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Bicentenario 1821-2021 (II): Perus Unabhängigkeit – selbst erkämpft oder von außen gebracht?

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 16 Minuten

Die Peruanerinnen und Peruaner begehen am 28. Juli 2021 den 200. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit von Spanien. Zu den fiestas patrias, wie die Nationalfeiertage genannt werden, zählt auch der Folgetag, an dem von den Streitkräften und der Polizei traditionell zahlreiche Paraden organisiert und durchgeführt werden. Wie schon letztes Jahr sind die Feierlichkeiten auch diesmal von der Covid-19-Pandemie überschattet. Ungeachtet der widrigen aktuellen Umstände bietet das Datum eine gute Gelegenheit, den historischen Platz der Unabhängigkeitserklärung vom 28. Juli 1821 näher zu beleuchten.

Bereits die Tatsache, dass sie von José de San Martín verkündet wurde, bedarf einer Erläuterung. Der argentinische General gilt neben dem in Caracas geborenen Simón Bolívar als Befreier Spanisch-Amerikas. Im Falle Perus kommt beiden Libertadores das Verdienst zu, dessen Unabhängigkeit erkämpft und gesichert zu haben. Aber gerade damit verbindet sich eine langjährige und immer wieder aufflammende Kontroverse um die Unabhängigkeit selbst. Der Titel eines vor sechs Jahren von Carlos Contreras und Luis Miguel Glave herausgegebenen Buches – „La independencia del Perú: ¿Concedida, conseguida, concebida?“ – bringt die verschiedenen Positionen auf den Punkt: Wurde die Unabhängigkeit Perus von außen gewährt (concedida), selbst errungen (conseguida) oder empfangen (concebida)?

Um eine Antwort darauf zu finden, welche der drei Interpretationen oder der ihnen zugrunde liegenden Argumente in welcher Weise zutreffen, kommt man nicht umhin, den Prozess des Unabhängigkeitskampfes und seine Akteure wenigstens in Grundzügen und ihren wichtigsten Interaktionen zu skizzieren. Beginnen wir mit zwei Fragen, die sich aus der Unabhängigkeits­erklärung selbst ergeben: Warum erfolgte sie relativ spät und warum war es San Martín, der sie auf der Plaza de Armas in Lima verkündete?

Peru als Bollwerk der Royalisten und der Konterrevolution

Im Falle Perus fallen im Vergleich zu den übrigen Teilen Spanisch-Amerikas zunächst zwei „Verspätungen“ ins Auge: zum einen die Erklärung der Unabhängigkeit am 28. Juli 1821 und zum anderen der endgültige Sieg über der Spanier in der Schlacht von Ayacucho am 9. Dezember 1824. Außerhalb Perus liegt das zeitliche Spektrum der Unabhängigkeitserklärungen zum größten Teil vor 1821 und beginnt in der Regel bereits 1809 (Chuquisaca und La Paz im heutigen Bolivien sowie Quito im heutigen Ecuador). Im kontinentalen Kontext ist es bezeichnend, dass die Nieder­schlagung der Autonomiebestrebungen in den drei genannten Städten durch Truppen des spanischen Vizekönigs von Peru erfolgte. Auch im Falle Chiles vollzog sich die spanische Rückeroberung des Patria Vieja, wie der erste Versuch der Trennung von Spanien (1810-1814) genannt wird, von Peru aus. Erst in der Schlacht von Maipú am 5. April 1818 fügte ein argentinisch-chilenisches Bolivien_Anden_Bild_Quetzal-Redaktion_gcHeer unter der Führung von San Martín und Bernardo O’Higgins den Spaniern eine vernichtende Niederlage zu und entschied damit den Unabhängigkeitskrieg in Chile zugunsten der Patrioten.

