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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Der russische Bär in der lateinamerikanischen Selva – oder warum außenpolitische Dyaden Weltpolitik gestalten können

Heidrun Zinecker | | Artikel drucken
Lesedauer: 27 Minuten

Als ich, befragt nach meinen Wochenendplänen, einem Freund erzählte, ich würde einen Artikel über die russländisch-lateinamerikanischen Beziehungen schreiben, lachte der auf und meinte sarkastisch: “Das wird ja ein Kracher!” Das traf mich, und ich suchte nach einer Alternative: „Und wie würdest du eine Geschichte über den russischen Bären in der lateinamerikanischen Selva finden?“, fragte ich ihn. „Das stelle ich mir lustig vor: ich sehe da einen russischen Trickfilm vor mir, der im Amazonasgebiet spielt“, bekam ich zur Antwort. „Aber es wird wohl doch eher ein Dokumentarfilm mit historischen Szenen, denn er handelt von außenpolitischen Dyaden“, hörte ich mich sagen. „Meintest du Lianen?“, fragte mein Freund. „Nein“, sagte ich, „im Artikel geht es um Dyaden, auch wenn sie in manchem Lianen ähnlich sind. Außenpolitische Dyaden das ist ein Ausdruck für Außenpolitik in einer Beziehung zwischen zwei Staaten, während mit Außenpolitik sonst immer nur die Politik eines Staates nach außen gemeint ist. Außenpolitik setzt aber sich nur durch, wenn sie auf Gegenseitigkeit stößt, sich also in Dyaden trifft. Dann kann sie sogar Weltpolitik beeinflussen.“ „Und was hat das mit dem russischen Bär in der lateinamerikanischen Selva zu tun?“ Mein Freund schaute mich mitleidig an. Also gut, wenigstens der erste Teil der Überschrift möge seinem Wunsch entsprechen …und dann möge er einfach weiterlesen …

 

Für die Sowjetunion und eine Zeit lang auch für Russland war Lateinamerika nur zweit‐, ja drittrangiges außenpolitisches Terrain. „The Russians aren’t coming“, formulierte daher auch Wayne Smith (1992) den Titel eines der einschlägigen Bücher zum Thema. Doch das sollte sich ein Vierteljahrhundert später ändern. Auf einmal hieß es: „Russia’s growing presence in Latin America is cause of worry for U.S. and its allies“ (Foxnews Latino 25.03.15). Oder: „Moscow Challenges The Monroe Doctrine” (Global Research 16.07.16). Und sogar: „In Latin America, Russia and China Push New World Order“ (New American 29.7.14). Diese westlichen headlines sind drei bis fünf Jahre alt und stammen aus dem Kontext der westlichen Sanktionen gegenüber Russland nach dem Krim‐ bzw. Ukraine‐Konflikt 2014. Sie dokumentieren, wie alarmiert der „Westen“ damals war und wie schnell und erfolgreich sich Russland nach einer Alternative zu den westlichen Sanktionen umsah.

Recht schnell aber wurden die Überschriften auch wieder für nichtig erklärt: „Russia is losing Latin America“, schrieb Stephen Blank 2016, der zuvor noch die Gegenthese beschworen hatte. Angesichts seiner ökonomischen Krise habe Russland nun nicht mehr die Kraft, die Beziehung mit Lateinamerika zu stabilisieren, außerdem sei die lateinamerikanische pink tide im mismanagement ihrer linken Regierungen untergegangen. Und schließlich gewännen die USA ja Lateinamerika auch schon wieder zurück – die von Obama begonnene (aber nie zu Ende geführte H.Z.) Normalisierung ihrer Beziehungen mit Cuba sei dafür Beweis genug. War also alles nur ein kurzes Intermezzo, nicht der Rede und schon gar nicht eines Artikels wert?

Ein Blick auf die neusten headlines, die von 2019, offenbart das Gegenteil: die Tendenz der Annäherung zwischen Russland und Lateinamerika scheint wider allen Unkenrufen stabil zu sein: „The bear comes to the West” (theglobalamericans.org 2019), steht nun wieder zu lesen. Und Tom O‘Connor (2019) entdeckt gar ein „Cold War in the West“, um dem hinzuzufügen: „Russia comes to Latin America as U.S. Relations Fail.”

Vorgeschichte

Ob die jetzt wieder auflebende Beziehung zwischen Russland und Lateinamerika „basada en nostalgia” ist, wie Malamud 2013 vermutete, muss freilich bezweifelt werden. Denn sie war auch zu sowjetischen Zeiten nie komplikationslos. Ihre Relevanz stand gegenüber den Beziehungen mit dem arabischen Raum und Süd(ost)asien stets zurück. Beides hat sich neuerdings geändert. Dagegen, positive Kooperationserfahrungen mit der Sowjetunion als Ursache für eine enge Kooperation mit Russland überzubewerten, spricht zum Beispiel Venezuela, das mit der Sowjetunion keine Beziehungen hatte, mit Russland aber heute die in Lateinamerika intensivsten pflegt. Auch México, das eng mit der Sowjetunion kooperierte, aber sehr viel weniger heute mit Russland, steht für das Gegenteil. Cubas und Nicaraguas Enttäuschungen mit der Sowjetunion vor allem unter Michail Gorbačov und mit Russland unter Boris El‘zin können diesen Kausalfaktor ebenso falsifizieren. Die guten Verbindungen waren unter Gorbačov schon in sowjetischen Zeiten auf Eis gelegt worden, auf dem absoluten Tiefpunkt waren sie 1992 angelangt. Erst seit Präsident Vladimir Putin sind sie wieder intakt. Damit der Faktor “positive Kooperationsbeziehungen mit der Sowjetunion“ für das heute besonders gute Verhältnis mit Russland als kausal betrachtet werden könnte, müssten für Lateinamerika seit der Sowjetunion ununterbrochene, nicht enttäuschte traditionelle Beziehungen vorliegen. Das aber gilt (nur) für Brasilien und Argentinien. Zudem erfassen sie gerade die heute besonders intensiven Partnerschaften mit Venezuela und Cuba nicht.Primakov - Bild: Robert D. Ward

