Anlässlich der kürzlich erfolgten Veröffentlichung des Debütalbums des Pablo Tarantino Quartetts, Charnia (PK Records 2024), traf sich unser Quetzalmitarbeiter Gonzalo Compañy mit dessen Leiter, dem argentinischen Schlagzeuger, Komponisten und Dozenten Pablo Tarantino. In dem Gespräch, beschreibt der in Leipzig ansässige Musiker einige Mäander seines Lebens – von seiner frühen Kindheit, in der er seine Faszination für die Musik entdeckte, über seine ersten Schritte als Schlagzeuger und seine Ausbildungszeit bis hin zu seiner Etablierung als professioneller Musiker – und reflektiert über den Prozess des Komponierens und die Wechselfälle eines unabhängigen Musikers in der heutigen Welt. Nach dem Teil I und dem Teil II, folgt nun der abschließende Abschnitt eines ausführlichen Gesprächs, das Anfang des Jahres vor dem Lindenauer Markt in der Sächsischen Metropole stattfand.
Du wusstest bereits, mit welchen Instrumenten die Charnia-Songs gespielt werden sollten?
Ja, ich habe diese Dinge festgestellt. Ich fing an, eine Vorstellung zu haben, und das ist etwas, was meiner Meinung nach sehr wichtig ist, wenn man komponiert und eine Platte macht. Meine Vision war: Ich sehe schon, dass meine Tendenz oder mein Geschmack auf instrumentaler Ebene in Richtung Quartett-Format geht: Kontrabass, Klavier – ich bin ein Klavierliebhaber – Saxophon, abgesehen vom Schlagzeug. Ich hatte also bereits eine klare Vorstellung von der Besetzung, um entsprechend dieser Instrumente schreiben zu können. Der Nachteil war, dass ich nicht wusste, welche Musiker:innen ich engagieren würde, also konnte ich nicht nach bestimmten Interpreten komponieren. Doch ich sagte mir, dass ich gerne in diesem Sinne schreiben möchte. Ich habe dabei versucht, mich nicht zu verzetteln und Dinge zu machen, die später finanziell sehr aufwendig sein können, denn man muss auch berücksichtigen, ob die Musiker:innen die Zeit haben, die Stücke zu lernen, die man komponiert, wie viele Ressourcen man hat usw. Man muss sich auch darüber im Klaren sein, was die Zielsetzung des Projekts ist, was man machen will. Meine Idee waren diese Instrumente und etwas zu machen, das ehrlich ist, wie ich bereits erwähnte; etwas, das auch „Farbe“ hat – sowohl melodisch als auch harmonisch und rhythmisch –; etwas, das mich widerspiegelt und gleichzeitig interessant ist. Das gab mir das Gefühl. Ich wollte auch ein Album für mich machen, kurz gesagt… [lacht]. Es gibt viele Leute, die es so formulieren, „ich mache Musik erstmals für mich, dann sind andere willkommen“. Das hat mir gefallen, auch wenn es eigentlich ein bisschen egoistisch klingt, aber ich denke, es ist gut, nicht in diese blöde Falle zu tappen, es allen recht machen zu wollen.
