Ein Gespräch mit Patricia Miranda von der bolivianischen Organisation Fundación Jubileo
Aktuell wird in Europa landauf landab von der Schuldenkrise gesprochen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die 2008 mit einer geplatzten Spekulationsblase in den USA begonnen hatten, wurden schnell zu einer generellen Krise des Geldes und der Schulden. Vor allem in südeuropäischen Ländern wie Griechenland und Spanien beeinflusst der hohe Schuldenstand die öffentlichen Ausgaben und somit das gesellschaftliche Leben inzwischen maßgeblich. Die vorgeschlagenen Rezepte für eine Erholung der Wirtschaft sind vielfältig. Sie reichen von einem Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone und einer ökonomischen Schocktherapie bis zu einem Schuldenschnitt, der einen ökonomischen Neuanfang ermöglichen soll.
Angesichts dieses vielstimmigen Chores manchmal gut gemeinter, manchmal eigennütziger Ratschläge, lohnt ein Blick über den Ozean, nach Bolivien nämlich. Hier wurde ein Schuldenschnitt erstmals im Jahre 2001 umgesetzt. Dem Land wurden zunächst 2,1 Milliarden US-Dollar erlassen. Somit sank der Schuldenberg des Landes auf einen Schlag von 3,7 Milliarden auf 1,5 Milliarden US-Dollar. Im Jahre 2005 folgte eine weitere Stundung. Insgesamt wurden Bolivien bis heute 4,9 Milliarden US-Dollar an Rückzahlungen erlassen. Die Folgen dieses Schuldenschnitts für die Armutsbekämpfung sind jedoch ambivalent, wie Patricia Miranda von der Organisation Fundación Jubileo aus La Páz vor Kurzem auf einer Rundreise in Deutschland berichtete.
„Ich arbeite in der Fundación Jubileo. Meine Aufgabe ist es, den Effekt der Stundung von Schulden einzuschätzen. Diese Stundung begann schon vor 12 Jahren und geht auf Kampagnen von bolivianischen und auch deutschen Organisationen zurück. Es gibt hier also schon seit Langem eine Zusammenarbeit“, berichtet Miranda.
Im Jahre 2003 wurde die Organisation Fundación Jubileo auf Initiative der bolivianischen Bischofskonferenz sowie der Diözesen Hildesheim und Trier gegründet. Ziel war es, die soziale Partizipation der bolivianischen Bevölkerung, vor allem marginalisierter Gruppen, zu erhöhen. Ein wichtiger Arbeitsschwerpunkt der Organisation lag auf dem Kampf für den Schuldenerlass seitens der Geberländer, der im Kontext der Kampagne „Erlassjahr 2000“ stand. Bereits 1998 gab es eine Kampagne, um einen Erlass der bolivianischen Staatsschulden seitens der Weltbank zu erreichen. Diese Aktivitäten waren Teil einer weltweiten Anstrengung, die Gläubiger dazu zu bewegen, den ärmsten und verschuldetsten Ländern die Schulden zu erlassen. Die Fundación Jubileo, die in Lateinamerika eine Vorreiterrolle einnimmt, arbeitet auf internationaler Ebene eng mit der Hildesheimer Stiftung Justicia et Participio zusammen.
Patricia Miranda legt dar, dass Bolivien in der Vergangenheit – neben einigen Ländern Afrikas – einen Grad von Verschuldung erreicht hatte, der eine Stundung als beste Lösung erscheinen ließ. Dem Land sollten seine Verbindlichkeiten erlassen und im Gegenzug das Geld in soziale Projekte investiert werden. Allerdings blieb es dem Staat selbst überlassen, auf welche Weise er das Geld einsetzen würde. Zivilgesellschaftliche Gruppen wie die Initiative Jubileo engagierten sich deshalb für einen alternativen Plan zur Armutsreduktion, den die Regierung im Gegenzug zum Erlass ihrer Schulden vorlegen musste. Die entfallende Tilgung der internationalen Kredite hatte nämlich direkte Auswirkungen auf die lokale Ebene.
