Ist es Ihnen auch schon einmal so ergangen? Sie kennen einen bekannten Autor über seine Schriften. Sonst verbindet sie mit ihm nichts – denken sie zumindest. Aber dann kommt es ganz anders… So war es bei mir mit dem renommierten Mexiko-Historiker Friedrich Katz, dessen Porträt sie hier lesen können. Das nächste Porträt wird eines vom Befreiungstheologen Leonardo Boff sein.
Mexiko im Herzen – Friedrich Katz
Von Friedrich Katz hatte ich vor dem Schreiben an diesem Artikel zwei seiner Monographien gelesen, die ich auch meinen Studierenden in diversen Seminarplänen anempfohlen habe: Vorkolumbische Kulturen. Die großen Reiche des alten Amerikas (1979), das sich den sozioökonomischen Verhältnissen in den Reichen der Azteken und Inkas widmet und das Standardlektüre im Seminar „Vorkapitalistische Produktionsverhältnisse in Lateinamerika“ war, und Pancho Villa (1968), ohne das man kein Seminar zur „Revolutionstheorie“ halten kann, wenn man die Mexikanische Revolution einbeziehen will. Nimmt man The Secret War in Mexico hinzu, hat man jene drei Werke Katz‘, die Claudio Lomnitz (2011), einer der besten Kenner Mexikos und auch Katz‘, als dessen „hitos“ bezeichnet.
Bronia und Leo: die Spurenleger
Eigentlich hätte mir der Name „Katz“ aber schon früher begegnen sollen, denn ich meinte, Wolfgang Kießlings Exil in Lateinamerika (1980) schon lange davor aufmerksam gelesen zu haben. Immerhin ist dort auf vielen Seiten von Leo (Lieb) Katz die Rede, der als Historiker und Philosoph, Schriftsteller und Politiker zum „aktiven Kern bei der Formierung der antifaschistischen Mexikoemigration“ (Kießling 1980, 195) gehörte. Leo Katz, geboren 1892, kam aus den Karpaten in der Bukowina in Österreich-Ungarn, nahe der rumänischen Grenze. Als 15jähriger wurde er 1907 Augenzeuge eines rumänischen Bauernaufstandes und sah, wie die Aufständischen niedergemetzelt wurden. Er hatte, anstatt wie ursprünglich gedacht, Rabbiner zu werden, in Wien Geschichte studiert und darin auch promoviert. Zunächst, seit 1919, Mitglied der Österreichischen Kommunistischen Partei, trat er später der KPD bei und schrieb für die „Rote Fahne“. Danach, von Paris aus, wohin er nach der Machtübernahme Hitlers emigrierte, übernahm er Aufgaben für die Republikanische Regierung in Spanien. Er soll Waffen dorthin geschmuggelt haben. Nachdem er, Kommunist und – überzeugter, wenn auch nicht-religiöser – Jude, im Anschluss an einen etwa dreijährigen Aufenthalt in den USA 1941 nach Mexiko emigriert war, leitete er die erste Parteigruppe der KPD in diesem lateinamerikanischen Land. Hier gehörte er auch zur Redaktion der Roten Fahne, für die neben ihm die Brüder Heinrich und Thomas Mann, Ludwig Renn, Anna Seghers, Oskar Maria Graf, Lion Feuchtwanger und Bodo Uhse schrieben, um nur einige Autoren zu nennen. Katz verfasste für die Zeitung vornehmlich Satiren. Zudem war er Mitbegründer des Verlages El Libro Libre, in dem man viele der soeben genannten Autorennamen wiederfindet. Nach dem Krieg wurde Leo Katz Direktor der Zeitung „Volksstimme“ in Wien und schrieb Kinderbücher.
Sie werden es erraten haben – Leo Katz war der Vater von Friedrich Katz. Friedrichs Mutter hieß Bronia (geb. Rein) und arbeitete als Sekretärin. Während des spanischen Bürgerkrieges war sie für die „Rote Hilfe“ tätig. Friedrich war deren einziges Kind.
