet. Für die brasilianische Verwaltung hat dies eine tiefgreifende Umgestaltung und Verschlankung zur Folge.

Brasilien besitzt seit Oktober 1988 eine demokratische Verfassung und wird entsprechend dieser demokratisch regiert. Die verfassungsgemäße Verteilung von Macht und Kompetenzen entspricht jedoch nicht den wirklichen, durch die wirtschaftlichen Strukturen vorgegebenen Machtverhältnissen. Es existieren parallele Machtstrukturen entsprechend der Zugriffsmöglichkeit auf das volkswirtschaftliche Mehrprodukt, die zum guten Teil bürokratisch erfolgt.

Dadurch, dass diese Machtstrukturen nicht in den politischen Institutionen abgebildet werden, entsteht ein Autoritätsvakuum des Staatsapparates. Ziele und Entscheidungen können entgegen den parallelen Strukturen nicht durchgesetzt werden. Hieraus resultiert eine Schwäche des institutionellen Staates, woraus sich hohe Amtskriminalität und Korruption ableiten. Auf der anderen Seite wird durch diese Strukturen die Stellung des Beamtenapparates besonders. Er ist keinen ernsthaften institutionalisierten Kontrollen von Verhalten und Effizienz unterworfen. Dies hat ein hohes Maß von staatlicher Willkür und Käuflichkeit des Beamtenapparates zur Folge. Durch den hohen Anteil des staatlichen Sektors an der Wirtschaft entstehen dann in hohem Maße Möglichkeiten staatlicher Funktionäre, Zugriff auf das volkswirtschaftliche Mehrprodukt nehmen, sich Renten anzueignen und dadurch hohe Positionen in der politischen und gesellschaftlichen Machtpyramide einzunehmen.

Aus diesen Strukturen resultiert ein Verhältnis des Individuums zur staatlichen Verwaltung, das von dem in Industrieländern grundverschieden ist. Die Möglichkeit, die Bindung an Recht und Gesetz zu umgehen, führt zu einem stark reduzierten Rechtsschutz. Der Umgang mit der staatlichen Bürokratie ist von deren Erscheinungsformen bestimmt. Tätigkeitsbezogene Rollendifferenzierung sind im staatlichen Apparat nicht immer ausgeprägt. Der Status eines Beamten ist in der Regel personen-, nicht funktionsbezogen.

Aufgrund der nicht transparenten, nicht effizienzbezogenen Kommunikationsstruktur hat der einzelne Beamte wenig Entscheidungsspielraum, entwickelt daher wenig Verantwortungsbewusstsein und Initiative. Die tatsächliche Kommunikationsstruktur innerhalb von Behörden bildet sich nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern nach tatsächlichen Machtverhältnissen und enthält daher ein starkes Element der Willkür. Infolgedessen kann insgesamt wenig Rationalität bezüglich administrativer Effizienz erwartet werden. In der Verwaltung sind immer noch Zielvorstellungen möglich wie Erlangung und Erhaltung persönlicher Macht. Eine Identifikation des Beamten mit Zielen des Staates ist häufig nicht zu beobachten.

Die Folge ist neben Ineffizienz der Verwaltung ein in allen Entwicklungsverwaltungen beobachteter Hang zur Zentralisierung, sowie die Vermeidung von Aufgabendelegation aus dem natürlichen, aus dieser Struktur erwachsenden Misstrauen und der Mangel an Qualitätskontrolle aufgrund fehlenden feedbacks. Mangelndes administratives feedback jedoch ist das vielleicht signifikanteste Merkmal einer solchen Verwaltungskommunikation. Feed-back ist die Rückmeldung, wie die eigenen Kommunikationsakte angekommen sind, z. B., ob es Probleme bei der Implementierung von Entscheidungen gab und Verbesserungen notwendig sind. Es ist evident, dass jede Organisation – bürokratisch oder nicht – dringend hierauf angewiesen ist. Feed-back ist ein wesentliches Steuerungselement.

In einer solchen Kommunikationsstruktur werden nicht nur keine (kritischen) Anregungen von unten nach oben gegeben, sondern auch Folgefakten von Vorgesetztenentscheidungen nicht rückgemeldet, also feedback grundsätzlich unterlassen, aber auch nicht ermutigt. Effizienz rangiert auch als Vorgesetztenpräferenz hinter Machterhaltung. Hieraus erklärt sich Hilflosigkeit in der Sache einerseits und betontes Machtgehabe andererseits.

Rationalität im Weberschen Sinne, Funktionalität der Verwaltung, das Ziel, dass der Verwaltungszweck möglichst effizient und möglichst wenig aufwendig erreicht wird, ist einer solchen Verwaltung daher fremd. Der Staat separat als solcher wird als Fremdkörper empfunden. Loyalität zu ihm ist keine gängige Wertvorstellung der Beamten wie der Verwalteten, auf die Durchsetzung der ihm vorgegebenen Ziele, also Systemrationalität, wird wenig Priorität gesetzt. Diese liegt dann bei Erlangung und Erhalt eigener Vorteile innerhalb der gegebenen Machtstruktur. Höhere Beamte schaffen es z.B. häufig, eine größere Zahl Familienmitglieder auf die Gehaltsliste ihrer Behörde zu setzen ohne dass diese dort jemals in Erscheinung treten.