Die Entfremdung von sich selbst: die Dinge eines anderen zu den eigenen machen…
Ja, das macht Sinn, nicht wahr? Ich konnte so was nicht. Es ging völlig gegen das, was ich suchte. Schon damals habe ich angefangen, einige Songs zu formen… einige davon kamen damals heraus, andere blieben auf der Strecke. Ich habe Stücke fertiggestellt, von denen ich später entschied, dass sie nicht in Charnia gehören, und bin mir nicht einmal sicher, ob sie jemals funktionieren oder in irgendeinem Format herauskommen werden. Als einige der Stücke, die ich bereits als Charnia-Songs empfand, ans Licht kamen, darunter das Stück Charnia, das während der gesamten Platte heraus kam: der erste Abschnitt und der erste Teil der Melodie und dann, ließ ich das Ganze ziehen. Ich habe mich nicht hingesetzt und darüber nachgedacht, was folgen sollte. Aber als ich mich einige Zeit später mich hinsetzte, um das Stück zu formen, schien es mir, dass es sich immer weiter nach vorne bewegte und entwickelte. Als einige Charnia Stücke fertig waren, sagte ich mir, na ja, das ist schon in Form, das ist schon auf einem guten Weg. Auch wenn ich noch nicht alle Songs für das Album hatte, sagte ich mir, dass es an der Zeit sei, Musiker:innen zu finden, um die Sache in Bewegung zu setzen. Nicht zuletzt, um aus der Ebene des Alleinseins und des ständigen Komponierens herauszukommen…
Kurz vor Ende der Pandemie…
Natürlich gab es immer noch eine Menge Einschränkungen. Da war immer noch die Sache mit den Schnelltests. Ich wollte beispielsweise hier in Lepizig bei den Horns Erben an einer Jamsession teilnehmen und da wurden der Impfung-Pass und ein negativer Test verlangt.
In diesem Zusammenhang hast Du angefangen, die Charnia-Songs auszuprobieren?
Nicht in den Jams, aber in diesem Zusammenhang traf ich im Proberaum einen Pianisten, Robbie Nakayama, mit dem wir später mit dem Leona-Spieler Vico Díaz spielten. Dort spielten Robbie, ein Bassist, der zufällig auftauchte, und ich einige der Stücke. Doch es war eine etwas seltsame Probe. Auch auf der Ebene der Chemie haben wir, glaube ich, nicht sehr gut harmoniert. Die Songs waren zwar da, aber sie brauchten ein bisschen mehr Klarheit, vielleicht von meiner Seite aus, wenn es darum ging, das zu vermitteln, was ich von den verschiedenen Instrumenten wollte. Das Treffen war dafür nützlich, wenn man so will. Dann hatte ich ein weiteres Treffen mit zwei guten Freunden, dem Kontrabassisten Lorenz Heigenhuber und dem Pianisten Johannes Bigge. Wir hatten abgesprochen, uns eines Tages zu treffen, um die Songs anzuschauen und nach Auftritten zu suchen. Doch sie sind zwei Jungs, die sehr, sehr beschäftigt mit ihren eigenen Projekten sind und dazu oft bei anderen Musiker:innen gastieren. Es war also sehr schwierig, darüber nachzudenken, mehr Proben abzuhalten und das Ganze weiterzuentwickeln. Was mir damals passierte, war, dass ich eine Menge Songs hatte, die noch nicht ganz definiert waren und daher mehr Anweisungen brauchten, und ich konnte den Jungs keine Hinweise geben, wenn mir die Dinge noch nicht ganz klar waren. Also beschloss ich, die Stücke etwas genauer zu präzisieren, bevor es erneut in den Proberaum ging. Im Laufe der Zeit sah ich, dass es keine gute Idee war, mit ihnen zu arbeiten – hauptsächlich deswegen, weil sie nicht zur Verfügung standen. Sie sind doch großartige Musiker! Was ich dann tat, war, den Songs, die bereits erschienen, eine klare Form zu geben. Dann erschienen The Uproot und The End of Evolution etwa zur gleichen Zeit. Deshalb sind sie auch im Album miteinander verbunden. Zu dieser Zeit, als ich schon ziemlich viel auf die Beine gestellt hatte, spielte ich in einem Projekt des Sängers Abdel mit Emmanuel Walter, dem Pianisten meines Quartetts, und Max Müller, dem