Einen ähnlichen Verlauf nahm der Unabhängigkeitskampf im Vizekönigreich Neu-Granada, aus dem die heutigen Republiken Kolumbien, Venezuela und Ecuador hervorgegangen sind. Nach einer ersten Welle von Unabhängigkeitserklärungen 1810 und 1811 wurde das Patria Boba, wie die zwischen 1810 und 1816 entstandenen unabhängigen Territorien auch genannt wurden, von spanischen Truppen besiegt und im März 1817 das Vizekönigreich Neu-Granada erneut errichtet. Bolívar musste bereits im Mai 1815 vor der spanischen Gegenoffensive nach Jamaika flüchten. Nach seiner Rückkehr 1816 brachte der Sieg über die Spanier in der Schlacht von Boyacá am 7. August 1819 die entscheidende Wende. Während sich Kolumbien im selben Jahr endgültig zum Zentrum der Unabhängigkeitsbewegung im Norden entwickelte, zogen sich die Befreiung Venezuelas bis 1821 und die Ecuadors bis 1822 hin.

Nur Argentinien und Paraguay, die 1810 bzw. 1811 ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, blieben von der spanischen Rückeroberung weitgehend verschont. Allerdings schlugen ebenso alle militärischen Versuche fehl, Oberperu (heute Bolivien), das bis 1776 zum Vizekönigreich Peru gehört hatte und dann an das neugegründete Vizekönigreich Rio de la Plata angegliedert worden war, von Nordargentinien aus zu befreien. Auch hier stellte Peru, das sich Oberperu 1810 unter Vizekönig José Fernando Abascal zurückgeholt hatte, seine entscheidende Rolle als zentrales Bollwerk der Konterrevolution in Südamerika einmal mehr unter Beweis.

Selbst in Mexiko, wo sich die absolutistische Konterrevolution 1815 aus eigener Kraft durchsetzen konnte und die Unabhängigkeit erst 1821 Realität wurde, bezeugen der Aufstand von 1810 (Grito de Dolores am 16. September) und die daran anschließenden Ereignisse, dass es anders als in Peru eine starke Unabhängigkeitsbewegung gab, die sogar sozialrevolutionäre Züge trug. Angesichts des kontinentalen Panoramas, das die Independencia bis 1821 bot, stellt sich um so nachdrücklicher die Frage, wie die peruanische Ausnahme zu erklären ist.

Woraus resultierte die lange Treue zum spanischen Imperium?

Dass der Kolonialpakt im Vizekönigreich Peru länger als sonst im kontinentalen Teil Spanisch-Amerikas Bestand hatte und erst von außen aufgebrochen werden konnte, hat verschiedene Gründe. Das Fundament für das lange Verharren im Kolonialreich bildete die enge Allianz zwischen spanischer Kolonialverwaltung und kreolischer Aristokratie, die sich aus einer Reihe von gemeinsamen Interessen speiste. Den kreolischen Großgrundbesitzern in der Sierra saß immer noch die Furcht in den Knochen, die die Rebellion von 1780/1781 unter der Führung von Tupac Amaru II. ausgelöst hatte. Dieser größte Indio-Aufstand Südamerikas während der Kolonialzeit hatte tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Spanier wie Kreolen fürchteten gleichermaßen eine erneute Erhebung der indigenen Bevölkerungsmehrheit, bei der die Erinnerung an die Inkazeit immer noch lebendig war.

Hinzu kamen handfeste ökonomische Interessen. So war die Handelsoligarchie der peruanischen Hauptstadt Lima existentiell auf jene Garantien und Privilegien angewiesen, die nur die spanische Kolonialbürokratie vergeben und sichern konnte. Im Gegenzug finanzierte sie die wachsenden Ausgaben für den Unterhalt der spanischen Truppen und deren Kriegszüge. In Lima und an der Küste sicherte die spanische Kolonialherrschaft außerdem ab, dass die Institution der Sklaverei nicht angetastet wurde.

Als dritter Faktor ist die militärische Stärke der Royalisten zu nennen. Vizekönig Abascal, der sein Amt von 1806 bis 1816 ausübte, reorganiserte die königlichen Truppen und erhöhte ihre Zahl innerhalb von vier Jahren von 1.500 (1809) auf 8.000 Mann (1813). Hinzu kamen 40.000 Angehörige der Miliz. Außerdem verfügten die Spanier bis zum Verlust von Valdivia im Februar 1820 über die stärkste Marinebasis am Pazifik. Die wiederholten militärischen Expeditionen des Vizekönigs zur Niederschlagung der Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen in Chile, Oberperu (Bolivien) und Ecuador zeugen ebenso von der Überlegenheit der Royalisten wie die Siege über die Rebellionen und Aufstände in Peru selbst. Oft wird auch die kluge Politik von Abascal als wichtiger Faktor des Ausbaus von Peru zu einer Bastion der royalistischen Konterrevolution hervorgehoben (Lynch, S. 162).

