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Bolivien – Scheitert der Weg zur neuen Verfassung?

Florian Quitzsch | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Ein Jahr nach der von Regierungschef Morales angekündigten Verfassungsnovelle und der Gründung eines „neuen“ Boliviens befindet sich das politische Großreformprojekt in einer schweren Krise. In der verfassungsgebenden Versammlung blockiert die reiche und meist weiße Opposition jedes Fortkommen. Und trotz der Verstaatlichung der bolivianischen Schlüsselindustrien, wie dem Erdgas, können ohne eine Neuordnung des Staats weder die Einnahmen gerecht umverteilt noch eine demokratische Reform des politischen Systems erreicht werden.

Wie kürzlich in der New York Times geschrieben stand, drohe dem Land möglicherweise die „Balkanisierung“. Die jüngsten Ereignisse und die Medienberichterstattung darüber begünstigen nicht gerade andere Annahmen, auch wenn die Behauptung der Balkanisierung etwas übertrieben erscheint. Hinter der jüngsten Auseinandersetzung um die Verlegung des Regierungssitzes von La Paz nach Sucre [1] und des Amtsmissbrauchsverfahrens gegen vier amtierende Verfassungsrichter steckt aber wesentlich mehr als man auf den ersten Blick annehmen könnte.

Im August 2007 eskalierte die Situation kurzzeitig, als sich Anhänger der Opposition mit tatkräftiger Unterstützung der rechtsradikalen Jugendunion Santa Cruz (UJC) aus dem Osten des Landes in Sucre Straßenschlachten mit der Polizei lieferten und es dabei zu Angriffen auf Mitglieder des Verfassungskonvents und Anhängern der Regierung gekommen ist, welche teilweise rassistisch motiviert waren. Ein weiterer Brennpunkt war das Parlament in La Paz, in welchem die Parlamentarier der Regierung und der Opposition aufeinander losgingen. Die Besetzung freier Stellen von Verfassungsrichtern am Obersten Gerichtshof per Dekret ist der Grund für die Auseinandersetzung. Die Regierung will damit u.a. das Verfahren gegen den Ex-Regierungschef Sánchez de Losada vorantreiben, welcher für das Massaker 2003 in El Alto verantwortlich gemacht wird, bei dem dutzende streikende und demonstrierende Bolivianer durch Sicherheitskräfte getötet und einige Hundert verletzt wurden. Das Verfassungsgericht galt bis dahin als Sachwalter der Interessen der herrschenden Eliten.

Hinter dem Konflikt in Sucre und auch der „Hauptstadt-Frage“ steht vielmehr der Versuch der Opposition, eine Blockadepolitik gegen die Verabschiedung der neuen Verfassung und damit gegen die Regierung von Evo Morales und seine Partei Movimiento al Socialismo (MAS) zu fahren.

Der Hauptkonflikt entzündet sich vor allem an im Verfassungsentwurf festgeschriebenen Regelungen. Streitpunkte sind nicht nur die Verankerung des plurinationalen Charakters Boliviens, durch welchen das monokulturelle Staatsmodell zu Grabe getragen würde und den Indigenen, die fast zwei Drittel der Bevölkerung (ca. 9,1 Mill. Einw.) ausmachen, wesentlich mehr Rechte eingeräumt würden. Auch die Forderung des MAS nach einer Gleichberechtigung indigener, regionaler, kommunaler und departamentaler Autonomie spielt in diesem Fall eine besondere Rolle. Nachdem Autonomie ursprünglich von vier Departamentos (Region/Verwaltungseinheit) gefordert wurde, hatten die Indigenen im Laufe der Zeit ebenfalls Selbstverwaltungsgebiete für die 36 auf bolivianischem Boden lebenden ethnischen Gruppen eingefordert. [2]

Ein weiterer Konfliktpunkt liegt auch in der generellen Ausrichtung des Staates und seines Wirtschaftssystems. Wird vom MAS ein kommunitärer und beratender Staat, der staatliches kooperatives Eigentum fördert, bevorzugt, setzen große Teile der Opposition auf einen demokratisch-repräsentativen liberalen Staat, welcher das Privateigentum garantiert. Die Debatte um die Verstaatlichung der Bodenschätze (u.a. im Ergassektor) und die Landreform muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Die vier reichsten östlichen Verwaltungsgebiete des Landes (Pando, Beni, Santa Cruz, Tarija) sehen durch den Vorschlag des MAS ihr Projekt der Autonomie der Departamentos, der bisherigen Verwaltungseinheiten, in Gefahr. Die von ihnen angestrebte Dezentralisierung mit neoliberalem Charakter zielt auf eine Entmachtung des Staates, dem so die Kontrolle über die Einnahmen der wirtschaftlich boomenden Landesteile in Ostbolivien entzogen werden soll. Zur Durchsetzung der Autonomieforderungen haben die radikalen Regierungsgegner der Opposition bereits weitere Bürgerkomitees gegründet, welche ihre Position vertreten.