Friedrich: Von Exil zu Exil zu Exil
Friedrich Katz wurde am 13. Juni 1927 in Wien geboren. Mit drei Jahren übersiedelte er mit seiner Familie nach Berlin. Als er sechs Jahre alt war, musste sein Vater nach Paris flüchten, und so verschlug es alle Katz‘ dorthin, von wo aus sie 1938 von Frankreichs Innenminister persönlich zwar höflich, aber bestimmt des Landes verwiesen wurden. Mit Touristen-Visa reisten sie daraufhin in die USA, nach New York. Sie wohnten in der (auch) jüdischen Upper West Side, nicht weit von Harlem. Doch die USA erteilten jüdischen Flüchtlingen zu dieser Zeit kein Dauervisum, sodass die gesamte Katz-Familie 1940 ihr Glück in Mexiko versuchte. Dort regierte Präsident Lázaro Cárdenas, institutioneller Fortführer der Mexikanischen Revolution, der gerade die Agrarreform initiiert hatte und sich persönlich für Leo Katz interessierte. Cárdenas akzeptierte europäische Flüchtlinge jeglicher Façon in seinem Land, darunter spanische Republikaner und andere Antifaschisten. Da die USA während des Zweiten Weltkriegs, in den sie involviert waren, jeden Nazi-Einfluss in ihrem lateinamerikanischen „Hinterhof“ vermeiden wollten, ließen sie Cárdenas gewähren, obwohl dieser ihnen keine Militärbasen auf mexikanischem Territorium gestattete.
Mit 13 Jahren betrat Friedrich Katz damit erstmals den Boden eines Landes, aus dem er nicht fliehen musste. Für die Geschichte Mexikos begann er sich aus Trotz zu interessieren: Denn in seinem Französisch-Mexikanischen Lyzeum wurde sie nicht gelehrt. Auf seinen Wegen von einem Exil ins andere lernte der junge Friedrich Französisch, Englisch und Spanisch. Deutsch und Jiddisch, ja Hebräisch sprach er ohnehin, obwohl er sich damals (noch) nicht als Jude fühlte (Molden 2017). Bald schrieb Katz sein erstes Essay über die Mexikanische Revolution, interessierte sich aber auch für jüdische Geschichte. Er wollte sich ursprünglich auf die „judíos indios“ (eine kleine indigen-bäuerliche Bevölkerungsgruppe mit jüdischen Traditionen in Mexiko) spezialisieren. Vieles faszinierte ihn von Anbeginn an Mexiko – neben der endlich gefundenen Sicherheit war das vor allem der Optimismus seiner Bewohner. Der war so ganz anders als die europäische Mutlosigkeit.
War Friedrich Katz nun Österreicher, Deutscher, Jude, US-Amerikaner oder Mexikaner? War er Kommunist oder ein nichtkommunistischer Marxist? „Ich bin ein Überlebender“ (Gilly 2010), pflegte er auf derartige Fragen zu antworten.
Studium und erste „Begegnungen“ mit Pancho Villa
Katz studierte von 1946 bis 1949 auf Staten Island in New York am dortigen Lutherischen Wagner-College und erlangte innerhalb von drei Jahren seinen BA-Abschluss. Einige Quellen berichten, dass er gern seine Studien an ebendieser Universität fortgesetzt hätte, andere hingegen verweisen auf seine Ambitionen, in Israel oder Wien Fuß zu fassen. In Mexiko, am Instituto Nacional de Antropología e Historia, dessen Qualität Katz später über die der Universitäten in Wien und Berlin stellen sollte, nahm er schließlich 1941 ein postgraduales Studium auf, das er als Historiker beendete. Schon hier faszinierte ihn die soziale Organisation der Azteken. In dieser Zeit begegnete Katz, in Tláuhac, erstmals indigenen Bauern, die noch in der Mexikanischen Revolution gekämpft hatten. Von deren Helden interessierten ihn vor allem Emiliano Zapata und Doroteo Arango Arámbula, besser bekannt als Francisco (Pancho) Villa, weil sie im Unterschied zu Lenin, Mao, Ho Chi Minh oder Fidel Castro keine Intellektuellen waren und den Unterschichten entstammten.
Dass sich Katz am Ende stärker Villa als Zapata zuwandte, lag zum einen daran, dass es zu dieser Zeit zu Zapata schon ein Buch von John Womack gab, Villa aber noch unerforscht war, und zum anderen, dass Villa im Unterschied zu Zapata umstritten war – entweder man liebte oder man hasste ihn – und sich um ihn diverse leyendas rankten. Katz empfand es als Herausforderung, bei Pancho Villa Geschichte von Legenden zu trennen (Katz in Estala Rojas 2010). Das war deshalb besonders schwierig, weil Villa sich selbst diese Legenden zu Eigen gemacht hatte und weil es zu ihm kein Archiv gab. Katz gelang es, Villa als Bandolero zu demystifizieren, endete der doch als Hacendado, nachdem es ihm, im Frieden, versagt geblieben war, Comandante der Rurales zu werden. Die Brutalität Pancho Villas verkannte Katz nicht. Manchmal, so berichtete er, träumte er von ihm (Domínguez Michael 2010). Katz‘ Interesse an Villa mündete in sein wohl bekanntestes Buch: Pancho Villa in der mexikanischen Version und The Life and Times of Pancho Villa in der Stanforder Edition. Beide Monographien sollten allerdings erst 1998 erscheinen, also mehr als ein halbes Jahrhundert, nachdem Katz‘ Interesse für den Protagonisten der Mexikanischen Revolution seinen Anfang genommen hatte.