„In Bolivien wurden nämlich 30% des frei gewordenen Geldes den Gemeinden zur Verfügung gestellt“, führt die Aktivistin aus. Etwa 100 Millionen US-Dollar kamen auf diese Weise den 314 Kommunen des Landes zu Gute. Dieses Geld sollte in den Gesundheitssektor, die Erziehung und Infrastrukturprojekte fließen. Es verblieb jedoch eine große Lücke, denn „70% des Geldes wurden zur Tilgung des bis dahin aufgelaufenen kommunalen Defizits eingesetzt“, erklärt Miranda. Darüber hinaus fehlte den Gemeinden oft die Fähigkeit, das Geld im Sinne des Schuldenerlasses einzusetzen.
So entstanden Gruppen, die mittels sozialer Kontrolle dafür sorgen wollten, dass das Geld seinen Zweck erfüllte und nicht vergeudet wurde. Die Fundación Jubileo ist eine dieser Gruppen. Über die Kontrolle hinaus – in Bolivien ist es möglich, die Haushaltspläne der Kommunen einzusehen – bildet die Organisation Gewerkschafter und Kleinbauern aus, damit diese die erlangte Kontrollfunktion auch ausüben können. Das heißt ganz konkret, die Aktivisten werden in die Lage versetzt, den Haushaltsplan einer Kommune überhaupt einschätzen und interpretieren zu können.
„Durch das Gesetz Diálogo 2000 sollten die Basisgruppen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Sie wählten Vertreter, die in den jeweiligen Gemeinden die soziale Kontrolle ausübten, um einen Missbrauch zu verhindern“, legt Miranda dar. Die Einbindung der gegründeten Organisationen war sozialen Kämpfen geschuldet, die Anfang der letzten Dekade zur Verabschiedung eines Gesetzes über die Mitsprache bei der Mittelverteilung führte. Nach diesem Schritt stellt sich die Frage, ob die Kontrolle gewährleistet werden konnte, und ob es tatsächlich zu einer Verbesserung der Lebensumstände in den Gemeinden gekommen ist. Dazu meint Patricia Miranda: „Hier gab es Schwierigkeiten. Manchmal wurde das Geld nur ausgegeben, um es auszugeben. Es wurden Schulen gebaut, deren Ausstattung nicht adäquat war. Auch wurden Plätze und Sportanlagen errichtet. Dinge die schön anzusehen waren, aber die Qualität der Bildung wurde nicht verbessert.“ Auch wurden Arbeitsplätze geschaffen, deren Finanzierung kurzfristig war und allein vom Schuldenerlass abhing. Nach dem Auslaufen dieser Finanzierungsmöglichkeit ist es nun notwendig, die Nachhaltigkeit der Arbeitsverhältnisse zu sichern, meint Miranda. Darüber hinaus fordert sie eine Kontinuität der öffentlichen Verwaltung. Nach jeder Wahl wird neues Verwaltungspersonal eingestellt. Dies ist politischen Erwägungen geschuldet. Diese ständige Rotation hat jedoch den Nachteil, so die Aktivistin, dass die Qualität der Maßnahmen sehr leidet.
Das Verhältnis der Kommunen und ihrer Vertreter zur Regierung Morales ist zwiespältig. Einerseits ist die Regierung Morales das Ergebnis des Kampfes einer Vielzahl von Organisationen, die die Regierung erst ermöglicht haben. Andererseits hat sich das Verhältnis zur Regierung inzwischen gewandelt: „Viele Gruppen sind der Regierung gegenüber kritisch, da sie ihre Politik geändert hat. Sie verfolgt immer mehr einen neoliberalen Kurs und verschließt den Organisationen die Tür zu Verhandlungen, Debatten und Informationen“, beklagt Miranda. Andere Gruppen unterstützen jedoch weiterhin die Regierung, da sie Zugang zu öffentlichen Ämtern wie Parlamentssitzen und Bürgermeisterposten erhalten haben, so die Bolivianerin. „Es erscheinen jedoch junge Menschen, die ihre Rechte einfordern und sich über die Entscheidungsprozesse informieren möchten. Die sind sehr interessant“, meint die Aktivistin.
Es scheint, dass ein Schuldenschnitt, wie er Bolivien 2001 und 2005 zu Gute gekommen ist, nur ein erster Schritt auf einem langen Weg der Armutsbekämpfung und Erhöhung der sozialen Partizipation sein kann. Seine Begleitung und Kontrolle erscheinen unerlässlich. Europäische Gesellschaften, die in die Lage eines Schuldenschnitts kommen, könnten hier durchaus etwas von Initiativen aus Lateinamerika lernen.
Bildquellen: [1], [2] Quetzal-Redaktion, wd