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Domitila, eine Frau der Minen

Víctor Montoya | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

Persönliche Chronik über Domitila Chungara

Bergbau: Lore - Foto: Quetzal-Redaktion, sscDoña Domi, wie sie liebevoll von den Nachbarn genannt wurde, kannte ich von jeher. Seit sie in der Minensiedlung Siglo XX lebte und aus einem Korb frische Salteñas verkaufte, die sie mit Hilfe ihrer kleinen Töchter, welche die Kartoffeln und Erbsen schälten, bevor sie sich auf den Weg zur Schule machten, zubereitet hatte. Damals war sie noch keine palliri*, sondern Leiterin des Hausfrauenkomitees (Comité de Amas de Casa). Es waren die 70er Jahre und das Land durchlebte eine der düstersten Phasen seiner Geschichte.

Wir begegneten uns manchmal auf Protestkundgebungen gegen die Militärdiktatur von Hugo Banzer Suárez und bei den riesigen Versammlungen auf der Plaza del Minero, wo das Denkmal für Federico Escóbar Zapata, die Büste von César Lora und das Gebäude des Sindicato Mixto de Trabajadores Mineros de Siglo XX stehen. Von dessen Balkon aus hielten wir antiimperialistische Reden; sie als Vertreterin der Hausfrauen und der Schreiber dieser Chronik als Vertreter der Sekundarschüler der Provinz Bustillos und als Präsident des Colegio 1ro. de Mayo.

Ich erinnere mich auch an ihren hochbetagten Vater, verdienstvoller Veteran des Chacokriegs und Vater von sechs Töchtern in erster Ehe. Don Ezequiel, pensionierter Minenarbeiter und immer um den Unterhalt der Familie besorgt, lief durch die Straßen von Llallagua und bot von Tür zu Tür Kleidungsstücke an. Das Interessante daran ist, dass er außer Kleidungsstücke zu verkaufen, auch das evangelisierende Wort Christus´ in die bescheidensten Wohnungen brachte. Ich lernte ihn kennen, als er eines Tages zu uns kam, um uns Hosen anzubieten. Meine Mutter bat ihn ins Wohnzimmer und, nachdem ich einige anprobiert hatte, kauften wir eine in bar und eine weitere auf Pump. Als ich ihm sagte, dass mir der Umschlag einer der Hosen zu lang war, bot er an, ihn mit seinen begnadeten Schneiderhänden im Nu zu kürzen. Am selben Tag, kaum dass er sich mit der Freundlichkeit und dem Respekt, die ihn auszeichneten, verabschiedet hatte, sagte ich zu meiner Mutter, dass Don Ezequiel dasselbe Bärtchen hatte, wie der alte Trotsky. Meine Mutter deutete ein Lächeln an und nickte.

1975, als Doña Domi auf Einladung zur Weltfrauenkonferenz reiste, die von den Vereinten Nationen organisiert wurde und in Mexiko stattfand, erfuhr man, dass ihre Stimme und ihre Figur bei dem großen Ereignis herausragten. Sie hatte dort in klarer Opposition zu den Forderungen der Lesben, Prostituierten und Feministinnen des Westens erklärt, dass sich der Kampf der Frauen nicht gegen den Mann richte und dass ihre Befreiung abseits der sozioökonomischen, politischen und kulturellen Befreiung eines Volkes nicht möglich sein würde. Doña Domi war davon überzeugt, dass der Freiheitskampf darin bestand, das kapitalistische System gegen ein anderes einzutauschen, in dem Männer und Frauen dasselbe Recht auf Leben, Bildung und Arbeit hätten. Sie machte klar, dass der Kampf zur Erringung der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit kein Kampf zwischen den Geschlechtern, zwischen Männern und Frauen, sei, sondern ein Kampf des Paares gegen ein sozioökonomisches System, das Männer und Frauen gleichermaßen unterdrücke.

Bolivien: Domitila, Vorsitzende des Komitees der Hausfrauen in Siglo XXAndererseits sagte sie, während sie sich mit ihren Kontrahentinnen um die Mikrofone stritt, dass es in einer Gesellschaft, die in Klassen unterteilt ist, nicht nur einen Unterschied zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat, sondern auch einen Unterschied zwischen den Frauen selbst gebe; zwischen einer Akademikerin und einer Hausangestellten, zwischen einer, die alles und einer, die nichts habe. So war es, dass die Aufsehen erregenden Interventionen von Doña Domi, in ihrer Eigenschaft als Ehefrau eines Minenarbeiters, Mutter von sieben Kindern und Leiterin des Hausfrauenkomitees, starke Auswirkungen auf die hartnäckigsten Feministinnen hatten. Denn ihre Worte vermittelten die Volksweisheit und alles, was sie bei den Minengewerkschaften und in der Schule des Lebens gelernt hatte. Nicht umsonst entschloss sich die brasilianische Pädagogin und Journalistin Moema Viezzer, überwältigt von der Kraft des Wortes einer einfachen Frau, die die komplexesten Theorien zum Klassenkampf und der weiblichen Emanzipation vereinfachen konnte, ihr bis ins Lager der Minenarbeiter Siglo XX zu folgen. Sie tat dies mit der festen Absicht, weiter an dem Buch „Si me permiten hablar… Testimonio de Domitila, una mujer de las minas de Bolivia” (deutscher Titel: Wenn man mir erlaubt zu sprechen. Das Zeugnis der Domitila, einer Frau aus den Minen Boliviens) zu schreiben, das, kurz nachdem es in Mexiko veröffentlicht und in mehrere Sprachen übersetzt worden war, zum meist gelesenen Buch unter Feministinnen der unterschiedlichsten Ausprägungen wurde.