Mexiko im Herzen, aber Promotion im schwierigen Wien
Mexiko hat Katz immer im Herzen behalten, wie Christian Kloyber (2012, 62) schreibt. Kloyber (2012, 63) zitiert ihn mit den Worten: „Auch als ich nach Österreich zurückkehrte, habe ich Mexiko im Geist niemals verlassen, denn meine gesamte Forschungstätigkeit, meine wissenschaftliche Arbeit, hatten in der einen oder anderen Form immer mit Mexiko zu tun.“ Gleichwohl, 1949 verließen die Katz‘ ihr mexikanisches Exil. Es war wohl eine Familien-Entscheidung. Die Reise sollte eigentlich nach Israel gehen, das Gepäck war auch schon auf dem Wege dorthin, doch der Zwischenaufenthalt in Wien wurde zum Reiseende. Hier, an der Universität Wien, absolvierte Friedrich Katz 1954 seine Promotion über die sozio-ökonomischen Beziehungen der Azteken im 15. und 16. Jahrhundert im Fach Anthropologie. Die daran angeschlossene Monographie Vorkolumbische Kulturen – diese nun nicht mehr nur den Azteken, sondern, nach Überzeugungsarbeit von Eric Hobsbawm, auch, vergleichend, zu den Inkas (die Mayas vermisst man darin) – sucht in Bezug auf das Verhältnis neolithischer Revolution und Hochkulturen in Lateinamerika im deutschsprachigen Raum nach wie vor ihresgleichen. Katz fand heraus, dass das weniger revolutionäre Azteken-Imperium Mexikos ein Legat für spätere revolutionäre Bewegung in Mexiko war, während das dem Inka-Reich versagt blieb, obwohl es doch die emblematische Figur eines Túpac Amarus hatte. (Carvallo Robledo 2009) Hier konstatierte Katz also einen klaren Unterschied zwischen Mexiko und Peru. Dafür sah er aber interessanterweise Ähnlichkeiten in der Entwicklung im Azteken-Reich in Vergleich zu den europäischen Gesellschaften in der Epoche der Conquista (Sánchez Díaz 2010).
Mayer (2012, 81 f.) verweist in diesem Kontext auf das besondere Interesse von Katz an Karl Wittfolgels Schrift Die orientalische Despotie (1962). Wittfogel verficht darin die Idee der „hydraulischen Gesellschaft“ und stellt den historisch-logischen Zusammenhang zwischen Ackerbau, Bewässerung, Überschuss, Tribut als Form der Aneignung von Überschuss einerseits und Hochkultur andererseits, aber auch zu politischer Despotie her. Solche Gesellschaften einer „asiatischen Produktionsweise“ fand Wittfogel vor allem in China, aber eben auch im Inkareich. Dies nun musste Katz, der zunächst zu den Azteken, dann aber eben auch zu den Inkas geforscht hatte, natürlich interessieren. Es faszinierte ihn aber nicht nur der unter Marxisten geführte Streit darüber, ob es eine solche (von Marx nur kurz erwähnte) „asiatische Produktionsweise“ realiter gab, sondern auch, ob das Konzept auch für Russland bzw. die Sowjetunion Gültigkeit beanspruchen kann.
Katz‘ Promotionsschrift wurde mit „sehr gut“ bewertet, doch „Vertreter der „‚klerikal-konservativen Restauration der Nachkriegszeit mit antisemitischem Subtext‘ (Friedrich Stadler) vermasselten ihm“, so Martina Kaller (2012, 37), „das Rigorosenzeugnis“: Katz‘ Hauptprüfer im Fach Philosophie war Leo Gabriel (Vater), dem eine Nähe zum Austrofaschismus nachgewiesen werden kann und der Katz für seine Prüfung nur ein „genügend“ gab. Damit war ausgeschlossen, dass Katz in Wien eine Assistentenstelle bekommen konnte. 50 Jahre später hat ihm die Universität Wien das Goldene Doktordiplom verliehen.
