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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Der Gaucho lebt
Auf der Suche nach den Wurzeln eines nationalen Mythos

Nora Pester | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

In nahezu jeder argentinischen Familie, egal ob italienischer, chinesischer oder spanischer Herkunft, befindet sich im Bücherregal gleich neben der Bibel eine Ausgabe des nationalen Gaucho-Epos‘ „Martín Fierro“ von José Hernández. In einem Land, wo fast 90% der Einwohner von weißen Einwanderern abstammen, blüht seit gut 150 Jahren die Legende vom kühnen und freien Gaucho, in dem jeder Argentinier des 20. Jh. gern seinen Vorfahren wiedererkennen möchte. Er symbolisiert die Unabhängigkeit und Ursprünglichkeit, nach der sich der Porteño (Bewohner von Buenos Aires) in der Enge der Großstadt sehnt. Er ist das Sinnbild für den einzig wahren Argentinier.

Argentiniens großer Mythos, die Pampa, bedeutet im Quechua „das flache Land“. Sie erstreckt sich von Norden nach Süden über rund 1500 km und von Osten nach Westen über ungefähr 600 km, vom Atlantik bis zu den Anden. Es ist die Heimat des Gauchos, dem Mestizen, der als Bindeglied zwischen indianischer und europäischer Tradition von der großstädischen Zivilisation ebenso bedroht wird wie von der Isolation in der
Wildnis des Indios. Der berittene Viehhirte treibt riesige Rinderherden über die Pampa und ist berühmt für seine unglaubliche Geschicklichkeit mit den „boleadoras“ (drei an einem Seil befestigte Steine, die sich nach einem gekonnten Wurf um die Beine des Rindes wickeln und es bewegungsunfähig machen), dem Messer, Brandeisen und Lasso und die schon beinahe rituelle Zeremonie des Schlachtens und der Zerlegung des Fleisches. Bekleidet mit ausgebeulten knielangen Hosen, einem weiten Hut oder einer Baskenmütze, einem kleinem Halstuch, Sporen und einem scharfen Messer am Gürtel (welches beim Ausgehen durch ein Geldsäckchen mit Silbermünzen ersetzt wird) reitet der Gaucho, eine Kunst, die er wie kein anderer beherrscht, über die Estancia und die Prärie. Im Licht des Lagerfeuers endet der arbeitsreiche Tag des Gauchos mit einem asado (bei dem die Rinder einst am Stück gegrillt wurden) und Liedern über die unendliche Weite der Pampa. Der Gaucho singt gern und gut. In seinem traurigen Gesang philosophiert der „payador“ über das Leben, Tapferkeit, Männerfreundschaft und seine grenzenlose Freiheitsliebe. Früher hieß es, ein Gaucho müsse eine Kuh schlachten, wenn er sein Pferd irgendwo festbinden wolle. Heute existieren mehr Zäune als ihm lieb sein sollten.

Die nördlichen Provinzen Salta und Jujuy erinnern mit ihrer Landschaft an klassische Western-Filme. Von hier stammt auch der Gauchoführer und Unabhängigkeitsheld Martin Güemes. Man befindet sich im historisch ältesten Teil Argentiniens, denn hier gründeten die spanischen Eroberer von Lima und Portosí aus die ersten Siedlungen. Die argentinische Andenregion strahlt zum Teil einen beinahe mediterranen Charakter aus. Dürres Weideland wechselt mit üppigen Oasen und Weiden, wo Pappeln zwischen hohen Palmen stehen. Diese Region wird auch Cuyo genannt, was in der Sprache der Araukaner Sand bedeutet. Die Araukaner gehörten zu den Reiterstämmen des Südens und repräsentieren wahrscheinlich am ehesten den indianischen Einfluss in der Tradition des Gauchos, dem sie auch seinen Namen gaben. Sie siedelten südlich vom Rio Salado, wo die weite, von Salzsümpfen und Salinen erfüllte Grassteppe beginnt und in die Patagonische Hochebene übergeht. Die alten Araukaner besaßen eine Art „Halbkultur“. Sie betrieben Ackerbau (Mais, Bataten, Quinoa), züchteten Lamas und kannten die Töpferei, Weberei und Metallbearbeitung. Araukaner bewohnten vereinzelt liegende Blockhäuser und lebten in einem geregelten Staatswesen, das eine Einteilung des Landes in Distrikte und Provinzen, regelmäßige Volksversammlungen und ein hierarchisch gegliedertes Häuptlingssystem beinhaltete. Der moderne Araukaner passte sich mehr und mehr seinen östlichen Nachbarn, den Patagoniern und Pampastämmen, an. Nach dem Erwerb des Pferdes siedelte ein Großteil von ihnen jenseits der Anden, von denen ein Stamm, die Ranqueles, nomadische Jäger waren, während die chilenischen Araukaner sesshaft blieben und sich ganz der Viehzucht widmeten.