Kontrabassisten. Als ich mit ihnen zum ersten Mal auftrat, hatte ich ein wirklich gutes Gefühl, und ich sagte ihnen, ich hätte ein paar Songs zum Ausprobieren… wenn sie ihnen gefielen, würden wir zusammenkommen. Ich erzählte ihnen, dass ich bereits einen Saxophonisten habe – denn ich hatte bereits Roman [Polatzky] gefunden. Ihn hatte ich bei einer Jamsession kennengelernt. Ich erinnere mich, dass ich ihm das Stück Alma canta schickte. Er mochte dessen Vibe sehr und meinte, wir sollten damit etwas machen. So habe ich mich mit Emmi, Max und Roman im Proberaum verabredet. Bis dahin hatte ich versucht, die Noten einwandfrei zu haben, so dass ich die Stücke so schnell wie möglich vorstellen konnte. So kam es, dass wir bei der ersten Probe so gut wie das ganze Repertoire interpretieren konnten – mit Ausnahme von Stücken wie The End of Evolution und Canto a la Telesita, die damals noch nicht reif waren. Nachdem wir diese Songs im Proberaum ausgearbeitet hatten, ging ich nach Hause und war damit absolut begeistert, denn ich sah, dass das Ganze sehr gut funktionieren konnte. Also habe ich beschlossen, eine weitere Frist zu setzen. Wenn die Stücke gut funktionieren und die Musiker dabei waren, denn brauchte man mehrere Auftritte, um das Repertoire zu „rollen“ und eine gewisse Chemie zwischen den vier Musikern herzustellen, bevor das Quartett ins Studio ging. Wir sprechen vom Jahr 2023. Das erste Konzert war, wenn ich mich richtig erinnere, im April… das war der erste Kontakt mit dem Quartett live. Anschließend eröffneten wir die Horns Erben-Jam, bei der Emmi aus logistischen Gründen nicht dabei sein konnte und durch einen großartigen peruanischen Pianisten, Gabriel Gutiérrez, ersetzt wurde, der absolut erwähnenswert ist. Wir wollten auch im Dresdner Blue Note auftreten, aber das fiel ins Wasser, weil Max sich leider mit dem Corona-Virus infizierte. Ich hatte diese Auftritte und dazu das Studio in Berlin für das Jahresende gebucht. Also sind wir so nach Berlin gefahren, mit sehr klaren Vorgaben. Das war mir sehr wichtig, denn als wir im Dezember die Aufnahmen beendeten, lag der nächste Schritt in meiner Hand: und zwar jemanden zu finden, der die Songs abmischt und mastert sowie die Platte herausbringt!
Wir begannen mit Charnia, das nun dem Publikum zur Verfügung steht, und zwar in physischer Form, als CD. Das ist etwas, was ich ansprechen möchte: die finanziellen Kosten, die mit der Produktion eines Albums verbunden sind, zusätzlich zu den Kosten für die Aufnahme etc. Wie wurde das Problem der Kosten gelöst? Mit anderen Worten, wie ist es für einen Musiker, wenn man das so sagen darf, der in gewisser Maße entwurzelt ist, im 21. Jahrhundert, der schon lange damit zu kämpfen hat… wie kommst du zu den Mitteln, um ein solches Projekt durchzuführen?
In vielen Fällen, und meiner ist einer davon, ist es eine Selbstproduktion. Es gibt Leute, die es schaffen, mit einem Demotape, d.h. mit einer ziemlich selbstgemachten Aufnahme von einigen Tracks, zu arbeiten. Dieses Material wird dann an Plattenfirmen geschickt, und es kann passieren, dass ein Label beschließt, den Künstler oder die Künstlerin zu unterstützen und den Mix, das Mastering usw. zu finanzieren. Ich spreche von der Welt des Jazz, denn in anderen Genres funktioniert das ganz anders, und erst recht heutzutage, wenn viele Dinge zu Hause produziert werden können. Das ist sehr kompliziert, also ist es eine Frage des Selbstmanagements. Die Künstlerinnen sparen Geld und bezahlen dann alles selber: die Aufnahmen, die Musiker, alle Kosten, die danach anfallen, das Abmischen, das Mastern… Wenn es sich um ein physisches Format handelt, die Produktion der CD, das Hochladen ins Internet. In meinem Fall bin ich zu dem Teil der Eigenproduktion bis hin zum