Drei externe Faktoren, die den Weg zur Unabhängigkeitserklärung von 1821 ebnen Der peruanische Historiker Víctor Peralta benennt jene drei äußeren Faktoren, die seiner Meinung nach die innere Entwicklung Perus in ihrer Wechselwirkung so beeinflusst haben, dass im Juli 1821 die Unabhängigkeit erklärt werden konnte, ohne dass damit schon der Sieg über den kolonialen Machtblock gesichert war. Immerhin haben sie diesen soweit zersetzt, dass der Unabhängigkeitskrieg nunmehr innerhalb der royalistischen Bastion geführt werden konnte. Als erstes waren es die Ereignisse in Spanien selbst, wobei besonders die liberale Revolution von 1820 bis 1823, der sogenannte Trienio liberal, hervorzuheben ist. Die Ausschaltung der absolutistischen Konterrevolution im Mutterland, das Ausbleiben der spanischen Truppen, – immerhin 20.000 Mann, die gegen der Unabhängigkeitsbewegung endgültig das Genick brechen sollten, das erneute Inkrafttreten der Verfassung von 1812 und die Beschlüsse der Cortes schufen auch und gerade für die spanischen Kolonien eine grundsätzlich neue Situation. In Peru bewirkten sie im Lager der Royalisten Spaltungs- und Zersetzungstendenzen, während sie die Kräfte der Unabhängigkeits­bewegung sowohl innerhalb als außerhalb Perus deutlichen Auftrieb gaben.

Cadiz_Bild_Quetzal-Redaktion_gcDer zweite externe Faktor hat seinen Ausgangspunkt in der Mai-Revolution von 1810 in Buenos Aires. Die patriotische Bewegung am Rio de la Plata behauptete nicht nur ihre Unabhängigkeit von Spanien, die sie am 9. Juli 1816 auf dem Kongress von Tucumán endgültig deklarierte. Die argentinischen Provinzen profilierten sich auch zum entscheidenden Gegenspieler der Royalisten in Peru. Nachdem 1815 klargeworden war, dass die militärischen Kräfte für den direkte Vorstoß über Oberperu (Bolivien) nicht ausreichten, setzte José de San Martín auf den Umweg über Chile, um von dort aus Peru auf dem Seeweg vom Pazifik her zu erobern. Nach dem opferreichen Andenübergang 1817 mit einer Armee von 5.400 Mann und dem militärischen Sieg über die Spanier, der 1818 die Unabhängigkeit Chiles sicherte, startete San Martín seinen Befreiungsfeldzug Richtung Norden am 20. August 1820 von Valparaiso aus. Sein Verband zählte 4.500 Soldaten, acht Kriegsschiffe und 16 Transportschiffe. Am 8. September landeten die Truppen am Strand von Paracas in der Nähe des Hafens von Pisco, etwa 200 km Luftlinie südlich von Lima. Mit der feierlichen Proklamation der Unabhängigkeit Perus am 28. Juli 1821 sah sich San Martin, der Befreier des Südens, dann endlich am Ziel.
Drittens nahm mit dem Kongress von Angostura, der 1819 in Venezuela stattfand, die spätere Befreiung Perus durch Simón Bolívar Gestalt an. In der Schlacht von Boyacá konnte der Libertador den Spaniern die Herrschaft über Kolumbien entreißen. Zwei Jahre später, am 7. September 1821, gründete er die Republik von Großkolumbien, die die Territorien der bis dahin befreiten Provinzen Venezuelas, Ecuadors und Neugranadas umfasste. Die militärischen Siege in der Schlacht von Carabobo in Venezuela (24. Juni 1821) und am Pichincha in Ecuador (24. Mai 1822) festigten seine Position. Am 26. Juli 1822 traf sich San Martín in Guayaquil zum ersten und letzten Mal persönlich mit Bolivar, der die strategisch wichtige Hafenstadt kurz zuvor erobert hatte. Mehr als ein Jahr später, am 1. September 1823, zog der Befreier des Nordens triumphal in Lima ein, während San Martín nach seiner Rückkehr nach Lima alle seine Ämter aufgab und Peru am 22. September 1822 endgültig verließ. Will man die Gründe für diesen unerwarteten Ausgang des Treffens von Guayaquil verstehen, muss man sich den Ereignissen zuwenden, die sich in Peru bis dahin vollzogen hatten, wobei beide Lager – Royalisten und Independentistas – in den Blick zu nehmen sind.