Hatten auch noch nach der Auflösung der Sowjetunion und der Neugründung der Russländischen Föderation Präsident Boris El‘zin und sein erster Außenminister Andrej Kozyrev in ihrem ungetrübten Drang nach „Westen“, darunter in die NATO und in die EU, die Beziehungen zu Lateinamerika vernachlässigt, änderte sich das 1996 mit dem neuen Außenminister Evgenij Primakov, der, noch unter El’zin, die Idee der “global multipolar order” verkündete und sich verstärkt Entwicklungsländern zuwandte. Primakov, von Haus aus Orientalist, setzte hierbei seinen Schwerpunkt zwar auf China und Indien, aber er entfaltete 1996/97 eine rege Reisetätigkeit auch in sieben lateinamerikanische Länder. Hier verbreitete er seine These von einer multipolaren Welt. Sie kam gut an. Zwar wurde Primakov 1999 von El‘zin abgesetzt, doch die militärischen NATO-Aktionen im Kosovo und die Bombardierung Belgrads waren von Moskaus Regierung als Warnsignal verstanden worden, dass Russlands Einfluss auf seinen historischen Bündnispartner Serbien in Gefahr war. Die Partnerschaft mit dem „Westen“ bekam Risse.

2000 wurde Vladimir Putin Präsident. Er favorisierte zunächst, wie zuvor schon El‘zin, noch einmal die Allianz mit dem „Westen“, aber schon inmitten einer „Multivektorenpolitik“, die nach Ost wie West und Süd wie Nord ausgerichtet war. Als sich aber die USA Putins Sonderrolle im eurasischen Raum widersetzten, den dieser als sein genuines geopolitisches Einflussgebiet betrachtete, und als sich die NATO in das Baltikum ausgedehnt hatte, sollte sich das ändern. Dies geschah in dem Maße, wie sich Putin oder Russland vom „Westen“ gedemütigt, missachtet, angegriffen oder in Gefahr bzw. – im Sinne der Theorie des Neorealismus – von der NATO geopolitisch in die Ecke gedrängt fühlte: In demselben Tempo wandte sich Putin nun China, aber auch dem globalen „Süden“, darunter Lateinamerika, zu. Eine seiner ersten Reisen als Präsident führte ihn nach Cuba, wo er die „diplomatische Eiszeit“ unter Gorbačov und E‘lzin bedauerte und dem Land als ersten Schritt 70 % der aufgelaufenen Schulden erließ.

Sah sich Putin ein vorletztes Mal 2001 im Zusammenhang mit 9/11 mit den USA in einer gemeinsamen Anti-Terror-Koalition, war der „Westen“, insbesondere die NATO, gerade zu diesem Zeitpunkt so sehr beschäftigt mit der eigenen Sicherheit, dass er Russland aus dem Blick verlor. 2003 kritisierte Russland den Irak-Krieg der USA, wusste sich aber hier immerhin noch eins mit Deutschland und Frankreich. 2007 hielt Russlands Präsident dann seine vielkritisierte generelle „Anti-West-Rede“ auf der Münchner Sicherheitskonferenz.Putin und Chavez - Bild: Eduard Pesov

In Lateinamerika fielen in diese Zeit die Wiederaufnahme der internationalen Initiative durch Venezuela nach längerer Abstinenz (weil anfangs ausschließlicher Konzentration auf innere Prozesse) und damit Putins Vereinbarung mit Hugo Chávez über enorme Waffenexporte nach Venezuela. Hinein spielten auch die – von den USA unterstützte – Verweigerung der Hedge Fonds, Argentinien umzuschulden und schließlich Brasiliens neues Verständnis seiner selbst als Brücke in den Nord-Süd-Beziehungen – allesamt Gründe für diese Staaten, sich nach alternativen Partnern und hier nicht nur nach China, sondern auch nach Russland umzuschauen. In der Zwischenzeit (2006) hatten sich auch die BRICS-Staaten als institutioneller Ausdruck multipolarer Ambitionen gegründet. Russland und Brasilien waren darin zentral. Brasilien strebte mit allen BRICS-Staaten eine strategische Partnerschaft an, das heißt auch mit Russland. 2008 wurde Cuba wieder einer der key partners von Russland, und zur gleichen Zeit fand auch Nicaragua, das gerade den US-Botschafter zur persona non grata erklärt hatte, weil die USA ihre Finanzierung für das Land gestoppt hatten, zurück zum „Giganten“ im Osten. Russlands außenpolitische Orientierung nach “Osten“ und „Süden“ fand in Lateinamerika Widerhall. Genau in dieser Zeit wurden die Interessenkoinzidenzen zwischen Russland und Lateinamerika sichtbar.