Abmischen, Mastern – ein wenig aus Unwissenheit gekommen. Ich dachte nicht, dass ich vor der Aufnahme des Albums etwas von einer Plattenfirma bekommen könnte, Geld oder so etwas. Ich habe all diese Kosten durch Sparen und ich habe viel geopfert, um die Jungs bezahlen zu können. Wir sind eine Band, aber sie sind Profimusiker und natürlich wollte ich ihnen etwas in die Hand geben… und für das Studio usw. muss man selbstverständlich Geld reinstecken. In der letzten Phase der Produktion habe ich ein Crowdfunding gemacht, das im Vergleich zu anderen Crowdfundings relativ wenig Geld eingebracht hat, wenn man es sich überlegt: Es waren etwa 500 Euro. Aber das brachte etwas ein, zumindest für die Herstellung der CDs. Die tausende Euro, die man für den Rest ausgibt, kamen aus meiner eigenen Tasche. Das Crowdfunding war ursprünglich auch ein Weg, um zu testen, ob es Leute gibt, die bereit sind, das Vinyl zu kaufen. Da das nicht der Fall war – ich habe das Minimum, das ich für die Produktion von Vinyl brauchte, nicht erreicht – machte ich, wie ich es in den Richtlinien geschrieben hatte, CDs, um wenigstens eine „physische“ Kopie zu haben. Nachdem ich das Album gemischt und gemastert hatte, schickte ich es an mehrere Plattenfirmen. Dabei hatte ich keinerlei Skrupel, ich nahm es wie ein Spiel… keine Ängste. Ich sagte, es ist mir egal, ob es ein großes oder ein kleines Label ist. Mit einigen von ihnen konnte ich Gespräche führen, unter anderem mit Motema, einem Plattenlabel, das zwar nicht sehr groß ist, aber in der Welt des modernen Jazz ziemlich renommiert ist. Ich habe mit ihnen verhandelt, aber es gab ihrerseits eine Menge Drehungen und Wendungen, eine Menge geschäftliche Erwägungen. Und schließlich hat es doch nicht gepasst. Ich glaube, hauptsächlich weil sie etwas vorschlugen, das für mich nicht funktionierte, vor allem was die Zusammenarbeit mit einem Publizisten betraf… Da kamen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt, nämlich dass die Arbeit eines Publizisten in der Musik heutzutage ein wenig veraltet ist, und das habe ich dank des Buches von Ari Herstand über Musik und die Industrie begriffen – How To Make It in The New Music Business. Selbst wenn man weiß, dass man es mit unabhängigen Künstlern zu tun hat, wird ein bestimmter Geldbetrag verlangt, um ihrem Label beizutreten und mit ihnen an ihrem Katalog mitwirken zu dürfen. Sie gehen also kein Risiko ein… und zusätzlich zu all dem Geld, das man investiert, wird man aufgefordert, einen Publizisten zu engagieren, der mit einem Modell arbeitet, das m.E. heutzutage nicht mehr funktioniert. Das erschien mir völlig unangebracht. Ich war ziemlich enttäuscht, denn schließlich kann man mit einer solchen Plattenfirma vielleicht ein bisschen Bekanntheit erlangen, ein oder zwei Türen öffnen, auf einem Festival spielen, was auch immer… aber ich weiß nicht, ob es letztendlich wirklich so ist. Doch dank eines ehemaligen Kollegen vom Konservatorium, Quique Ramírez, der beim Label von Petros Klampanis, dem griechischen Kontrabassisten, arbeitet… Nun, ich erzählte ihm, was mit Motema passiert war, und fragte ihn nach seinen Erfahrungen bei einem Plattenlabel. Das war meine Absicht, als ich mit Quique sprach, doch er war so ehrlich und realistisch… Er sagte mir, dass das Label in einigen Aspekten wirklich helfen könnte und man vor allem Geborgenheit bekommt. Perspektivisch ist das genau, was ich jetzt fühle, nämlich zu einer Gruppe von Musikerinnen zu gehören, die bei diesem Label sind. Es gibt einen sehr interessanten Austausch zwischen uns allen, es gibt eine Website, auf der alles sehr übersichtlich ist usw. Dazu ist Petros ein sehr bekannter Musiker, so dass dieser Name einem letztendlich einige Türen öffnen kann.
Wo ist das Label ansässig?