Verschiebung der inneren Kräfteverhältnisse

Die Veränderung der Kräfteverhältnisse innerhalb Perus vollzog sich in einem Möglichkeitsfeld, das durch die oben beschriebenen intervenierenden Kräfte abgesteckt wird. Dabei lassen sich folgende Etappen unterscheiden. Die Jahre zwischen 1808 und 1814 bilden die erste Etappe, die maßgeblich durch zwei gegensätzliche Entwicklungen geprägt wird: Zum einen führten die Ereignisse in Spanien (Machtvakuum und die Cortes von Cadiz) zu einer politischen Liberalisierung; zum anderen gelang es den Royalisten unter Führung von Vizekönig Abascal, weitergehende Unabhängigkeitsbestrebungen im eigenen Machtbereich mit militärischen Mitteln zu unterbinden. Das Jahr 1814 leitet eine neue Etappe ein, die durch zwei Entscheidungen zugunsten der royalistischen Konterrevolution geprägt ist. Sowohl die absolutistische Restauration in Spanien als auch die Niederschlagung der Rebellion vom Cuzco, die von August 1814 bis März 1815 den andinen Süden Perus erschütterte, führten zur Stabilisierung des Vizekönigreichs als Bastion des Kampfes gegen die Unabhängigkeitsbewegung. Der Aufstand in Südperu, der unter der Führung von Mateo Pumacahua sowie der Brüder Angulo stand, hatte die volle Durchsetzung der Verfassung von Cadiz zum Ziel. Nach Dauer und Reichweite stellte er die bedeutendste Aktion der peruanischen Unabhängigkeitsbewegung dar. Nach dem Scheitern der Rebellen gab es nur noch einen Weg zur Unabhängigkeit – den der Befreiung von außen.

Die Landung der argentinisch-chilenischen Truppen in Peru im September 1820 eröffnete eine neue Etappe, die zur Unabhängigkeitserklärung vom 28.Juli 1821 und der Errichtung der Protektorats von San Martín führte. Die so gewonnene Unabhängigkeit stand jedoch auf schwachen Füßen. Zum einen basierte sie auf einem Kompromiss San Martíns mit der kreolischen Handelsoligarchie von Lima, die angesichts des Rückzugs des royalistischen Heeres in die Sierra und unter dem Eindruck des liberalen Aufstandes in Spanien in einer Allianz mit dem Libertador die beste Option sah, ihre Interessen und ihren Einfluss trotz dieser ungünstigen Bedingungen zu wahren. Zum anderen kontrollierten die Spanier weiterhin zwei Drittel das peruanischen Territoriums. Das royalistische Lager hatte sich 1821 unter dem neuen Vizekönig José de la Serna territorial wie militärisch reorganisiert und konsolidiert. Sein Vorgänger Joaquín de Pezuela, der dieses Amt seit 1816 innehatte, war von den Offizieren der königlichen Truppen am 29. Januar 1821 in Aznapuquío zu Abdankung gezwungen worden. Ihm wurde vorgeworfen, bei der Rückeroberung Chiles versagt, das Vorgehen von San Martin falsch eingeschätzt und dessen Vormarsch in Peru nicht gestoppt zu haben. La Serna nutzte den Rückzug aus der Küstenregion, um die Region um Cuzco zum neuen Zentrum seiner Macht auszubauen.

