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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Santería in Kuba
Zwischen religiöser Alltagskultur und touristischem Exportschlager

Claudia Rauhut | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Santería-Altar. Foto: Esther_DittmannWeiß gekleidete Menschen mit bunten Perlenketten, Opfergaben an Bäumen und Straßenkreuzungen, üppige Altäre in kubanischen Haushalten, Trommelzeremonien in Solares, ausschweifende Folklorespektakel, afrokubanische Musik und religiöse Attribute in Dollarshops und Hotels – Santería boomt und ist in der gegenwärtigen kubanischen Gesellschaft ein wichtiger Identifikationsfaktor für eine wachsende Anhängerschaft geworden.

Ihre Geschichte jedoch zeichnet hinter der heute folklorisch anmutenden Vitalität den schicksalhaften Weg tausender afrikanischer Sklaven nach, v. a. aus Yoruba-Gruppen des heutigen Nigeria, die in ihrer unfreiwilligen neuen karibischen Heimat auf Zuckerrohrplantagen, beim Bau der Hafen- und Festungsanlagen sowie im städtischen Dienstleistungssektor ums Überleben kämpften. Unter dem Druck der spanischen Kolonialgesellschaft nahmen sie formell den katholischen Glauben ihrer Dienstherren an; verehrten im Verborgenen jedoch weiter ihre afrikanischen Götter.

Als Produkt dieser Verschmelzung von Glaubensinhalten und -formen, die der kubanische Intellektuelle Fernando Ortiz in den 1940er Jahren als Transculturación bezeichnete, entstand im 19. Jahrhundert die Regla de Ocha, auch Santería (hergeleitet von culto a los santos) genannt. Sie beruht auf einer kultischen Verehrung der Orishas aus der Yoruba-Religion, die als mythologische Gestalten mit Naturelementen, Charaktereigenschaften sowie mit einer Symbolik von Attributen, Farben und Geschlecht assoziiert werden. Als persönliche Schutzgottheiten treten z.B. Ochún (Göttin der Weiblichkeit, der Liebe, Bewohnerin der Flüsse), Changó (Gott des Feuers, der Trommeln, der Männlichkeit), Yemayá (Herrscherin des Meeres, Urmuttergestalt) und Obatalá (Gott der Weisheit, des Friedens) in Erscheinung. Die Götter sprechen durch verschiedene Orakelsysteme zu den Menschen oder richten durch besessene Medien während einer religiösen Zeremonie Botschaften über Krankheit, Heilung, Heirat an die religiöse Gemeinschaft.

Als Mittler zwischen Mensch und höheren Wesen fungieren die Santeros, Santeras und Babalaos, die durch aufwändige Initiationsrituale religiöse Ränge erhalten und nach dem Prinzip religiöser Patenschaften eigene religiöse Familien und soziale Verwandtschaftsnetze gründen. Die padrinos (Paten) führen ihre ahijados (Patenkinder) stufenweise durch verschiedene Rituale in die Geheimnisse der Religion ein; geben Schutzgeleit gegen ökonomische und soziale Verpflichtungen. Die Orishas besitzen trotz ihrer höheren Kräfte menschliche Eigenschaften und lassen sich durch Opfergaben und ausschweifende Feste wohl stimmen. Im Austausch verleihen sie ihren Anhängern Aché, die lebensnotwendige Vitalkraft und sind ihnen eine Stütze im krisengeschüttelten kubanischen Alltag. Immer wieder wird die pragmatische und effiziente Bedeutung im Alltag betont, mit der sich die Santería von anderen Konfessionen unterscheidet.

Bis weit ins 20. Jahrhundert haftete der Santería ein Negativ-Stigma der schwarzen Magie, Hexerei, Obszönität, kurz der afrikanischen Rückständigkeit an, von der sich die weiße Oberschicht in einem rassistischen Überlegenheitsgefühl distanzierte. Die koloniale und später republikanische Repressionsgewalt scheute sich nicht vor gewaltsamen Übergriffen und alltäglichen Diskriminierungen von Schwarzen. Ihre Lage verbesserte sich erst durch grundlegende gesellschaftliche Integrationsmaßnahmen der kubanischen Revolution um 1959/60, die die afrokubanische Bevölkerung mit Wohnungen, Arbeit und politischen Ämtern ausstattete.