Ein Ruf in die DDR und einer aus ihr heraus
Zu jener Zeit fühlte sich Friedrich Katz als jüdischer Marxist an der Universität Wien nicht wohlgelitten, und so akzeptierte er zwei Jahre später ein Stellenangebot von der Humboldt-Universität in Berlin, vom Institut für Allgemeine Geschichte, Abteilung Geschichte der Neuzeit. Die Stelle bekam er, wie er selbst zu Protokoll gab, unter Mithilfe von Anna Seghers, die Katz in der mexikanischen Emigration kennengelernt hatte. Dass Alexander Abusch, Mitglied des Zentralkomitees der SED, der wie die Katz-Familie und Anna Seghers im mexikanischen Exil gewesen war, noch wenige Jahre zuvor Leo Katz als Vertreter eine „jüdisch-chauvinistischen Linie“ verunglimpft hatte (Molden 2012, 100, unter Verweis auf Jeffrey Herf), hielt dessen Sohn ebenso wenig davon ab wie die Verurteilung seines Kampfgenossen aus Mexiko, Paul Merker, als „zionistischer Agent“ durch die SED-Führung. Merker hatte immerhin zur engsten Führungsspitze der KPD und dann der SED gehört.
An der Humboldt-Universität habilitierte sich Friedrich Katz 1962 über die deutsche Außenpolitik während des Porfiriats und der Revolution in Mexiko. Im Kontext des Ersten Weltkriegs spielten in der Mexikanischen Revolution Geheimdiplomatie, aber auch Spionage, Desinformation und Sabotage eine besondere Rolle. Das Buch erschien, wenn auch mit tiefreifenden Veränderungen, 1981 unter dem spanischen Titel La guerra secreta en México und ein Jahr später im Verlag der Universität Chicago als The Secret War in Mexico. Es legt offen, dass Deutschland im Ersten Weltkrieg versucht hatte, einen Krieg zwischen den USA und Mexiko zu provozieren, damit erstere nicht noch in den letzten Jahren dieses Krieges in Europa intervenieren konnten. Katz schaffte es im Übrigen, diese Arbeit ohne ein Zitat von Walter Ulbricht zu veröffentlichen.
Bei einer Habilitation gibt es keinen offiziellen Betreuer, doch Martina Kallenbach (2012) vermerkt, dass Katz‘ „Betreuer“ in dieser Zeit der – wie er aus Österreich stammende – Walter Markov war, seines Zeichens Direktor des traditionsreichen, von Lamprecht begründeten Instituts für Kultur- und Universalgeschichte bzw. Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte an der Universität Leipzig. Welche Überraschung, die ich da in dem von den drei Wiener Historikern Kaller, Mayer und Molden (2012) herausgegebenen Büchlein über Friedrich Katz vorfand! Denn Walter Markov war der Doktorvater meines Doktorvaters, und mittelbar hatte ich damit – wie letztlich Katz auch – von ihm Vergleichende Revolutionsgeschichte gelernt. Dies ist mein erster, wenn auch indirekter persönlicher Bezug zu Friedrich Katz.
Nicht nur Walter Markov, auch meine beiden Leipziger Betreuer bzw. Gutachter Jürgen Kübler und Manfred Kossok haben Friedrich Katz gekannt genauso wie der oben zitierte Wolfgang Kießling, der an der Humboldt-Universität mit Katz sogar zusammengearbeitet hat. Mit Kossok verband Katz, wie David Mayer sagt (2012, 78), ein freundschaftliches Verhältnis. Katz war in Berlin vom Aspiranten zum Oberassistenten, dann zum Dozenten und schließlich (1969) zum ordentlichen Professor aufgestiegen. Es war indes nicht die Humboldt-Universität, sondern die Freie Universität Berlin, die ihm 2002 die Ehrendoktorwürde verlieh.
1970 hatte Katz – er verfügte ja über einen westlichen Pass – die Humboldt-Universität und Berlin in Richtung USA verlassen, aufgrund des – von der DDR unterstützten – sowjetischen Einmarsches in die Tschechoslowakei, so heißt es. So wie sein österreichische Genosse (der KPÖ) Ernst Fischer, der sich 1968 vom „Panzerkommunismus“ losgesagt hatte und daraufhin aus der KPÖ ausgeschlossen wurde, hatte auch Friedrich Katz die Idee eines „Sozialismus mit menschlichem“ Antlitz vertreten. Wie gern hätte ich ihn nachgefragt, welche genauen Beweggründe es waren, die ihn damals zum Weggang bewogen. Hatte er mit jemandem konkrete Konflikte? War es tatsächlich „nur“ der genannte, vor allem externe politische Grund? Konnte er es danach, im Realsozialismus zu leben, tatsächlich nicht mehr aushalten? Welche Rolle spielte dabei das Angebot, welches er nach einem einjährigen Aufenthalt von einem Jahr als Gastprofessor in Austin/Texas von der konservativen University of Chicago im Rahmen eines Rufes auf die dortige Professur für Latin American History erhielt? Leider ist anscheinend niemand mehr in Deutschland, den ich dazu befragen könnte: Die Zeitzeugen sind inzwischen allesamt verstorben.
