Jorge Luis Borges – ein Klassiker der Literatur
1977 hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, Jorge Luis Borges zu lesen. Es war eine Anthologie, bestehend aus Gedichten, Erzählungen und Essays. Im gleichen Jahr wurde Jorge Luis Borges 78 Jahre alt und veröffentlichte die „Nuevos cuentos de Bustos Domecq“ (Neue Geschichten von Bustos Domecq) gemeinsam mit Bioy Casares, die „Historia de la noche“ (Geschichte der Nacht) und „Rosa y azul“ (Rose und blau). In Nikaragua begann ein neuer Abschnitt des bewaffneten Kampfes zwischen den Sandinisten und der Armee Somozas. Es waren schwierige Zeiten, Kriegszeiten. Borges‘ Anthologie fiel mir durch die Freundschaft mit einer Schwägerin meines Vaters in die Hände, die Dozentin für Literatur an der Universität war. In Nikaragua ein gutes Buch zu bekommen, war damals überaus schwierig, es sei denn man hatte genügend Geld, das Gewünschte im Ausland zu bestellen. Heute ist die Situation im Prinzip unverändert. Zugegebenermaßen gefiel mir diese Anthologie von Borges damals überhaupt nicht. Es war nicht die Auswahl der Werke von Borges, die mich störte, sondern mir gefiel nicht, wie Borges schrieb: ich fühlte mich von Borges‘ Werk nicht angezogen, ich fand es zu schwierig. In mir herrschten noch das Aroma Nerudas für die Lyrik ebenso wie das Garcia Lorcas oder Vicente Aleixandres, und was Erzählung und Roman anging, so war ich stark von Gabriel Garcia Marquez beeinflußt.
Borges war und ist kein Dichter oder Schriftsteller für die Mehrheit wie etwa Rubén Dario oder gewiß Pablo Neruda. Bis zu einem bestimmten Grad ist die Feststellung von Octavio Paz richtig, daß Borges ein Schriftsteller für Schrifsteller war, obwohl man, so glaube ich, hinzufügen muß, daß ein beträchtlicher Teil seiner Dichtung meisterlich einfach ist- ein faszinierendes Ergebnis seines Könnens. Es mußten viele Jahre mit der Lektüre unzähliger Autoren vergehen, bis ich wieder auf Jörge Luis Borges stieß. Und diesmal bekam ich eine andere Auffassung von seinem Werk. Ich lernte das, was er viele Male in seinen Büchern hervorhebt, das Wiederlesen von Büchern. Und durch das Wiederlesen seiner Bücher drang ich tiefer in seine phantastische Welt ein, in sein Buenos Aires der Milongas und Tangos und so besonderer Wesen wie Macedonio Fernández oder Evaristo Carriego. Ich spürte das Bedürfnis, alle seine Bücher zu lesen.
Und jedesmal wenn mir wieder ein Buch von ihm in die Hände fällt, habe ich ein außergewöhnliches Vergnügen daran, es zu lesen. Jorge Luis Borges ist ein Klassiker der Universalliteratur. Er gehört zu den größten Schriftstellern dieses Jahrhunderts. Sein Werk ist nicht das Werk einer Epoche, sondern ein Werk der Zeit, jener Zeit, die er sich durch seine faszinierenden Erzählungen zu entschlüsseln bemühte. Und Borges muß man lesen können, oder, um Borges zu lesen, muß man zu lesen verstehen. Es ist seltsam, aber Jörge Luis Borges habe ich auf Deutsch zu lesen begonnen. Er war 1986 in Genf gestorben, 10 Jahre, nachdem ich seine Anthologie in Managua gelesen hatte. In der Universitätsbibliothek in Leipzig konnte man die wenigen Texte, die von ihm dort erhältlich waren, nur auf Deutsch bekommen, und in den Leipziger Buchläden war es ebenfalls unmöglich, Bücher von Borges auf Spanisch zu bekommen. Überraschenderweise las ich ihn gern auf Deutsch. Jörge Luis Borges‘ Sprache ist präzis, weitgreifend und kompakt, dabei spricht er nicht mehr als das Notwendige aus, sagt viel in wenigen Worten, ohne in den für mich eintönigen Telegraphen-Stil Hemingways zu verfallen. Ich glaube, das ermöglicht seine exakte Übersetzung ohne intellektuelle Schwerstarbeit und verhindert, daß das Werk des Autors zum Werk des Übersetzers wird, obwohl ich glaube, daß der Übersetzer immer ein zweiter -wenn auch ein zweiter- Autor ist.