Die Minenarbeiter konnten bei ihren Triumphen und Niederlagen immer auf die bedingungslose Unterstützung ihrer Frauen und Kinder zählen, die seit den Anfängen der bolivianischen Gewerkschaftsbewegung als ihre natürlichen Verbündeten agierten. Daher begegnete ich Doña Domi auf dem Nationalen Minenarbeiterkongress von Corocoro, eröffnet am 1. Mai 1976, erneut. Sie trug bei dieser Gelegenheit die Notwendigkeit vor, einen nationalen Hausfrauenbund, angeschlossen an die Central Obrera Boliviana (COB), aufzubauen, während die Arbeiter ihre gerechten Forderungen stellten und von der Regierung Respekt für die Gewerkschaftsrechte und Generalamnestie forderten.

Wochen später, nachdem der Streik der Minenarbeiter im Juni 1976 niedergeschlagen und die Orte Llallagua und Siglo XX militärisch besetzt worden waren, traf ich sie im Inneren der Mine, wo wir Anführer vor der erbarmungslosen Verfolgung durch die Regierung Zuflucht suchten. Doña Domi war im letzten Schwangerschaftsmonat und ihr Bauch schien einen enormen Schub an Mut zu bringen. Trotzdem beschloss man, sie aus Gesundheitsgründen an einen sicheren Ort zu bringen, damit sie unter besseren Umständen entbinden könnte. Danach erfuhr man, dass sie Zwillinge bekommen hatte; ein Kind kam lebend, das andere tot auf die Welt. Vermutlich wurde es durch die gefährlichen Minengase geschädigt, denn als sie es aus ihrem Bauch holten, befand sich das Kind schon fast in einem Zustand der Verwesung.

Anfang Januar 1978, als ich mich bereits im Exil in Schweden befand, ging ihr Name erneut durch die Presse, als sie sich dem Hungerstreik anschloss, den vier Minenfrauen und ihre vierzehn Kinder im Erzbistum der Stadt La Paz begonnen hatten. Der Streik, der am 28. Dezember 1977 begann, hatte das Ziel, von der Regierung die Demokratisierung des Landes, die Wiedereinstellung der entlassenen Arbeiter, den Rückzug der Armeetruppen aus den Bergarbeiterzentren und die unbegrenzte Amnestie für die politischen Anführer und die Gewerkschaftsführer zu fordern. Es handelte sich um einen heldenhaften und beispiellosen Kampf, da sich niemand vorstellen konnte, dass ein Streik, der von Aurora de Lora, Nelly de Paniagua, Angélica de Flores und Luzmila de Pimentel begonnen worden war, eine Militärdiktatur stürzen könnte, die entschlossen war, für lange Zeit an der Macht zu bleiben. Die Tage verstrichen, und die historischen Ereignisse änderten die Richtung: die vier Frauen –unterstützt durch Pfarrer, Arbeiter, Studenten und Bauern, die sich dem Hungerstreik an unterschiedlichen Orten des Regierungssitzes anschlossen, sowie die Protestwellen auf dem Staatsgebiet, die wie Schaum größer wurden – beugten die harte Hand von General Hugo Banzer Suárez. Er verzichtete auf seine Positionen und beschloss, allgemeine Wahlen für den 9. Juli 1978 einzuberufen. So bewiesen Doña Domi und die mutigen Minenfrauen der Welt erneut, dass ein Funke im Pulverfass eine gewaltige soziale Explosion auslösen kann und dass es keine Diktaturen gibt, die gegen den Willen des Volkes bestehen können.

Jahre später, bereits in Stockholm, begegneten wir uns erneut und umarmten uns. Alles ereignete sich nach dem blutigen Staatsstreich vom Juli 1980, angeführt durch Luis García Meza und Luis Arce Gómez, genau als sie an einer Frauenkonferenz in Kopenhagen teilnahm. Wir wussten, dass der blutige Staatsstreich, der eine Spur von Toten und Verletzten zurückließ, durch Narco-Dollar finanziert worden war und dass in den Einsatzkommandos durch den Nazi und „Schlächter von Lyón” Klaus Barbie angeworbene Paramilitärs agierten. Es wurde ein Treffen in Kungsträdgården (Königsgarten) organisiert, von wo aus wir zwischen Fahnen und Plakaten gemeinsam zu einem Protestmarsch aufbrachen, der die Hauptstraßen Stockholms einnahm.