Santería in Cuba. Foto: Esther DittmannAuf dem Gebiet der kulturellen Integration verfolgte die sozialistische Kulturpolitik eine Doppelstrategie. Afrokubanische Traditionen wurden als Tänze und Gesänge erforscht; ihre Musikinstrumente, Kostüme und religiösen Artefakte museal archiviert. Ihr religiöses Potential dagegen musste aufgrund des dialektischen Ausschlussprinzips zwischen Religion und Marxismus zugunsten einer folklorischen Interpretation umgedeutet werden.

Fortan sah man Santería-Traditionen nicht als Religion, sondern als nationales Kulturerbe auf großen Theaterbühnen. Die Betonung der künstlerischen und kulturellen Aspekte sollte die Santería „demystifizieren“, wie es in einer Erklärung der Kommunistischen Partei von 1975 heißt. Religion galt gemäß der atheistischen Maxime als fortschrittshemmendes Potential der Gesellschaft und wurde aus dem politisch-öffentlichen Leben verbannt. Mit dieser Regel arrangierten sich die Santería-Anhänger und beschränkten die Ausübung ihrer Religion auf private Räume.

Trotz punktueller Einschränkungen hatten Anhänger der Santería im Gegensatz zur katholischen Kirche weniger Probleme, sich mit der Politik und Ideologie der sozialistischen Regierung zu identifizieren bzw. sich loyal zu zeigen. Eine Verfassungsänderung von 1992 erlaubte schließlich Gläubigen aller Konfessionen offiziell eine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, was zu einer nochmaligen Konsolidierung des sozialistischen Systems führte.

Die Santería erlebt seit den 1990er Jahren einen massiven Zulauf. Die unbestreitbar psychosoziale und therapeutische Komponente liegt in der erwünschten Intervention der Orishas, die zu seelischem Gleichgewicht, zu Prosperität und Vertrauen in die Gestaltung des persönlichen Schicksals verhelfen. Gottheiten wie Elleguá, der neue Wege und Perspektiven eröffnet, oder San Lázaro, der Gott der Armen und Kranken, der aber auch für Wohlstand sorgt, werden heute mehr denn je verehrt.

Als Reaktion auf die wirtschaftliche Krise entdeckte auch der Staat die Santería als touristisches Produkt und förderte die Vermarktung von afrokubanischer Folklore im In- und Ausland. So erleben Kuba-Reisende heute Folkloreshows und aufbereitete Santería-Zeremonien, auf Wunsch besuchen sie Santeros oder Babalaos in ihrem privaten Tempelhäusern, lassen sich ihr Orakel lesen oder erlernen an renommierten Tanzschulen die Tänze und Gesänge der Orishas.

Parallel zur staatlichen Tourismusindustrie entstanden Mitte der 1990er Jahre auf kommunaler Ebene sogenannte Proyectos Comunitarios, in denen Basisorganisationen kulturelle Traditionen revitalisieren. Die Repräsentation afrokubanischer Folklore sollte wieder in den Barrios von Havanna lebendig werden. Als Motivation für die Beteiligten steht nicht zuletzt der Erwerb bescheidener Nebeneinkünfte. Für kubanische Santeros und Babalaos wiederum bedeutet ein ausländischer ahijado in ihrer religiösen Familie neben Prestigegewinn eine dauerhafte sozio-ökonomische Absicherung. Andere sehen diese Entwicklung mit Skepsis und beklagen sich über steigende Preise für religiöse Konsultationen und Initiationen, über die allgemeine Kommerzialisierung ihrer „Überlebensreligion“ und Scharlatanerie.

Wissenschaftler und religiöse Autoritäten befürchten in der unkontrollierten horizontalen Verbreitung die Gefahr der Ausdünnung religiöser Inhalte und die Verknappung des rituellen und liturgischen Repertoires.

Die Santería hat inzwischen weltweit zehntausende Anhänger. Trotz aller Kritik wird diese globale Ausbreitung von den religiösen Protagonisten mehrheitlich befürwortet, bedeutet sie doch nicht zuletzt eine späte Rehabilitierung des afrikanischen Erbes. Die Santería hat sich im Wandel ihrer Geschichte immer an historische und gesellschaftliche Konjunktionen angepasst und wird somit auch ihren Weg in das Zeitalter virtueller Kommunikation, ökonomischer Globalisierung und kultureller Neuschöpfungen finden.

Original-Beitrag aus: Cuba Sí Revista vom 02/2005, S. 11.Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Zeitschrift.

Fotos: Esther Dittmann

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