Damit war 1822 jenes Patt entstanden, das San Martín veranlasste, sich im Juli mit Bolívar in Guayaquil zu treffen. Dabei ging es ihm in erster Linie um eine Absprache über das weitere Vorgehen und die dringend benötigte militärische Unterstützung im Kampf gegen die Spanier. Beiden Libertadores war klar, dass San Martin in der schwächeren Position war. Aber selbst sein Angebot an Bolívar, sich dessen Kommando unterzuordnen, um Peru vollständig zu befreien, konnte diesen nicht veranlassen, Truppen in der notwendigen Anzahl zur Verfügung zu stellen. In dieser Situation zog San Martín den einzig vernünftigen Schluss und trat den Rückzug an. In Lima hatte sich die politische und ökonomische Situation inzwischen so weit verschlechtert, dass San Martín sein Protektorat über Peru aufgab und schließlich das freiwillige Exil in Frankreich wählte, wo er am 17. August 1850 starb.

Das Desaster des kreolischen Interregnums und die Intervention Simón Bolívars

Nachdem San Martín am 22. September 1822 Peru verlassen hatte, nahm die peruanische Aristokratie ihre Angelegenheiten selbst in die Hand. Der Libertador hatte noch den ersten Verfassungsgebenden Kongress eröffnet, der ein dreiköpfige Regierungsjunta (José La Mar, Felipe Antonio Alvarado und Manuel Salazar) ernannte. Aber bereits im Februar 1823 entließ der Kongress unter dem Druck hoher Offiziere dessen Mitglieder und wählte José de la Riva Agüero zum ersten Präsidenten Perus. Nach knapp vier Monaten übernahm José Bernardo de Torre Tagle die Amtsgeschäfte, die er bis Februar 1824 ausübte. Da Riva Agüero sich jedoch weigerte, seine Abwahl anzuerkennen, gab es bis zu seiner Gefangennahme im November 1823 in Peru „zwei Staatspräsidenten, zwei gesetzgebende Organe, einen Vizekönig und verschiedene, sich ohne Koordinierung oder rechten Oberbefehl an den verschiedensten Fronten bekämpfende Heere“ (Handbuch …, Bd. II, S. 285).Peru_Bolivar_Bild_Quetzal-Redaktion_gc

Auch im Lager der Royalisten kam es im Januar 1824 zu einer Spaltung mit weitreichenden Konsequenzen. Nachdem General Pedro Antonio Olañeta, ein strammer Anhänger des Absolutismus, von der neuerlichen Restauration in Spanien erfahren hatte, wandte er sich mit seinen Truppen gegen Vizekönig La Serna, der als Anhänger der Verfassung von Cadiz galt. Dieser sah sich militärisch nicht nur deutlich geschwächt, sondern musste sich auch noch in einem Zwei-Fronten-Krieg behaupten.

Von der Fragmentierung und Schwächung beider Lager – Republikaner wie Royalisten – profitierte Simón Bolívar, der seit seinem Einzug in Lima am 1. September 1823 auf die Gelegenheit wartete, den Kampf gegen die Spanier endgültig zugunsten der Unabhängigkeitsrevolution zu beenden. Peru war nun jener Ort, an dem die Entscheidung fallen musste. In der Schlacht von Ayacucho am 9. Dezember 1824 erlitten die spanischen Truppen unter La Serna eine niederschmetternde Niederlage und mussten kapitulieren.

Gewährt, errungen oder empfangen?

Damit kommen wir wieder zur Ausgangsfrage zurück. Wurde die Unabhängigkeit Perus nun gewährt, errungen oder empfangen? Die Position der „gewährten Unabhängigkeit“ („independencia concedida“) betont den entscheidenden Anteil, den die beiden Libertadores José de San Martín und Simón Bolívar an der Befreiung des Landes hatten. Sie wurde 1972 von Heraclio Bonilla und Karen Spalding vertreten, die sich damit gegen die offizielle Historiographie wandten, nach deren Auffassung die Unabhängigkeit das Ergebnis des heroischen Kampfes der Peruaner gewesen sei, die somit ihre Befreiung gemeinsam errungen hätten („independencia conseguida“). Im Sinne einer errungenen bzw. selbst erkämpften Unabhängigkeit werden heute neben der Rebellion von Cuszco 1814 vor allem die Rebellion von Huánuco 1812 und die verschiedenen lokalen antiroyalistischen Guerillabewegungen in den Anden (montoneras), die vor allem von der bäuerlichen und indigenen Bevölkerung getragen wurden, als Argumente ins Feld geführt. In der neueren Forschung wird vermehrt die Interpretation der „empfangenen Unabhängigkeit“ („independencia concebida“) vertreten. Aus dieser Perspektive sind die Einflüsse der politischen Revolution in Spanien (Liberalismus, Verfassung von Cadiz) maßgeblich für den Erfolg der Unabhängigkeitsbewegung in Peru verantwortlich.

