Es ist keine Überraschung, dass sich auch 20 Jahre nach Ende der Pinochet-Diktatur immer noch Autoren mit diesem Kapitel der chilenischen Geschichte beschäftigen. Zu viel ist in dieser Zeit passiert und die Folgen des Regimes sind für viele Menschen weiterhin spürbar. Daran haben auch der demokratische Wandel und das seit 1990 regierende Parteienbündnis der concertación wenig geändert. Dass es unter der nach außen relativ ruhigen Oberfläche des wirtschaftlichen Musterlandes in Südamerika gehörig brodelt und sich soziale Spannungen Bahn brechen, zeigten vor allem die im Jahr 2006 „virulenten“ Demonstrationen der Schüler (revolución de los pingüinos), die ein besseres Bildungssystem mit mehr Chancengleichheit forderten. Zu den noch aus der Zeit der Diktatur stammenden antidemokratischen Relikten gehören neben dem Bildungsgesetz auch die Arbeitsgesetzgebung, das Renten- und das binominale Wahlsystem. Weitere Anzeichen für ungelöste soziale Konflikte, deren Ursprünge ebenfalls in der Zeit der Militärherrschaft liegen, waren und sind die Streiks der nur gering gewerkschaftlich organisierten Arbeiter oder die Aktionen der gegen transnationale Forstkonzerne und für ihr Territorium kämpfenden Mapuche, der größten indigenen Minderheit des Landes.
Während ein Großteil der in den letzten Jahren veröffentlichten Literatur zu Chile vor allem um die Einordnung und die Bewertung der Rückkehr des Landes zur Demokratie bemüht war, geht der Autor Boris Schöppner in seinem Buch „Nachbeben“ einen etwas anderen Weg. Im Zentrum desselben stehen die Protagonisten des Widerstandes und der sozialen Proteste der 1980er Jahre gegen die Militärdiktatur. In Interviews lässt er Mitglieder der linken Revolutionsbewegung (MIR), der nationalen Befreiungsarmee (ELN), der Nachfolgeorganisation der patriotischen Front (FPMR) sowie des Parteikomplexes MAPU Lautaro zu Wort kommen. Etliche seiner Gesprächspartner waren Bewohner der als poblaciones bezeichneten Armenviertel, in denen der Zuspruch für Allendes Volksfront-Regierung und das Widerstandspotential gegen die Diktatur am größten waren. Die Reflexionen der Interviewten reichen von ihren Erfahrungen im Untergrund, den Eindrücken von Guerilla-Aktionen, Gefangennahme und Folter bis hin zur kritischen Einschätzung des Widerstandes und der chilenischen Linken im historischen Kontext. Heute noch bekennen sich die damals meist jungen Aktivisten zu ihrem Widerstand, auch wenn in der Rückblende klar wird, dass sie eigentlich auf verlorenem Posten kämpften. Ihre Erfahrungen und Bewertungen sind es, die Schöppner sammeln und vor dem Vergessen bewahren will, da sich in der heutigen Zeit kaum noch jemand damit auseinandersetzt. Zu stark ist die aktuelle chilenische Gesellschaft geprägt von Individualismus und Konsumismus; zu gering ist das politische Interesse oder die Partizipation. Zugleich scheint es dem Autor ein Anliegen zu sein, anhand der Darstellung gegenwärtiger Verhältnisse, das Interesse der deutschen Leserschaft wieder mehr auf die soziale Situation des lateinamerikanischen Landes zu lenken, das mit dem Ende der Diktatur bei der deutschen und internationalen Linken an Interesse verlor und in der Hauptströmung der Medien hauptsächlich als neoliberaler Musterschüler charakterisiert wurde. Aber es sind nicht nur die ehemaligen politischen Aktivisten die im Buch zu Wort kommen, sondern es werden auch zeitgenössische Künstler und Medienschaffende, wie jene vom alternativen Stadtteilsender Senal 3 La Victoria in Santiago, vorgestellt.