PK Records hat seinen Hauptsitz in New York, da Petros seit langem dort lebt, aber er pendelt nach Griechenland. Soweit ich weiß, hat er das Label auch in Athen registriert.
Unter dieser Gemeinschaft und mit Charnia auf der Straße, was ist dein Plan? Was würde es dir leichter machen, das Album auf den Weg zu bringen?
Irgendwann habe ich mit Petros gesprochen und er hat mich ins Boot geholt. Petros hat mir sehr dabei geholfen, wann ich die Singles veröffentlichen sollte, wie ich das Material, das ich hatte, nutzen konnte – wie zum Beispiel die Videos, die ich während der Albumaufnahme gedreht hatte. Er gab mir Tipps, wie ich das Beste herausbringen konnte, wo ich die CDs kopieren konnte, wie ich sie auf die digitalen Plattformen hochladen konnte, er besorgte mir einige Reviews, die ziemlich wichtig waren, um die Sache ins Rollen zu bringen… Zurzeit ist das größte Hindernis, auf das ich stoßen kann… sagen wir mal, all die Musiker, die in diesem Genre, in diesem Umfeld tätig sind und die keinen Ruf haben, stellen gewissermaßen ein „Risiko“ für jeden dar, der ein Festival programmiert. Denn man muss ein relativ großes Publikum haben, um reinkommen zu können, oder zumindest einen Namen… Wenn man mehr Präsenz in den sozialen Medien hat, zum Beispiel viele Follower oder viele Reproduktionen, kann man vielleicht wahrgenommen werden, aber ansonsten ist es schwieriger reinzukommen. Gleichzeitig muss man öfter spielen, um mehr Auftritte zu bekommen… Die ersten Auftritte, die ersten Outings sind für mich sehr kompliziert. Indem ich an viele Türen geklopft habe, finde ich immer Orte um aufzutreten. Doch es muss mehr getan werden, um auf eigenen Beinen zu stehen. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich bereits denke, dass, wenn man an bestimmten Orten spielen will, selbst dafür bezahlen muss… solange man auf einer Bühne spielt, die wirklich Türen öffnet und Vorteile bringt, so dass man zukünftig an wichtigeren Orten spielen kann.
… und zwar?
Es gibt zum Beispiel einige in Köln, die ziemlich bekannt sind… Ich weiß, wenn man in einem wichtigen Jazzclub spielt, wird man sichtbar, nicht zuletzt deswegen, weil man auf deren Plakate kommt. Auch Clubs wie das Horns Erben hier in Leipzig, dessen Veranstaltungskalender ist von vielen Medien beworben. Wenn man an solchen Orten spielt, die bereits überall programmiert sind. Da die Öffentlichkeitsarbeit größtenteils von ihnen gemacht wird, kann das deinen eigenen Weg ebnen. Dazu gibt es die Festivals. Um auf Festivals zu kommen, muss man gewisse Verbindungen haben, um eine Gelegenheit bei einem Festival zu haben. Dort kann man von vielen Menschen gehört werden, die hingegangen sind, ohne dich zu kennen – und dann können sie überrascht werden.
Bei Festivals gibt es bestimmte Künstler, die von den Veranstalter:innen gebucht werden, aber es gibt auch eine Quote für neue Bands? Gibt es, abgesehen von den Verbindungen, eine mehr oder weniger demokratische Chance, reinzukommen?