2008/9 gab es dann noch einmal, unter Bill Clinton bzw. Barack Obama, vonseiten der USA einen positiven „reset“ gegenüber Russland, den Russlands Präsident Dmitrij Medvedev dankbar aufnahm: Da standen für Russland wieder die USA und auch die EU im Vordergrund der Außenpolitik. Doch auch diese Episode dauerte nur kurz.

Im Kontext der westlichen Sanktionen gegenüber Russland nach der Krimkrise 2014 – die EU war bis dahin Russlands wichtigster Handelspartner, zog aber nun, in der Reaktion auf die Krise, an einem Strang mit den USA – wurde die Abkehr des „Westens“ von Russland, zumindest bis heute, unumkehrbar. Diesbezüglicher Lackmus-Test war die Abstimmung in der UN-Generalversammlung, die das Referendum zur Abspaltung der Krim von der Ukraine am 16. März 2014 für ungültig erklärte. Costa Rica gehörte als einziges lateinamerikanisches Land zu den Staaten, darunter auch Deutschland und Kanada, die die Resolution eingebracht hatten. Chile, Kolumbien, Perú, México, Panamá, Guatemala und Honduras schlossen sich ihr später an. Aber Bolivien, Cuba, Nicaragua und Venezuela stimmten dagegen. Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Ecuador und El Salvador enthielten sich. Von nun an griff Russland nach jeder Kompensationsmöglichkeit für westliche Embargopolitik. Am 27. Mai 2015 verkündete der russländische Außenminister Sergej Lavrov, dass Lateinamerika hierbei eine von Russlands Prioritäten sei. Seitdem wirbt das Land um den lateinamerikanischen Subkontinent – um alle seine Staaten, wobei nicht alle von ihnen das Werben auch erhören.

Die Intensivierung und Verbreiterung der dyadischen außenpolitischen Beziehungen zwischen beiden Weltregionen dauern also schon länger als die westlichen Sanktionen, mit denen sie aber den entscheidenden Impuls erhielten: Jene sind schon mit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre anzusetzen, diese begannen 2014. Die Beziehungen sind gegenseitig, weil sie nicht nur von Russland, sondern auch von Lateinamerika ausgehen, während die westlichen Sanktionen nur Russland betreffen, sieht man in Lateinamerika einmal von Venezuela und Cuba ab.

Seitdem sind in der Verbindung zwischen Russland und einer Reihe lateinamerikanischer Staaten kooperative dyadische außenpolitische Beziehungen mit hoher Qualität zu registrieren. Sie bestehen zum gegenseitigen Nutzen und erfüllen die Kriterien von Bündnis, Integration, Koordination und joint decision making nicht, sind aber mehr als bloße diplomatische Beziehungen, die Russland ohnehin mit allen Staaten Lateinamerikas eingegangen ist. Sie sind aber auch mehr als einfache Kooperation und sollen hier als „Tandem“, als „unzertrennliche Duos mit gleichem Ziel“, bezeichnet werden.

Russland schlug für solche Beziehungen den Terminus „(umfassende) strategische Partnerschaft“ vor. Doch diese ursprünglich für die EU und deren Außenbeziehungen geprägte Kategorie ist besetzt und bleibt vage. Denn es gibt einen „lack of understanding of the concept of strategic partnership. It has never been defined (…)” (Biscop/Renard 2010, 2). Oft besitzt „strategische Partnerschaft“ auch nur eine politische Labeling-Funktion, der keine – messbaren – Kriterien zugrunde liegen. Als „strategische Partnerschaft“ (vgl. z.B. Davydov 2016, 15) werden von Russland Kooperationen bezeichnet, die zwar unterhalb der Qualität einer Integration gepflegt werden, die aber dennoch hohe kooperative Standards besitzen, wobei nicht unbedingt viele Kooperationslinien und auch weniger Prioritätentreue als bei Bündnissen angestrebt werden. Cuba, Perú, Ecuador, Argentinien, Brasilien und Venezuela verwenden diesen Begriff für ihre Beziehungen zu Russland auch.

Es war Brasilien, mit dem Russland 2001 die erste „strategische Partnerschaft“ abschloss. Manche Länder, wie Perú und Ecuador, besitzen mit Russland eine „strategische Partnerschaft“, indes die Beziehungen sind zwar eng, aber nicht die engsten. Mit anderen Ländern wiederum, mit denen das Verhältnis sehr eng ist, wie etwa mit Nicaragua, gibt es keine „strategische Partnerschaft“. Insofern ist der Begriff „strategische Partnerschaft“ folglich nicht nur wenig aussagekräftig, er erfasst auch nicht all die lateinamerikanischen Staaten, deren außenpolitische Beziehung mit Russland von besonders hoher Qualität ist. Bei sehr vielen Ländern sind Charakter und Intensität der Beziehung mit Russland unklar, so etwa bei El Salvador, Guatemala, Honduras oder Paraguay, aber selbst bei Ecuador oder Bolivien. Chile, México, Costa Rica und Kolumbien haben das Werben Russlands um profunde Kooperation ignoriert oder abgelehnt.