Als Magalhães 1520 als erster die Küste Patagoniens betrat, fand er die Eingeborenen noch zu Fuß und mit Pfeil und Bogen vor. 60 Jahre später sah sie Sarmiento bereits zu Pferde und mit der Bola in ihren Händen auf lederüberzogenen Holzsätteln und mit einfachen Sporen an den Füßen. Bestand die Bola zunächst noch aus in Leder eingenähten Steinkugeln, die je nach Gewicht sogar Tiere töten konnten, so verwendete man später auch Metallkugeln zur Jagd und als Kriegswaffe. Diese besaß jedoch nur eine Kugel aus einem angespitzten Stein, auch bola perdida genannt, weil er, wenn einmal geworfen, nicht wieder aufgehoben wurde. Man ernährte sich vorwiegend vom Wild der Steppe, den Guanakos (Lama-Art) und Straußen. Pferdefleisch wurde nur bei besonderen Anlässen verzehrt. Aus den gegerbten Fellen stellten die Frauen nicht nur Kleidung, sondern auch toldos, die beweglichen Zelte, her. Das wichtigste Kleidungsstück östlich der Anden war der weite Mantel, von Männern mit einem Lendenschurz, von Frauen mit einem übergroßen Rock getragen. Die Füße steckten in hohen Stiefeln, die sehr einfach aus dem Hautstück eines Guanakos an der Kniekehle der Pferde zugeschnitten wurden. Von den großen Fußabdrücken, die diese Stiefel hinterließen, soll auch der Name Patagón = „Großpfote“ herrühren, den spanische Einwanderer dem Land gaben. Die Araukaner trugen hingegen vor allem Wollkleidung peruanischen Stils. Der reiche Silberschmuck, der später zumeist aus Silberdollars bestand, ließ noch deutlich peruanische Einflüsse erkennen.

Als Reaktion auf die in den 60er und 70er Jahren des 19. Jh. zunehmenden Überfälle von räuberischen Pampaindianern auf Ansiedler und Grenzstädte ließ die argentinische Regierung 1880 durch General Roca die ganze Pampa von ihren Bewohnern „säubern“. Sie wurden teils nach Norden, hauptsächlich aber nach Süden über den Rio Negro zurückgedrängt und diese Grenzlinie durch Forts gesichert wurde. Argentinien hatte seine ohnehin spärlichen indigenen Wurzeln herausgerissen.

Seit der 2. Hälfte des 19. Jh. gewann der Gaucho durch seine verklärte Idealisierung einen bedeutenden Einfluss auf Literatur und Folklore, vor allem in Argentinien und Uruguay. Eine Indianerverehrung, wie sie während der Romantik in den anderen Ländern Lateinamerikas stattgefunden hat, kennt Argentinien nicht. Im Gegenteil, der Indio wird zum Inbegriff für Raub, Mord, Gesetzlosigkeit und das unheilbringende Wilde. Übrig blieb nur ein Grenzgänger zwischen den Welten: der Gaucho. Er stand für den brutalen Messerheld der Wildnis ebenso wie für den naiven, durch den gringo im Dschungel der Großstadt betrogenen Naturburschen. Er wurde gemeinsam mit seinem Feind, dem Indio, ausgelöscht und gleichzeitig zu Tode verehrt. Vielleicht gab es ihn ja auch nie wirklich, diesen Inbegriff von Freiheit und Ehre, von der Neuen Welt provoziert und missverstanden – wie armselig ist dagegen doch das Schicksal des nordamerikanischen Cowboy.

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