Meine Kenntnisse über den Vorgang sind zwar eingeschränkt, aber ich weiß, dass es immer mehr Quoten in allen Bereichen gibt: es gibt Quoten, die von den geldgebenden Institutionen gefordert werden. Wenn ein Festival Fördermittel erhalten will, muss es beispielsweise Quoten für die Vielfalt der Genres, der Nationalitäten geben, es muss Leute mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlicher Musik usw. geben. Am meisten gefragt ist heutzutage natürlich die Geschlechtervielfalt. Dabei ist mein aus vier Jungs bestehendes Quartett nicht so gut aufgestellt. Trotzdem denke ich, dass das etwas sehr Gutes und Positives für die Gemeinschaft ist. Ohne zu pauschalisieren, kann gesagt werden, dass es Bands gibt, in denen man darüber nachgedacht hat, zwar nicht aus kalter strategischer Sicht, aber aufgrund dieser Aufrufe, dass sie darüber sprechen, dass es perspektivisch gut für die Band wäre, wenn es Gender-Diversity gibt. Im Fall der Gründung meines Quartetts ist das irgendwie nicht so passiert, das hat sich quasi aus natürlicher Weise so ergeben. Was nicht natürlich ist, ist das, was man heutzutage sieht, und zwar, aus welchem Grund auch immer, dass die große Mehrheit der Bands aus Männern besteht. Unsere Gesellschaft besteht aus Frauen und Männern oder was auch immer. Wenn man sich selbst als nicht-binär definieren will, worüber ich erfreut bin, dass das jetzt passiert, ist es etwas, das auch berücksichtigt werden muss. Jeder sollte die gleiche Chance haben, vertreten zu sein. Zwar nicht alle, aber bei jedem Festival gibt es bestimmte Quoten. Die Quoten für „neue Bands“ oder „neue Besetzungen“ sind mir nicht so bekannt, aber ich vermute, dass es sie gibt, je nach Festival: Debüt-Album usw. In Spanien gibt es zum Beispiel große Festivals wie, wenn ich mich recht erinnere, das in Vitoria-Gasteiz in Baskenland, bei dem neben „Headliners“ auch lokale Bands auftreten müssen. In dieser Hinsicht hat mein Quartett keine Besetzung, das von der Vielfalt usw. profitiert, aber was als Band vertreten, ist eine Musik, die andere Kulturen einbringt… Ich selbst, als Einwanderer aus einem lateinamerikanischen peripheren Land hierzulande, könnte irgendwie auffallen und berücksichtigt werden… Bei Festivals weiß ich nicht, ob sich das zu meinen Gunsten auswirken wird oder nicht. Wie dem auch sei, hat meine Musik einen multikulturellen Hintergrund, und das mag von manchen Festivalveranstalter:innen als etwas Positives oder sogar Unerlässliches angesehen werden.
Um mit diesem Gespräch abzuschließen: Du bewegst? gerade Charnia, du stellst es mit deinem fantastischen Quartett vor, und dabei hast du bei den letzten Album-Präsentation auch neue Stücke vorgestellt… Musiker können mit ihrem Genie nicht umgehen! Sobald ein Album publiziert wurde, ist man als Musiker schon mit den Gedanken woanders…
Ja [lacht], aus der Not heraus, wirklich. Denn, wie ich bereits erwähnte, der Prozess des Komponierens und des Gestaltens ist Teil des Alltags. Es gibt Tage, an denen man mehr oder weniger Zeit zur Verfügung hat, aber ich versuche, jeden Tag etwas zu schreiben oder zumindest etwas für die Musik zu tun. Daraus entwickelt sich irgendwie eine Gewohnheit. Diese Tätigkeit ist ein wenig therapeutisch, und manchmal wird sie auch zu einer Art der Selbsterfindung: Es macht mir Spaß, gleichzeitig bin ich frustriert, doch es ist faszinierend, immer wieder Ideen zu haben, um weiter zu schaffen. Die Unzulänglichkeiten, die auftauchen, geben mir immer den Hinweis, dass es gut wäre, den Beruf besser zu verstehen. Im Laufe der Zeit