BedingungsgefügeFlag map of Russia - Bild: Aivazovsky

Anders als Russland ist Lateinamerika kein Akteur der sogenannten high politics. Es befindet sich zudem in der unmittelbaren geopolitischen Interessenssphäre der USA. Russland hingegen liegt weit entfernt davon, und es ist, im Unterschied zu allen lateinamerikanischen Staaten, eine Großmacht. Zudem verhält es sich in seiner Hemisphäre so wie die USA in ihrer, aber Lateinamerika gehört nicht zu dieser, sondern zu jener. Für Lateinamerika gilt in Bezug auf seine außenpolitischen Partner, mit Ausnahme seiner heute nur noch sehr wenigen „links“ regierten Länder,: USA first, Europa second, China third, aber wenn alle drei Partner versagen, ist Russland als forth an der Reihe. Für Russland ist zu konstatieren: Europe first, China second, USA third und Lateinamerika forth. In ihrer jeweils vierten Option treffen sich also Russland und China.

Zwar überstrahlt in Russland der Pivot to Asia seine Beziehungen zu Lateinamerika, im Unterschied zu jenen ist dieser aber riskant. Denn China ist Russland nicht nur Partner, sondern auch Konkurrent. Beide Staaten sind frenemies (Fattibene 2015, 5) und nicht friends. Chinas Seidenstraße ist längst in Lateinamerika angekommen. Für letzteres ist China indes vor allem Rohstoffextraktor, auch wichtiger Handelspartner, aber kein Land, das hilft, Produktivitätsrückstände zu überwinden. Was den in Lateinamerika eher spärlichen autochthonen Industriesektor betrifft, ist China übermächtiger Konkurrent. Es ist für beide Weltregionen, für Russland wie für Lateinamerika, kein unkomplizierter Partner. Die vierte Option ist also in Lateinamerika wie in Russland dann an der Reihe, wenn die beiden ersten Optionen nicht mehr funktionieren bzw. nicht verlässlich sind.

Strategischer JokerSüdamerika, Karte - Bild: SiBr4

Für Russland wie für Lateinamerika ist die vierte Option Mittel, eigene Autonomie von der Supermacht USA und von China zu vergrößern. Sie ist jeweils ein doppelter Joker: ein Substitut für den untreuen „Westen“, aber auch für das nicht verlässliche China. Es ist ein Joker, der mehr ist als ein Lückenbüßer: ein strategischer Joker. Er ist strategisch, weil er eine stabil verfügbare Ressource ist, die nach Belieben hervorgeholt werden kann, immer dann, wenn die beiden traditionellen außenpolitischen Hauptvektoren Russlands und Lateinamerikas, der „Westen“ und/oder Asien mit China, versagen oder nicht ausreichen.

Das heißt: Zum ersten soll der Joker in Krisensituationen die jeweiligen außenpolitischen Hauptvektoren, den „Westen“ und China, ergänzen, zum zweiten dürfte er Russland wie Lateinamerika den grundsätzlichen internationalen Manöverspielraum erweitern und zum dritten kann damit für diese beiden Weltregionen das Potenzial entwickelt werden, zusammen mit anderen Weltregionen (im Mittleren Osten und Afrika) als südliche bzw. östliche Alternative zum „Westen“ und zu Asien zu avancieren. In Russlands Augen scheint Lateinamerika im Unterschied zu anderen Staaten des „Südens“ für diesen Part deshalb besonders geeignet zu sein, weil es politisch stabiler und ökonomisch relevanter ist als Afrika und der Mittlere Osten. Was beide eint: Russland wie Lateinamerika sind nicht nur in der Weltpolitik, sondern auch in der Weltökonomie subordiniert. Daraus entstehen politische und politökonomische Interessenkoinzidenzen.

Politökonomische Interessenkoinzidenz

Politökonomisch gemeinsam ist beiden Regionen das Streben nach wirtschaftlicher Autonomie insbesondere vom „Norden“ bzw. „Westen“. Dies ergibt sich aus dem bestehenden strukturellen Herrschaftsverhältnis des „Westens“ bzw. „Nordens“ gegenüber Lateinamerika, aber letztlich auch gegenüber Russland. Es gründet auf einen – strukturell begründeten – chronischen Produktivitätsrückstand beider Regionen und den entsprechenden Produktivitätsvorsprung des „Westens“ bzw. „Nordens“, der den „Süden“ und „Osten“ in besonderer Weise von den Weltmarktpreisen für Rohstoffe abhängig gemacht.