Im Kern geht es in den Auseinandersetzungen um die „richtige“ Interpretation der peruanischen Unabhängigkeit um das Verhältnis zwischen inneren und äußeren Faktoren. Wenn man außerdem anerkennt, das der Kampf um die Unabhängigkeit ein langer und wechselvoller Prozess gewesen ist, dann stellen die verschiedenen Sichtweisen keinen Gegensätze dar, sondern ergänzen sich gegenseitig. Allerdings bleibt dann immer noch die Frage nach der Gewichtung der einzelnen Faktoren. Die historischen Fakten belegen zweierlei: Erstens waren die Kräfte, die innerhalb des Vizekönigreichs Peru um die Unabhängigkeit kämpften, letztlich zu schwach, um diese aus eigener Kraft zu erringen. Zweitens stellen die beiden entscheidenden Ereignisse des Unabhängigkeitskampfes – die Unabhängigkeitserklärung vom 21. Juli 1821 und die Kapitulation der spanischen Truppen nach der Schlacht von Ayacucho am 9. Dezember 1824 – das Ergebnis der militärischen Intervention von außen unter Führung von San Martín und Bolívar dar.

Natürlich hatte das Wechselspiel von ausländischer Intervention, Revolution und Konterrevolution in Spanien einen entscheidenden Einfluss auf die Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien. Dieser wirkte jedoch überall in Spanisch-Amerika. Die Unterschiede ergaben sich vor allem daraus, wie der „spanische Faktor“ in den jeweils entscheidenden Situationen von den amerikanischen Kreolen vor Ort bewertet wurden. Auch in diesem Punkt ist der Beleg für Peru klar: Die entscheidenden Fraktionen der kreolischen Aristokratie gaben der Fortsetzung des Kolonialpaktes bis 1821 den Vorzug vor der selbst erkämpften Unabhängigkeit. Unter den damaligen Bedingungen in Peru hätte diese nämlich die Mobilisierung der indigenen und bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit erfordert, was wiederum die „Gefahr“ einer sozialen Revolution heraufbeschworen hätte.

Angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse in Chile (ab 1818) und Kolumbien (ab 1819) sowie des eigenen Versagens während des Interregnum 1822-1823 sowie bot dann die späte Befreiung von außen – zunächst 1821 durch San Martín und dann 1824 durch Simón Bolívar – für die kreolische Elite den geeigneten Kompromiss, um diese Gefahr abzuwenden.

 

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Literatur

Bernecker, Walther: Simón Bolívar, in: Werz, Nikolaus (Hrsg.): Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika, Frankfurt a. M. 2009, S. 80-101

Bernecker, Walther: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. II, Stuttgart 1992, S. 263-286

Bonilla, Heraclio/ Spalding, Karen: La independencia en el Perú: las palabras y los hechos, in: Bonilla, Heraclio u.a.: La independencia en el Perú, Lima 1972, S. 15-64

Contreras Carranza, Carlos/ Glave, Luis Miguel (Hrsg.): La independencia del Perú: ¿Concedida, conseguida, concebida? Lima 2015

Lynch, John: Las revoluciones hispanoamericanas 1808-1826, Barcelona 2008 (11. Auflage), S. 158-188, 265-291

Peralta Ruíz, Víctor: Los tres escenarios externos de la independencia del Perú, in: Quipu virtual – Boletín de Cultura Peruana – Ministerio de Relaciones Exteriores, No. 10, 7-8/2020, S. 1-3

Pietschmann, Horst: José de San Martín, in: Werz, Nikolaus (Hrsg.): Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika, Frankfurt a. M. 2009, S. 50-78

Vargas Vaca, Francisco Antonio: La proclama del 28 de julio de 1821, in: Revista Bicentenario, Lima, diciembre de 2020, S. 144-151

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Bildquellen:  [1-3] Quetzal-Redaktion_gc

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