fängt man an zu überlegen und verknüpft Dinge, die man unbedingt tun will, und es wird zur Gewohnheit, nicht stehen zu bleiben. Sollte man sich ausruhen, nachdem man zum Beispiel ein Buch fertig geschrieben hat? Ich denke, wenn man mit irgendeiner Art von Information konfrontiert wird, die man interessant findet, wird man angeregt und man wird lesen und in das Thema eintauchen wollen. Wenn man beispielsweise anfängt zu komponieren, ist die Harmonie endlos, die Ressourcen und die Musik, die man hören muss usw. Als ich Charnia beendet hatte, habe ich sofort wieder angefangen, nach „Nährstoffen“ zu suchen. Nun weiß ich nicht, was nach Charnia passieren wird, was ich komponieren werde, oder wohin mich das Ganze führen werde. Was ich doch sehe, ist, dass sich meine Interessen permanent ändern und sich in verschiedenen Aspekten der Musik ausdrücken. Dann sage ich, das hat es verdient, ein „neues Kapitel“ aufzuschlagen, was wiederum Hand in Hand mit einer neuen Playlist geht. Dann fange ich an zu überlegen, welche Dinge reizen mich jetzt? Ist das ein Neubeginn oder vielmehr eine Fortführung? Dann fange ich an, Songs reinzustellen, die vielleicht nicht so viel mit dem zu tun haben, was in der vorherigen Playlist ist, nicht zuletzt deshalb, weil ich mich inzwischen selbst verändert habe und meine Ohren sozusagen zu etwas anderem neigen. All diese Dinge, die auftauchen, bringen mich dazu, weiter zu erkunden. Dieser Song, der im Ohr geblieben ist. Ich habe neulich zum Beispiel eine Vibraphonistin entdeckt, die mich tief beindrückt hat: Sasha Berliner. Sie ist ein junges Mädchen, das bereits drei Alben veröffentlicht hat und nun kurz vor der Veröffentlichung ihres vierten steht… Und dann andere Musiker:innen wie beispielsweise Walter Smith III. Egal, was passiert, egal, wie viel Zeit vergeht, er bewegt mich immer, seine Kompositionen berühren mich. So tauchen Künstler:innen auf, die schon immer in meinem Leben waren, aber auch andere, die mit neuen Dingen zu mir kommen und andere, denen ich vorher nicht richtig zugehört hatte, wie es mir mit dem Komponisten Guillermo Klein passiert ist. Das erste Mal, dass ich Klein hörte, war, weil mein Bruder eine andere Wertschätzung für die Arrangements, die Bläser, für all diese Schichten, diese Instrumente hatte, die Klein so sehr mag und umsetzt. Mein Bruder hatte mir ein Album gegeben, das mich zwar anfangs interessierte, mich aber nicht in seinen Bann gezogen hatte. Jetzt erkenne ich, dass ich damals nicht in der Lage war, mich mit dieser Musik zu verbinden, weil es viele Schichten gab, eine Menge Informationen: eine Tonsprache, die meine Ohren nicht wahrnahmen. Ich konnte keine Verbindung zu den Songs herstellen. Nach einer Weile, vor zwei oder drei Monaten, als ich wieder anfing, das Album zu hören, hat mich nicht nur dieses Album, sondern auch Kleins Diskografie umgehauen. Nun gibt es eine Menge Platten zum Anhören. Und all das eröffnet dir, dass man das Bedürfnis hat, sich zu nähren und sich mit verschiedenen Dingen zu versorgen, um das zu tun, was kommen wird. Und auf dem Weg dorthin schreibt man. Von all den Dingen, die aus mir herauskamen, habe ich einen neuen Song, den wir letzten November im Blue Note in Dresden uraufgeführt haben und der sich immer noch in der Entwicklung befindet, weil das Stück, sagen wir mal, noch in den Kinderschuhen steckt. Dieses neue Stück hat noch einen langen Weg vor sich, bevor es auf ein Album schafft – wenn es das überhaupt tut. Ich mag es, und es ist sehr anders. Das haben mir die Jungs vom Quartett schon gesagt.