Russland wie Lateinamerika schickt sich an, das catching up mit den USA aufzunehmen, auch wenn ihnen dabei bisher wenig Erfolg beschieden war. Im Vergleich zu den USA sind sie jedoch nach wie vor „secondary powers“ oder „second-tier-states“. In beiden Regionen ist noch immer der Rohstoff- oder Agrarexport entscheidende Einnahmequelle. Gerade für Lateinamerika wird Rohstoffexport im „Paradigma“ des Neo-Extraktivismus bei „richtiger“ Verteilungspolitik sogar als Stärke interpretiert. Importsubstituierende Industrialisierung ist in Lateinamerika gescheitert. In Russland wird sie gerade erst neuentdeckt. Als Rentenökonomien werden beide Weltregionen von im Grunde ähnlich operierenden Staatsklassen gelenkt. Der „Süden“, darunter Lateinamerika, und der „Osten“ müssen zur eigenen Entwicklung erreichen, dass seine Industriegüter systematisch auch im „Norden“ gekauft werden. Das aber haben bisher weder Russland noch Lateinamerika geschafft. Es ist fraglich, ob Außenhandelsbeziehungen ausschließlich innerhalb des „Südens“ oder mit dem „Osten“ überhaupt komparative Kostennachteile gegenüber dem „Norden“ kompensieren können. Anzunehmen ist vielmehr, dass hier lediglich abgefedert werden kann.

Weltpolitische Interessenkoinzidenz

Weltpolitische Interessenkoinzidenzen können leichter als politökonomische in gemeinsames Handeln überführt werden: Durch gemeinsame Weltpolitiken können Kräfteverhältnisse, ja Strukturen im internationalen System und damit subordinierte Positionen geändert werden. Als Prämisse soll gelten: „(…) countries are more likely to cooperate the more similar their interests“. Dies „requieres some way of determining their interests independently of their cooperative actions” (Frieden 1999, 40). Für solche gemeinsame Interessen sind im Jargon im Fach der Internationalen Beziehungen drei Begriffe, besser gesagt, ihre politischen Inhalte, zentral: Autonomie, Multipolarität und Balancing. Diese Begriffe sollen vorab geklärt werden:

Autonomie

Autonomie vergrößert die Chancen auf Sicherheit und Entwicklung. Kupchan/Mount (2009, 9) nennen eine inklusive Weltordnung „autonomy rule“. Autonomie will zu allererst die Möglichkeit ausschließen, „to push a certain form of government on other societies“. Denn das „would be to impose a type of unfreedom“ (ebd.). Autonomie soll hier als Leitfigur einer sich an sie anschließenden Ursachenkette gelten.

Multipolarität

Die Autonomie Lateinamerikas wie Russlands kann über Multipolarität besser gewährleistet werden als in einer unipolaren Welt. Beruht, wie heute mit den USA, Unipolarität auf der Dominanz einer Macht im Internationalen System, fußt Multipolarität auf der von mindestens drei Mächten, zwischen denen die Macht ungleich verteilt sein kann. Beide Partner, Russland und Lateinamerika (hier mit Cuba, Venezuela, Bolivien, Uruguay, Ecuador und Nicaragua mindestens sechs Staaten, und auch Brasilien und Argentinien waren vor Jair Bolsonaro und Mauricio Macri dabei), sehen multipolare Weltpolitik als Mittel an, eigene Autonomie zu stärken. Russland verwendet dafür seit seinem außenpolitischen Konzeptpapier von 2013 den Begriff „polyzentrisch“ („полицентричный“, Концепция 2013), der nichts anderes meint als “multipolar”, so wie ihn schon Primakov benutzt hatte.

Zwar werden von beiden Weltregionen auch die USA und die EU als Pole einer multipolaren Welt anerkannt, aber deren jeweiliges „Polgewicht“ soll durch eigene Stärke zumindest relativ dezimiert werden. Was Lateinamerika angeht, so wird von den Befürwortern des Konzepts i.d.R. und vor allem Brasilien als möglicher Pol innerhalb von Multipolarität angeführt, manchmal aber auch Argentinien oder México, oder lateinamerikanische regionale Bündnisse. Statt Multipolarität nennt Acharya (2009, 7) das dann „regiopolarity“.

Balancing

Balancing zugunsten einer multipolaren Weltordnung ist das Instrument, mit dem die neuen Polaspiranten ihre Autonomie vom Noch-Unipol USA erreichen können. Balancing bedeutet ein „arrangement of affairs so that no State shall be in a position to have absolute mastery and dominate over others“ (Emmerich de Vattel, zitiert in: Levy 2004, 32). Anders als bei Autonomie geht es beim Balancing um mehr als bloßes Streben, denn um einen strukturellen Zustand. Balancing kann als soft- und als hard-Balancing erfolgen.

Ausgerüstet mit diesen Begriffen, soll jetzt versucht werden, die zu einer hohen Qualität dyadischer außenpolitischer Beziehungen zwischen Russland und einer Vielzahl lateinamerikanischer Staaten, das heißt zu außenpolitischen Tandems führende politische Interessenkoinzidenz herauszuarbeiten:

Diese Interessenkoinzidenz bildete sich in dem konkreten historischen Moment heraus, als

  • bei beiden Weltregionen mehrere Kooperationsversuche mit den USA gescheitert oder abgewiesen worden waren,

  • die Sicht auf die USA als einem „benign hegemon“, die daran gebunden ist, dass der Hegemon bewundert wird, verschwand und von Nicht- bzw. gar Antiamerikanismus ersetzt wurde,

  • der „Westen“ begann, sich nicht mehr nur in Lateinamerika, sondern auch in Russland in die inneren Angelegenheiten einzumischen bzw. in geopolitische Interessensphären einzudringen, mithin als in beiden Regionen der Standarddiskurs lautete: Nichteinmischung in innere Angelegenheiten,

  • auch die EU Lateinamerika (ab 2004 wurde von der EU die „strategische Partnerschaft“ mit Lateinamerika aufgegeben) und Russland (spätestens nach der Krim-Krise 2014) zu vernachlässigen begann,

  • das Weltordnungskonzept einer multipolaren/polyzentrischen/multizentrischen Welt als konkrete Strategie formuliert war;

dies

  • mit dem außenpolitischen Ziel einer radikalen Autonomie von den USA, die sowohl Dependenz als auch Verletzung von Interessensphären ausschließt,

  • die als Multipolarisierung gegen Unipolarität in der Weltordnung nun auch praktisch umgesetzt wird,

  • und zwar über Balancing (mindestens soft‐Balancing, zuweilen, bei Russland, auch hard-Balancing) zumindest den USA gegenüber.