Ich erinnere mich, daß in den ersten Jahren der sandinistischen Revolution einige regierungsnahe Intellektuelle sehr gut und sehr schlecht über Borges sprachen. Sie lobten sein literarisches Werk über alle Maßen und kritisierten in keinem Verhältnis dazu den einfachen, gewöhnlichen Menschen Borges, obwohl Borges weder sehr einfach noch sehr gewöhnlich war. Vielleicht trifft zu, was Octavio Paz sagte, daß Borges selbst eine Fiktion war, wie seine unvergleichlichen Erzählungen. Einige warfen ihm politischen Konservatismus vor. Tomas Borge Martínez, eine der Comandantes der Revolution, war einer von ihnen. Sie vertraten die Auffassung -ich weiß nicht, ob sie sie heute noch vertreten- daß das Werk von Jorge Luis Borges von Dialektik durchdrungen sei -damit meinten sie freilich ihre Dialektik, den dialektischen Materialismus des Marxismus-Leninismus. Es ist so außergewöhnlich wie zutreffend, daß Borges‘ Werk ein dialektisches Werk ist, wiewohl durchdrungen von einer natürlichen Dialektik und nicht einer erzwungen wie der marxistischen, von einer Dialektik, die in einer fantastischen, fiktiven Vernunft der Fiktion begründet ist, mit Wurzeln im Amerika seiner Zeit und seiner Geschichte.
Es sollte betont werden, daß Borges mehr Lateinamerikaner war als viele, die sich mit viel Bombast lateinamerikanische Schrifsteller nennen. Das Problem ist vielleicht, daß Borges ein Exzentriker war, und daß sein Exzentrismus universell war. Sicherlich gehörte Borges zu den Traditionalisten, aber er war nicht der Reaktionär, als den man ihn kritisierte. Wenn ich ihn nach seinem Werk und seinen Selbstäußerungen beurteile, so war er ein sehr ehrlicher Mensch, der seinen Ideen ein Leben lang treu blieb. Möglicherweise lebte er so sehr in der Welt der Ideen, daß er in manchen Momenten die Realität aus den Augen verlor und deswegen bei manchen Gelegenheiten naiv erschien.
Die hier vertretenen Standpunkte entsprechen meinen Erfahrungen mit Borges. Ich wollte weder eine Rezension noch einen literaturwissenschaftlichen Aufsatz schreiben, um zu sagen, daß der Fischer-Verlag das Werk von Jörge Luis Borges in zwanzig Bänden herausbringt und daß der erste Band die ersten drei Gedichtbände von Borges enthält: „Fervor de Buenos Aires“ (Buenos Aires mit Inbrunst) ,“Luna de enfrente“ (Mond gegenüber) und „Cuaderno San Martin“ (Notizheft San Martin). Es besteht kein Zweifel, daß die Übersetzung von Gisbert Haefs ausgezeichnet ist und Borges1 Werk in vollem Umfang gerecht wird. Es bleibt nur zu sagen, daß bereits in den ersten drei Gedichtbänden, besonders im ersten, „Fervor de Buenos Aires“, die Essenz und die weitere Entwicklung des Werkes sichtbar ist; und wie Borges sagte: „Ich glaube, daß alles folgende Schreiben nur Themen entwickelte, die ich hier zum ersten Mal aufgenommen hatte; ich glaube, daß ich im Laufe meines Lebens dieses eine Buch immer wieder geschrieben habe.“ Hier findet man bereits sein endloses Rätsel: die Zeit, seine Stadt: Buenos Aires, und seine Originalität, seinen Humor, seinen Witz. Dieses Buch, „Fervor de Buenos Aires“, wurde von Borges 1923 herausgegeben, geschrieben wurde es zwischen 1921 und 1922. Es wurde innerhalb von nur 5 Tagen veröffentlicht, weil sein Autor nach Europa zurückkehren mußte, und wie Borges schrieb: „Das Buch wurde mit einer gewissen Tugendhaftigkeit hergestellt.“ Nichtsdestotrotz wurde es ein Meisterwerk der Literatur.
Jorge Luis Borges:
Werke in 20 Bänden.
Fischer-Verlag Frankfurt/Main.
1991.