Den Bogen zur Gegenwart schlägt Schöppner, indem er an etlichen Stellen Anmerkungen zu aktuellen Themen (Schülerproteste) einstreut oder die Äußerungen von Vertretern konflikterprobter Minderheiten (z.B. im Abschnitt über die Mapuche S. 84ff.) wiedergibt. In diesen Einschüben mit leichtem Exkurscharakter werden die aktuellen Konflikte jedoch immer auch im Lichte der Vergangenheit betrachtet, deren Wurzeln – wie im Falle der chilenischen indígenas – weit über die Diktatur hinaus- und bis in die koloniale Eroberungszeit zurückreichen. In einem Buch das sich vor allem mit Widerstand und Repression während der Militärdiktatur in Chile beschäftigt, haben die Mapuche aber einen berechtigten Platz inne, waren sie doch eine der gesellschaftlichen Gruppen, die besonders unter dem Pinochet-Regime zu leiden hatten. Dass gegen Mapuche-Aktivisten, die sich der Landnahme ihrer Territorien durch transnationale Unternehmen erwehren, immer noch aus der Zeit der Diktatur stammende Anti-Terror-Gesetze angewendet werden, ist praktisch ein Skandal in einem Land, dass heute wieder den Anspruch erhebt, eine Vorzeigedemokratie in Lateinamerika zu sein.
Viele linke Aktivisten, Widerständler und Exilchilenen bedauern die derzeitige Atomisierung ihrer Gesellschaft. In einer Solidarisierung und Verbindung mit neuen sozialen Bewegungen sieht Schöppner einen Anknüpfungspunkt für die heute stark fragmentierte und relativ bedeutungslose chilenische Linke, um den Kampf gegen das neoliberale und ungerechte Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu führen, dessen fehlende Nachhaltigkeit auf Kosten gegenwärtiger und zukünftiger Generationen geht. Es sind gerade auch die Erfahrungen aus dem Widerstand gegen die Militärjunta, welche die heutigen sozialen Bewegungen bereichern könnten – vielleicht nicht gerade die militanten, aber doch zumindest die solidarischen und kreativen Formen. Eine solche kreative Form, die „Gespenster“ der Vergangenheit zu bekämpfen, ist die so genannte FUNA, eine Art gewaltloser Pranger für die Mörder und Folterer der Diktatur. Aufgrund von Amnestiegesetzen und des Gefühls, die offizielle Justiz würde zu wenig zur Aufklärung von während der Diktatur begangenen Verbrechen beitragen, haben einige Chilenen kurzerhand selbst dafür gesorgt, die oft zurückgezogen lebenden Militärs und Polizisten ausfindig zu machen und ihre Taten ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Ein Vorgehen, das in der immer noch in Lager gespaltenen chilenischen Gesellschaft, in welcher viele die Vergangenheit einfach vergessen oder totschweigen wollen, ziemlich kontrovers, aber auch mutig ist.
Mit „Nachbeben“ ist Boris Schöppner ein gutes Buch gelungen, dass den selbst gestellten Ansprüchen einer Momentaufnahme eines Teils der chilenischen Gesellschaft 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur gerecht wird. Die Interviews sind interessant und informativ und zeugen von einer intelligenten Fragestellung. Die Tatsache, dass im Buch die Menschen selbst zu Wort kommen und der Autor nur an der einen oder anderen Stelle erklärend oder reflektierend eingreift, verleihen dem Werk den Charakter eines relativ ungefilterten Zeitzeugnisses. Der kundige Leser hätte sich an manchen Stellen vielleicht etwas mehr analytische Tiefenschärfe gewünscht, was die Qualität von „Nachbeben“ aber keineswegs mindert. Obwohl das Buch die Geschehnisse in Form von Zeitzeugenbefragungen in einem journalistisch-sachlichen Stil dokumentiert, weiß es an der einen oder anderen Stelle durchaus zu unterhalten. Fast schon anekdotischen Charakter hat die von Schöppners Interviewpartnern geschilderte Verbannung, eine der weniger repressiven Formen der Unterdrückungsmaßnahmen des Pinochet-Regimes, die sich für die Diktatur aber zum Nachteil auswirkte. Eine ansprechende Übersetzungsleistung sorgt darüber hinaus für einen recht barrierefreien Lesefluss. Das Buch ist nicht nur bereits mit den Verhältnissen in Chile vertrauten Personen zu empfehlen, es kann ebenfalls als lesenswertes Dokument für Einsteiger in das Thema überzeugen. Und vielleicht sollten jene, die früher chilenischen Solidaritätsrotwein tranken und Solidaritätsempanadas aßen (Schöppner, S. 223), erneut ihre Aufmerksamkeit auf Chile lenken, um neben den Erinnerungen an die Vergangenheit auch die aktuellen gesellschaftlichen Ereignisse nicht gänzlich aus dem Blick zu verlieren.
Boris Schöppner
Nachbeben
Trotzdem Verlag 2008
ISBN 978-3-86569-920-6