Fidel Castro und Vladimir Putin - Bild: Presidential Press and Information OfficeAls all diese Bedingungen gegeben waren, prägte sich sowohl bei Russland als auch bei einer Reihe lateinamerikanischer Staaten die weltpolitische Präferenz eines joint balancing towards a multipolar world heraus, erreichbar u.a. über die entsprechende Profilierung einer hohen Qualität von dyadischer Außenpolitik. Gelänge es Russland und Lateinamerika, über ihre gegenseitige Außenpolitik eine solche multipolare Weltordnung zu etablieren, wären die USA keine Supermacht, kein Hegemon, mehr. Allein schon deshalb geht es in den Beziehungen zwischen Russland und Lateinamerika um weit mehr als nur um eine kurzfristige Kompensation für aktuelle Defizite in einer bisherigen Außenpolitik. Es handelt sich vielmehr um einen Versuch einer weltpolitischen Neuordnung, auch wenn diese noch in weiter Zukunft liegen mag. Es bleibt die Frage:

Wer und wer nicht?

Es haben jedoch nicht alle lateinamerikanischen Staaten Russlands Werben um besonders enge Kooperation erhört, und nicht alle wollen ein joint balancing towards a multipolar world. Kolumbien, Costa Rica, Honduras, Guatemala und Panamá wollten das nie. Andere Staaten, wie Argentinien und Brasilien, taten über lange Zeit dafür fast alles, doch unter ihren jetzigen rechtskonservativen Präsidenten Macri und Bolsonaro gewinnt eher Ambivalenz Raum: sowohl dem Konzept der Multipolarität gegenüber als auch im Verhältnis zu Russland. Von Macri ist allerdings bekannt, dass er gerade in politisch höchster Not ist, und in den argentinischen Vorwahlen hat sich gezeigt, dass die multipolaritäts- und russlandfreundliche Cristina Kirchner alle Chancen auf das Präsidentenamt hat. Bolsonaro hingegen, so die Vermutung, wird wohl länger im Amt bleiben und sich innerhalb der Ambivalenz „Nähe zu den USA“ und/oder „Multipolarität/Nähe zu Russland“ bewegen müssen.

In einer überblicksartigen Zusammenfassung kann man die Qualität der außenpolitischen Beziehungen zwischen Russland und den lateinamerikanischen Staaten wie folgt einschätzen:

  • Sehr hohe Qualität der Kooperation (Tandem-Beziehung): Cuba, Nicaragua, Venezuela, Brasilien und Argentinien (die beiden letzteren lange Zeit, jetzt unter Vorbehalt).

  • Hohe Qualität der Kooperation: Uruguay, Ecuador, Bolivien und Perú.

  • Mittlere Qualität der Kooperation: El Salvador, Chile und México.

  • Niedrige Qualität der Kooperation (Verweigerer): Kolumbien, Costa Rica, Honduras, Guatemala und Panamá.

  • Unklare (isolationistische?) Fälle sind Paraguay, die Dominikanische Republik und Haiti.

Indikatoren für diese Zuordnung der Fälle in die zwei Großgruppen mit je zwei Subgruppen sind: 1) explizite Abstimmung der außenpolitischen Gesamtstrategie (z.B. Verweise darauf in Regierungsgesprächen), 2) Kompatibilität der Ziele (z.B. über Analyse von Regierungsdokumenten nach ähnlich lautenden Zielen), 3) Dauer und Stabilität/Konstanz (Zeitspanne zwischen Anfangs- und Endzäsur sowie Brüche), 4) Dimension bzw. Breite der von den Dyaden berührten Politikfelder, 5) in den Politikfeldern erreichte Intensität/Frequenz/Dichte (Häufigkeit der Treffen höchstrangiger Politiker, aufgewendete finanzielle Ressourcen für Kooperation, Anzahl und Effizienz gemeinsamer Kommissionen zu Sachthemen, Handelsbilanzen) und 6) Grad der Institutionalisierung (gemeinsame Institutionen der Kooperation und multipolaren Außenpolitik). Für jeden der sechs Indikatoren werden Noten vergeben. Nach ihnen werden die Fälle in vier Subgruppen (sehr hohe Qualität der Kooperation: 8-7, hohe: 6-5, mittlere: 4-3 und niedrige: 2-0) eingeordnet. Das (qualitative) Verfahren, das zu o.g. Klassifikation führt, kann hier aus Platzgründen nicht weiter verfolgt werden.

Warum oder warum nicht?