In der Literatur zum Beispiel passiert eher das Gegenteil von dem, was du beschrieben hast, denn einige haben bereits ein Konzept, das von Anfang an da ist. Dieses wird entwickelt und es nimmt dann die Form eines Buches oder einer Erzählung an. Das Konzept „Charnia“ kam erst am Ende, soweit ich es verstanden habe. Gerade deshalb ist es jetzt schwierig zu wissen, worum es auf dem nächsten Album gehen wird, oder? Es ist irgendwie so, dass die Neugierde die treibende Kraft ist, um voranzukommen und zu wissen, worum es geht…
Ja, genau. Es ist eine Geschichte, die ich noch nicht kenne, weil bislang lediglich ein Teil davon herausgekommen ist: Ein Song ist wie ein Kapitel. Die Dinge, die dich umgeben, die in deinem Leben passieren, diese Erfahrungen haben mich dazu gebracht, Charnia zu schreiben. Nun, jetzt habe ich andere Erfahrungen oder werde sie machen, werde ich mich an Sachen meiner Vergangenheit erinnern. All das wird in Songs festgehalten und möglicherweise in einem anderen Format herauskommen. Das wird ein Gesamtbild gestalten, das ich noch nicht kenne. Jetzt fühle mich eher wie in einer Laborphase. Ich analysiere die Musik, die mich heute bewegt, um zu verstehen, was als nächstes kommt. Wenn das, was dabei herauskommt, ein wenig Gestalt annimmt, kann das Quartett wieder anfangen, über Termine nachzudenken – zumindest in Bezug auf den Zeitpunkt, in dem wir zum Aufnahmestudio gehen. Ich möchte, dass möglichst nicht zu viel Zeit vergeht… Ich weiß nicht, ob es dieses Jahr ist, aber vielleicht nächstes Jahr. Wenn ich das Gefühl habe, dass das Material reif ist, kann ich eine weitere Platte in Betracht ziehen. Im Moment versuche ich sicherzustellen, dass es nicht auf eine erzwungene Weise herauskommt, dass es in einer Eile herauskommt. Diese Sache mit den Musiker:innen, die ihre Alben mit strenger Pünktlichkeit veröffentlichen. Was wir nicht aus den Augen verlieren dürfen, ist, dass die Künstler:innen, die Vollzeit arbeiten und denen es gut geht, die hauptsächlich spielen und komponieren und andere Dinge tun müssen, um überleben zu können, diejenigen sind, die am besten in der Lage sind, neues Material zu erzeugen. Musiker:innen, die zum Beispiel komponieren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sie haben eine andere Grundlage, um sich das Ziel zu setzen, ein Album pro Jahr zu veröffentlichen. Aber wenn nicht, denke ich, ist es am besten, zu versuchen zu verstehen, was man überhaupt tun will: man muss sich Zeit geben, damit die Dinge reifen können. Man soll die Dinge analysieren, die dich bewegen und passieren, damit man versuchen kann, all das in Ressourcen für die Komposition zu verwandeln. Andernfalls besteht meiner Meinung nach die Gefahr, dass etwas herauskommt, das nicht ehrlich ist, und dass das Ziel darin besteht, eine weitere Platte zu machen. Für mich kann das nicht das Ziel sein, sondern vielmehr zu versuchen, eine Platte zu machen, bei der es um mich geht. Und zwar um das Ich von heute. Wie gesagt, ich will nicht unbedingt jemandem gefallen, nach einem bestimmten Effekt suchen oder versuchen, ein nächstes Album herauszubringen, weil das eine Konvention ist: es könne nicht allzu lange dauern, bis man eine neue Platte herausbringt. Es kommt darauf an, nicht wahr? Stellen wir uns vor, ich sage, ich will mit vielen Musiker:innen spielen, dann lasse ich mein aktuelles Projekt ein bisschen ruhen, damit ich mich von der Erfahrung nähren kann, mit anderen Musiker:innen eine andere Musik zu spielen. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich aus dieser Erfahrung heraus etwas erschaffen möchte, könnte ich zu meinem eigenen Projekt zurückkehren. Es gibt doch eine Menge Leute, die sich dafür entscheiden. Ich denke, das ist sehr berechtigt: jeder sollte seinen eigenen Weg wählen können. Es ist schön, etwas zu erschaffen und herauszufinden, wer man ist, und zu sehen, welche Bilder dabei herauskommen. Ich liebe diesen ganzen Wahnsinn, Songs oder Romane zu schreiben oder Bilder zu malen oder Filme zu drehen – was auch immer. Kunst ist wunderbar!
Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion, gc; [2] Pablo Tarantino