Das Departamento Santa Cruz, fest in der Hand von Großgrundbesitzern und der Agrarindustrie, ist eine Hochburg der rechten Opposition und Anführerin jenes Quartetts, welches im Referendum von 2005 für die departamentale Autonomie gestimmt hat – zusammen mit Tarija, wo die wichtigsten Gasreserven liegen, sowie den ebenfalls ressourcenreichen Tieflanddepartamentos Beni und Pando. Die durch die Verstaatlichung des Erdgassektors seit 2005 um fast das doppelte angewachsenen Einnahmen aus dem Erdgasexport nach Argentinien und Brasilien kommen in gestiegenem Maß den an Bodenschätzen reichen Ost-Departements und ihren oppositionellen Verwaltern zugute.

Die Forderung der Regierungssitzverlegung wird getragen von Wahlmännern des Departements Chuquisaca (die des MAS haben sich allerdings dagegen ausgesprochen), in welchem Sucre liegt, und 50 weiteren von insgesamt 255 Wahlmännern aus den oppositionsregierten Departements. Hintergrund des Streites ist das Anliegen im Zuge der dann nötigen Um- und Ansiedlung oberster Regierungsbehörden und weiterer Infrastruktur eine höhere wirtschaftliche Prosperität für Sucre zu generieren und eine politische Machtverschiebung, weg aus dem eher indigen geprägten La Paz, zu erwirken.

Das Problem des MAS ist, dass die Partei im Parlament nicht über die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt, um sich gegen die Opposition von PODEMOS (Zweitstärkste Kraft im Parlament) u.a durchzusetzen und nun zunehmend zwischen die Fronten der eigenen Basis der sozialen Bewegungen und die rechte Opposition gerät. Die Zugeständnisse des MAS hinsichtlich des Ablaufes des verfassungsgebenden Prozesses Ende Juli 2007 verdeutlichen die Situation. So soll die neue Verfassung zunächst in der Versammlung mit absoluter Mehrheit verabschiedet werden, strittige Themen bedürfen allerdings einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Artikel ohne Einigung werden anschließend einem ersten „vermittelnden Referendum“ unter Beteiligung des Kongresses unterzogen. Der nach diesem ersten Schritt entstandene bindende Text wird dann nochmals von den 255 Wahlmännern des Konvents verabschiedet, um binnen 120 Tagen vom bolivianischen Volk durch ein zweites Referendum (geplant in 2008) ratifiziert zu werden. Wird dabei eine absolute Mehrheit erreicht, tritt die neue Verfassung in Kraft.

Nachdem die Frist bis zur Verabschiedung des Verfassungstextes bereits Anfang Juli bis zum 14. Dezember 2007 verlängert wurde, verzögert die neuerliche Aussetzung des Konvents von September bis Mitte Oktober, aufgrund der oben genannten Konflikte, die nächsten Schritte in Richtung der neuen Verfassung. Der MAS hat daher erneutes Entgegenkommen gezeigt. Die sozialen Bewegungen sollen keinen Status als vierte Macht im Staat bekommen und die regionale Autonomie der vier Tiefland-Departements wird garantiert. Dies entspricht weitestgehend den Forderungen der Opposition, denen damit zunächst der Wind aus den Segeln genommen wurde. Weitere Bestandteile der Verfassung, über welche ebenfalls noch gestritten werden könnte, sind die Verankerung der Wiederwahl des Präsidenten, die Amtsenthebung von Mandatsträgern per Volksentscheid und die entschädigungsfreie Verstaatlichung unproduktiver Latifundien.

Mögliche Szenarien bis Dezember sehen folgendermaßen aus: Die Gewerkschaft der Kokabauern von Cochabamba drohte bereist mit einer Einkesselung von Sucre zur Verteidigung der Kontinuität des Verfassungskonvents. Überlegungen zur Verlegung des Konvents nach La Paz stehen ebenfalls im Raum. Weitere Massenmobilisierungen der Anhänger von Morales sind auch nicht ausgeschlossen und drohen das Land wieder einmal für längere Zeit lahm zu legen.

Sollte die Verfassung generell scheitern, drohen dem Land Zustände wie im Jahr 2003, als Präsident Sánchez de Losada aus dem Amt vertrieben wurde, eine „Revolution“ aber nicht zustande kam. Die verfassungsgebende Versammlung ist der Versuch, auf demokratischem Weg einen neuen Gesellschaftsvertrag zu verhandeln, welcher der Diskriminierung der indigenen Mehrheit ein Ende setzt. Die Forderung nach mehr Autonomie und auch die Hauptstadtfrage wäre ein möglicher Grund für die Beförderung einer vertieften Spaltung Boliviens in Ost und West.