Es ist jedoch in der Literatur bis jetzt völlig offen geblieben, warum einige lateinamerikanische Staaten Kooperationsschübe zugunsten einer (sehr) hohen Qualität ihrer Kooperation mit Russland in Gang setzten, andere, die Verweigerer, aber nicht. Wo sind die Gründe dafür zu suchen?

Hier kommt es natürlich auf das Kausalitätsverständnis an: Man könnte zum Beispiel behaupten, es seien bei jedem der lateinamerikanischen Länder, die eine besonders lose oder enge Partnerschaft mit Russland haben, jeweils völlig unterschiedliche Faktoren, die zum jeweiligen Ergebnis geführt haben. Man könnte aber auch, in einem etwas anspruchsvolleren Kausalverständnis, voraussetzen, dass es sowohl für die Gruppe der Verfechter als auch für die der Verweigerer enger Beziehungen jeweils allgemeingültige Faktoren gibt, die auf alle Staaten der jeweiligen Gruppe zutreffen, die aber auf die entgegengesetzte Gruppe auf keinen Fall zutreffen dürfen (Gegencheck). Für noch größere Stringenz könnte man fordern, dass die gleichen Ursachen nicht nur bei allen lateinamerikanischen Ländern mit besonders enger kooperativer Außenpolitik zu Russland gegeben sind, sondern auch bei Russland selbst. Das ist kausalanalytisch sehr anspruchsvoll, soll hier aber versucht werden:

Dazu wird davon ausgegangen, dass es notwendige und hinreichende Kausalfaktoren gibt, wobei die notwendigen Faktoren unverzichtbar sind für das betreffende Ergebnis, aber nicht unbedingt allein dazu führen müssen. Hinreichende Faktoren führen hingegen allein und zwangsläufig zum Eintreten des Ergebnisses. Notwendige Faktoren aber können sich in einer kombinatorischen Logik mit anderen (notwendigen) Faktoren verbinden und sind dann zusammen hinreichend.

Zunächst seien die Faktoren genannt, die als allein-hinreichend auszuschließen sind:

Erstens: Hier ist zunächst die von Malamud erwähnte Nostalgie in Bezug auf eine Wiederholung der in den gegenseitigen Beziehungen zu Zeiten der Sowjetunion gewonnenen positiven Erfahrungen lateinamerikanischer Länder anzuführen. Es wurde schon angedeutet, dass das problematisch ist: So kann man sich zum Beispiel nicht auf die positive Erinnerung an die sowjetischen Zeiten unter Stalin oder auch unter Gorbačov berufen, weil das Verhältnis (wie später auch das unter El‘zin) von einem Desinteresse vonseiten des „Giganten“ im „Osten“ gekennzeichnet war. Das sowjetische Interesse für Lateinamerika begann erst mit Nikita Chruščov und Atanas Mikojan und verebbte unter Gorbačov. Die Strategie der Sowjetunion beruhte in der Regel sowieso stets auf dem Bestreben, die USA in Lateinamerika zu isolieren, auf deren Fehler zu warten, jedoch ohne deren National-Security-Toleranzgrenze zu überschreiten. Von lateinamerikanischer Seite wurde die Sowjetunion lediglich als ein Korrektiv gesehen, dessen man sich bediente, um gegenüber den USA Unabhängigkeit zu demonstrieren. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Sowjetunion und Lateinamerika hielten sich in Grenzen, weil die Wirtschaften beider Weltregionen nicht komplementär und für Handel wenig geeignet waren.

Zweitens: Wie die Geschichte zeigt, waren in Lateinamerika auch linke Regime kein Garant für stabile Beziehungen zwischen Lateinamerika und Russland, denkt man daran, wie schnell die Beziehungen mit Cuba und Nicaragua erkalteten, als die Präsidenten der Sowjetunion bzw. Russlands Gorbačov und El‘zin hießen. Und mit Argentinien und Brasilien waren es rechte Regime, darunter Militärdiktaturen, die sich als besonders stabile Partner der Sowjetunion erwiesen.

Drittens: Auch wirtschaftliche Erwägungen spielen eine zweitrangige Rolle für den Stand der Beziehungen: Lateinamerika ist mit nur 1,2 % der Exporte nach Russland nun wirklich kein zentraler Wirtschaftspartner für dieses Land. Dafür, dass es in der Beziehung mit Russland um vorrangig wirtschaftliche Interessen geht, spräche letztlich nur Brasilien, das sowohl bei Export als auch Import nach bzw. von Russland weit vorn in der Lateinamerika-Statistik steht, gefolgt von Venezuela. Doch die Tandem-Partner Cuba und Nicaragua sind, wirtschaftlich gesehen, für Russland unwichtig. Von lateinamerikanischer Warte ist das nicht anders: Brasiliens Top-Import-und-Export-Partner sind China, die USA und Argentinien. Auch danach ist Russland noch lange nicht zu sehen. Bei Cuba und Nicaragua sieht das nicht anders aus. Beide Länder haben zudem über lange Zeiträume gezeigt, dass auch sie ohne enge wirtschaftliche Kooperation mit Russland zurechtkommen.