Das Selbstbild des Beamten entspricht dem. Er sieht sich als Person mit Macht ausgestattet. Eine Funktionalität im modernen Sinne nimmt er nur eingeschränkt wahr. Er sieht sie insoweit, als er Aufgaben bis zu dem Maße erfüllen muss, dass Unzufriedenheit mit ihm kein Ausmaß erreicht, das die bestehenden Machtstrukturen gefährdet.

Diese Machtstrukturen prägen daher die Kommunikationsstrukturen und über diese das Selbst- und Gesellschaftsbild des Beamten und die Auffassung von seiner Aufgabe. Der Beamte hat im Machtgefüge seine Position als Person. Die Erlangung und Verteidigung dieser Position sieht er als legitimes und existentielles Interesse an.

Die Entwicklung in der brasilianischen Verwaltung weist mehrere Modernisierungsschübe auf, deren bedeutendster während der Militärdiktatur 1964-1985 erfolgte. Strukturell weist die brasilianische Verwaltung heute die klassischen Merkmale der europäischen Verwaltungen auf, die im 19. Jahrhundert herausgebildet wurden, eine nach dem Stab-Liniensystem aufgebaute hierarchische instanziell gegliederte Ministerialverwaltung mit relativ vielen verselbständigten Verwaltungsträgem, insbesondere Staatsbetrieben (entsprechend der umfangreichen Staatstätigkeit bei der Produktion privater Güter). Die im Staatsapparat tätigen Personen besitzen meist einen Beamtenstatus vergleichbar dem in Deutschland seit etwa 200 Jahren eingeführten, allerdings sind sie mit noch mehr Privilegien ausgestattet. Die Verwaltung ist gegliedert in eine solche des Bundes, der Gliedstaaten und Kommunen der (municípios), Kreise im deutschen Sinn gibt es nicht.

Die durch den Globalisierungsprozess hervorgebrachten neuen Anforderungen an die Verwaltung wurden in der zweiten Hälfte der 90er Jahre mit einem Instrumentarium angegangen, das der europäischen und US-amerikanischen Verwaltungsdiskussion entlehnt und gelegentlich entsprechend den brasilianischen Erfordernissen modifiziert wurde.

An erster Stelle ist die schon erwähnte Privatisierung der Produktion wesentlicher privater Güter zu nennen. Es handelt sich meist um materielle Privatisierungen, als deren Grundlage das Subsidiaritätsprinzip diskutiert wird. Weiter sind Public-Private-Partnerships zu nennen, für die neue gesetzliche Voraussetzungen geschaffen wurden, vor allem formelle Privatisierung mit teilweiser Publikumsbeteiligung (economia mista), außerdem Regulierung (concessão), d.h. ein Privater produziert ein bisher staatlich produziertes Gut (meist eine Dienstleistung) in eigenem Namen und auf eigene Rechnung, aber unter staatlicher Aufsicht. Eine besondere, für Brasilien interessante Form ist die Franchise. Bei dieser in Europa vor allem in der Privatwirtschaft vorkommenden Vertragsform wird die Führung eines Namens gestattet, verbunden mit bestimmten qualitätssichernden Auflagen gegen Zahlung einer Gebühr. Es gibt jedoch auch Beispiele aus dem öffentlichen Bereich. So hat etwa nach Aufsplittung der PTT die schweizerische Post den Betrieb von Postautobussen per Franchise auf Private übertragen. Bei der großen Zahl der brasilianischen Staatsbetriebe mit eingeführten Namen hat diese Kooperationsform in Brasilien eine größere Bedeutung. Ein Beispiel ist die Elektrizitätsgesellschaft des Staates São Paulo, Eletropaulo. Weiter zu nennen ist das outsourcing (terceirização). Hier wird die Produktionstiefe der staatlichen Produktionseinheiten (auch bei der Produktion öffentlicher Güter) vermindert (z. B.: die Fenster des Finanzamtes werden nicht mehr von Angestellten desselben geputzt, sondern von privaten Reinigungsfirmen). Schließlich sind öffentlich-rechtliche (convenios) und privatrechtliche (contratos) Verträge zu nennen, in denen sich Private gegen Honorar verpflichten, öffentliche (oder auch private) Güter zu produzieren.

Neben den Private – Public – Partnerships ist der allem die regionale Dezentralisierung als Instrument der Verwaltungsreform zu nennen. Verwaltung erfolgt hier durch kleinere Einheiten verminderter örtlicher Zuständigkeit orts- und sachnah.

Im Ganzen gesehen ist das Instrumentarium zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung mit dem der Industrieländer vergleichbar. Insbesondere ist auch in Brasilien eine Wendung zu den mehr betriebswirtschaftlichen Methoden des New Public Management, vor allem in den Kommunalverwaltungen zu beobachten. So hat etwa die Stadt Rio de Janeiro 1996 einen „Strategie Plan for the City of Rio“ (bereits auf Englisch) veröffentlicht, in welchem für jedes thematische Feld Strategien, Ziele, Aktivitäten und Projekte festgelegt werden.

Es bleibt abzuwarten, wie diese sehr ernsthaften Modernisierungsbestrebungen sich auf die Position des Landes im globalen Wettbewerb auswirken. Die angesprochene wirtschaftliche Problematik fehlender Durchkapitalisierung mit der genannten fehlenden administrativen Rationalität im Gefolge stellt jedenfalls bis jetzt noch ein zu großes Entwicklungshindernis dar als dass die neu gewonnene administrative Effizienz ihren Rückgang zur Folge haben könnte.

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