Bleibt die abschließende Frage, was das Land wirklich zusammenhält und wie eine mögliche Eskalation der Situation abgewendet werden kann. Die Situation ist sehr komplex und spiegelt die gesamte gesellschaftliche Situation, mit sämtlichen Ungleichheiten in Klassen, Regionen, Ethnien etc. wieder. Sollte die Opposition ihrerseits nicht zu Zugeständnissen bereit sein, wird sich die Lage kaum entspannen. Die Regierung kann, um ihr Projekt nicht zu „verraten“ und die indigene Basis zu verärgern, kaum weitere Kompromisse machen.

Evo Morales wird in der New York Times zitiert mit den Worten, dass die Dekolonisierung des Landes, neben dem Abbau der Diskriminierung der Indigenen ein wichtiges Anliegen der neuen Verfassung, wohl länger dauern wird als ursprünglich angenommen.

[1] Die offizielle Hauptstadt Boliviens ist das relativ unbedeutende Sucre (ca. 250.000 Einwohner), Sitz des obersten Gerichtshofes und jetzt auch der Verfassungsgebenden Versammlung. La Paz (ca. 835.000 Einw.) dagegen ist Regierungssitz (Regierung und Parlament), und damit die Stadt der öffentlichen Ämter, diplomatischen Vertretungen, Internationalen Organisationen und vieler NGO (Nicht-Regierungs-Organisationen).
[2] Die Indigenen Boliviens werden 11 Sprachfamilien zugeordnet, deren (auch räumliche) Einteilung bisher keine Entsprechung durch die Departementgrenzen erfahren hat.

Quellen:

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26037/1.html
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25740/1.html
http://de.indymedia.org/2007/08/192059.shtml
http://www.jungewelt.de/2007/06-26/001.php?print=1
http://www.jungewelt.de/2007/06-26/002.php?print=1
http://www.jungewelt.de/2007/08-09/020.php?print=1
http://www.jungewelt.de/2007/08-21/053.php?print=1
http://www.jungewelt.de/2007/08-23/020.php?print=1
http://www.jungewelt.de/2007/08-24/040.php?print=1
http://www.jungewelt.de/2007/09-24/024.php?print=1
http://www.lateinamerikanachrichten.de/?/artikel/1125.html
http://www.nytimes.com/2007/09/18/world/americas/18morales.html
http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Bolivien/kampf.html
http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Bolivien/pause.html

Auszug aus dem Verfassungsentwurf für Bolivien, Arbeitsgruppe „Vision eines Landes“

1. a) Bolivien ist ein multinationaler und kommunitärer Einheitsstaat, frei, unabhängig, souverän, demokratisch, sozial und dezentralisiert und mit territorialen Autonomien. (…)
2. Die indigenen Völker haben ein Recht auf Selbstbestimmung gemäß den vorkolonialen Zuständen, ein Recht auf Teilhabe am Staat, Selbstverwaltung und -regierung. (…)
5. Staatliche Ziele und Aufgaben: a) Schaffung einer gerechten Gesellschaft, Dekolonisierung, soziale Gerechtigkeit ohne Ausbeutung und Ausbeuter, multinationale Identitäten. b) Sicherung des Wohlbefindens, Entwicklung, Sicherheit, Schutz, Würde der Menschen, Nationen, Völker, Gemeinschaften, gegenseitiger Respekt. c) Einheit des Landes. d) Wiedergutmachung des historischen Schadens an den indigenen Völkern. e) Garantie des Zugangs aller Bolivianer zu Bildung, Gesundheit und Arbeit.
6. Regierungsform: I. Demokratische, partizipative, repräsentative und kommunitäre Regierung. II. Politische Organisation basiert auf Partizipation, individuelle und soziale Verantwortung des Mandats. III. Wahlmechanismen: a) partizipativ per Versammlungen, Räte, Volksbegehren, Referenden, Volksbefragungen, bürgerliche Gesetzesinitiativen, Misstrauensvoten. b) repräsentativ: Repräsentantenwahl per allgemeines und geheimes Wahlrecht mit gleichem Frauen- und Männeranteil c) kommunitär per Wahl. (…)
7. Religion: Bolivien ist ein laizistischer Staat, respektiert religiöse Vielfalt, Freiheit des Kultes und der Ausübung spiritueller Praktiken.
8. Sprachen: Offizielle Sprachen sind Spanisch und alle Sprachen der indigenen Nationen und Urvölker (…) Der Staat garantiert, schützt und fördert ihre Entwicklung in den Gebieten, wo sie gesprochen werden. (…)

(Übersetzung: Benjamin Beutler)

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