In Schweden stellte sie, am Rande des Rechtes auf Familienzusammenführung, das ihr erlaubte, sich mit ihren Kindern zu vereinigen, fest, dass die lateinamerikanischen Frauen sich gegen ihre Vergangenheit der Leibeigenschaft und Unterwerfung auflehnten. Sie befand sich, vielleicht ohne es zu wissen, in einer Nation, welche die Ungleichheiten der Geschlechter überwunden und die Pfeiler der patriarchischen Gesellschaft umgeworfen hatte. Die Emanzipation der Frau wurde vom Traum zur Wirklichkeit und der dekantierte Feminismus der 60er Jahre wurde, im Unterschied zum machistischen Chauvinismus, zu einer der maßgeblichen Stärken innerhalb der schwedischen Linken. Diese kombinierte die Lektüre der Klassiker des Marxismus mit den Werken von Alexandra Kollontai, Simone de Beauvoir, Alva Myrdal und anderen Kämpferinnen, welche eine Intelligenz besaßen, die in der Lage war, jeden zu entwaffnen.

Doña Domi verstand schnell, dass die Schwedinnen, trotz des Konsumismus´ und des Mangels an menschlicher Wärme, bereits seit Anfang des XX. Jahrhunderts einige ihrer Rechte erkämpft hatten. 1919 wurde ihnen das Wahlrecht gewährt und einige Jahre darauf das Scheidungsrecht, 1938 wurde der Gebrauch von Verhütungsmitteln legalisiert, 1939 wurde ein Gesetz erlassen, das vorschrieb, dass Frauen ihre Arbeit nicht aufgrund von Schwangerschaft, Geburt oder Ehe verlieren konnten. 1947 war erstmals eine Frau Mitglied der Regierung und 1974 wurde die Vorschrift verabschiedet, dass beide Elternteile das Recht auf insgesamt 390 Tage zur Betreuung ihrer Kinder haben, wobei sie 80 % des Gehalts erhalten. Mehr noch, 1975 wurde das Recht auf kostenlose Abtreibung für alle Frauen legalisiert und in den 80er Jahren trat das erste Gesetz gegen Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts im Bildungs- und Arbeitsbereich in Kraft. Dank eines umfassenden Systems der Sozialversicherung und Kinderfürsorge bestand für die Frau auch keine Notwendigkeit mehr, zwischen Familie und Karriere zu wählen.

So kam es, dass Doña Domi, ohne die Perspektive zu verlieren, dass eine andere Welt möglich sei, diese Lektion lernte: Wenn in diesem Land die Forderungen der Frauen Schritt für Schritt erkämpft werden konnten, warum sollte es dann nicht möglich sein, dasselbe in anderen Ländern zu erreichen, in denen die Frauen sich danach sehnten, ihre Albträume in Träume und ihre Träume in Wirklichkeit zu verwandeln?

Mit dieser Frage und ihrer neuen Lebenserfahrung, die ihr ermöglichte zu erahnen, dass sowohl Frauen als auch Männer dieselben Rechte und Pflichten haben, begann sie nach der Wiedererlangung der Demokratie ihre Rückkehr nach Bolivien zu planen. Sie ließ ihre Kinder in Schweden zurück und folgte dem Ruf der Pachamama, um weiter für eine würdigere Zukunft als in der Gegenwart zu kämpfen. Dieses Mal jedoch war sie überzeugter davon, dass es, um die Freiheit der Frau zu erlangen, nicht nur notwendig sei, die sozioökonomischen Infrastrukturen eines Landes zu verändern, sondern auch die Regeln des Zusammenlebens der Bürger und die Mentalität der Menschen. Und, obwohl sie in der Vergangenheit verfolgt, eingesperrt und gefoltert wurde, weigerte sich Doña Domi zu schweigen und meldete sich erneut, um gegen die sozialen Ungerechtigkeiten zu sprechen mit derselben Überzeugung und demselben Mut wie jeher, da ihr persönliches Zeugnis, passenderweise, eine große Lektion des Lebens und des Kampfes ist. Falls Sie mir nicht glauben, lade ich Sie ein „Si me permiten hablar…”, von Moema Viezzer; und „¡Aquí también, Domitila”, von David Acebey zu lesen; zwei Bücher, die das Beste von Doña Domi, einer unbeugsamen Frau der Minen, zusammenfassen.

* Palliri: Arbeiterin, die mit Hammerschlägen das Mineral aus den Steinen zerkleinert und heraussucht.

Übersetzung aus dem Spanischen: Monika Grabow

Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion, ssc; [2] Buch-Cover

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