Viertens: Man könnte die geopolitische Lage bzw. geostrategische Bedeutung als Bedingung für ein besonders enges oder fernes Verhältnis anführen. Doch, wie gezeigt, liegt nur Lateinamerika in der unmittelbaren geopolitischen Interessenssphäre der USA, Russland dagegen nicht. Von Russland als geostrategisch (darunter militärisch) relevant werden auch nur jene lateinamerikanischen Länder eingeschätzt, die geographisch nahe bei den USA liegen oder sich dort befinden, wo strategische Rohstoffe gefördert werden können. Ersteres trifft sicher auf Nicaragua, Cuba und Venezuela zu, letzteres auf Venezuela, Brasilien und Argentinien. Aber auch für Panamá (für ersteres) und Kolumbien (für beides) ist das symptomatisch, doch diese beiden Länder sind Verweigerer.

Fünftens: Es bietet sich auch der Faktor „(keine) bündnispolitische Verpflichtungen mit den USA“ als Ursache für Verweigerung bzw. Tandem-Interesse an. Von den Verweigerern enger Beziehungen mit Russland ist México auf NAFTA bzw. UMSCA und damit auf die USA festgelegt, und Chile, Kolumbien und México sowie Costa Rica und Panamá sind Mitglieder der mit den USA kooperierenden Pacific Alliance. Doch zu dieser gehört eben auch Perú, das mit Russland wiederum ein enges Verhältnis hat, wenn auch keine Tandem-Beziehung. Von der Empirie abgesehen, besitzen enge Bündnisbeziehungen zu den USA als Ursache für das Ignorieren russländischen Werbens methodisch den Hauch „umgekehrter Tautologie“. Sie können nicht ursächlich sein, weil hier die vermeintliche Ursache auf derselben Ebene liegt wie die Folge und ihr inhaltlich nicht vorgelagert ist.

Aber es gibt, wie oben herausgearbeitet, durchaus eine Kausalkombination, die auf alle lateinamerikanische Partnerstaaten in einer gegenseitigen Tandem-Beziehung mit Russland zutrifft und folglich auf die dyadischen außenpolitischen Beziehungen mit (sehr) hoher Qualität. Sie lautet:

(gemeinsames) Streben nach politischer Autonomie Streben nach multipolarer Welt (gemeinsames) Balancing gegenüber den USA (soft-Balancing, wenn nicht hard-Balancing, hier: politisch, weniger militärisch)  hohe Qualität der kooperativen außenpolitischen Beziehungen.

Doch diese Ursachenkette ist zwar notwendig, allein aber nicht hinreichend für Tandem-Beziehungen. Denn z.B. trifft sie auf Bolivien, Uruguay und Ecuador auch zu, jene gehören aber nicht zu den Tandem-Staaten. Der qualitative Unterschied zwischen der Tandem-Gruppe und der Gruppe mit „nur“ hoher Qualität der Kooperation mit Russland begründet sich mit der Kausalkette, darüber hinaus aber auch noch mit zusätzlichen Kausalfaktoren. Dies sind die Faktoren, die zuvor aus dem Kausalset der notwendigen Faktoren erster Ordnung ausgeschlossen wurden. Sie können aber nun als in zweiter Ordnung notwendig hinzukommen und in der Kombination mit den Faktoren der Kausalkette hinreichend werden. In Nicaragua mag mit dem avisierten Kanal ein geostrategisches Interesse hinzukommen, in Brasilien aufgrund seiner Export- und Import-Kapazität ein wirtschaftliches, und bei Cuba und Venezuela könnten bestimmte Ähnlichkeiten des politischen Regimes eine Rolle spielen usw. usf. Das sind freilich nur wenige Beispiele. Welche zusätzlichen Faktoren das insgesamt und in jeder konkreten Dyade sind, kann hier nicht weiter gezeigt werden. Aus beidem, Kausalkette und zusätzlichen Faktoren, ergibt sich dann die oben avisierte kombinatorische Kausalität.

Was also haben außenpolitische Dyaden mit dem russischen Bären in der lateinamerikanischen Selva und dann auch noch mit Weltpolitik zu tun? Sie mögen tatsächlich so etwas wie Lianen sein „Lianen“ oder eben ein konstitutiver „Beziehungskitt“ einer neuen, multipolaren Weltordnung. Denn deren Pole allein, selbst wenn sie stark sind, könnten jene ebenso wenig wie Internationale Organisationen zusammenhalten, geschweige denn etablieren. Die dyadischen Beziehungen zwischen Russland und Lateinamerika haben sich im letzten Jahrzehnt so grundlegend erneuert, dass sie schon jetzt einen wichtigen Kontrapunkt zur Unipolarität der Welt unter der Hegemonie der USA setzen. Multipolarität der Welt ist allerdings bei weitem noch nicht erreicht, aber und immerhin sie ist auf dem Wege. Das sieht auch die EU so. Allein, was ihre Beziehungen sowohl zu Lateinamerika als auch zu Russland betrifft, könnte sie von den beiden und deren Tandem-Beziehungen lernen. Kein Zweifel, sie würde in ihnen willige Partner finden.

 

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Zitierte Literatur:

Acharya, Amitav (2009): Regional Worlds in a Post‐hegemonic Era. In: Cahiers de Spirit, Spirit Working Papers No. 1, June.

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Bildquellen: [1] Robert D. Ward_; [2] Eduard Pesov_; [3] Aivazovsky_; [4] SiBr4_; [5] Presidential Press and Information Office_

 

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