Nota bene: In einer gemeinsam mit Eric Hobsbawm sowie Wilma und Georg Iggers verfassten Anzeige in der Frankfurter Rundschau vom September 2002 wandte sich der Österreicher Friedrich Katz an die Bundesrepublik Deutschland und deren Verantwortliche für Wissenschaftspolitik „um diese zu schnellstmöglicher Hilfeleistung im Interesse der wenigen, sich noch in der deutschen Wissenschaftslandschaft (….) (Auslassung in der Sekundärquelle) behauptenden Forscherinnen und Forscher der früheren DDR zu veranlassen. (…) (Auslassung H.Z.) Ohne ostdeutsche Intellektuelle in qualifizierten Berufen kann (…) (Auslassung in der Sekundärquelle) die in der früheren DDR sich ausbreitende Enttäuschung über den als Anschluss (kursiv H.Z.) empfundenen Prozess der Überstülpung westdeutscher Strukturen und Denkweisen (…) (Auslassung im Zitat) nicht überwunden werden“. (Zitiert in Van der Heyden 2013, 524) Seine Stasi-Akte wollte sich Katz nie ansehen.
Professur in Chicago – Wien muss verzichten
1971 erhielt Katz den Ruf auf eine Professur an der University of Chicago, doch es dauerte drei Jahre, bis ihm die US-amerikanische Einwanderungsbehörde erlaubte, US-amerikanischer Resident zu werden. Von 1992 bis 2002 leitete er an dieser Universität den Lehrstuhl für Geschichte. Zusammen mit seinem Kollegen John Coatsworth führte er dort ein Curriculum für Mexiko-Studien ein. Das Studienzentrum für mexikanische Geschichte heißt ihm zu Ehren seit 2004 Zentrum der mexikanischen Geschichte Friedrich Katz. An dieser Universität sollte Katz rund 40 Jahre bleiben, die zweite Hälfte seines Lebens, in der ersten Hälfte war er vertrieben. Doch Ruhe kehrte bei ihm auch hier nicht ein: Die Chicagoer Jahre waren für Katz die produktivsten. Auch die Biographie von Pancho Villa wurde hier fertiggestellt. Eine recht umfassende Aufstellung der vielen weiteren Publikationen von Friedrich Katz findet sich bei Sánchez Díaz (2010, 240).
1983 wollte die Universität Wien Katz dann doch gern zurück – als Gründungsprofessor des neu geschaffenen Lehrstuhls für Außereuropäische Geschichte unter der besonderen Berücksichtigung Lateinamerikas. Doch Katz lehnte aus privaten Gründen ab. Leider habe ich nicht herausfinden können, wer an seiner statt das Fach zwischen 1983 und 1990 in Wien vertreten hat. Von 1990 bis 2006, das ist bekannt, hatte diese Stelle Gerhard Drekonja inne. Im daran anschließenden Berufungsverfahren, das – folgenreich auch für mich – aus unerfindlichen Gründen scheiterte (Kallenbach 2012, 36), habe ich meinen zweiten persönlichen, wiederum indirekten Bezug zu Friedrich Katz.
Katz‘ Auszeichnungen und was Katz‘ Werk auszeichnet
Mit besonderem Stolz verwies Friedrich Katz auf seine mexikanischen Auszeichnungen: nach der Verleihung des Ordens Águila Azteca, dem höchsten Orden, den ein Ausländer in Mexiko erhalten kann und der Bedeutung nach gleichrangig mit dem Orden der Französischen Ehrenlegion, wurde Katz zum Ehrenbürger Mexikos und zum Doktor honoris causa der Universitäten Colima, Puebla und Michoacán ernannt. Die American Historical Association verlieh ihm den Bolton-Preis für das beste Buch über lateinamerikanische Geschichte, natürlich für „Pancho Villa“, und vergibt heute einen „Friedrich Katz-Preis“. Ohne Zweifel war Friedrich Katz zu seinem Tod am 16. Oktober 2010 der berühmteste Mexiko-Historiker.
Katz‘ wissenschaftlichen Verdienste sind vielfältig; nur einige von ihnen können hier benannt werden:
Zum ersten begründete er die Mexikanische Revolution als etwas was sie war – eine Revolution und kein einfacher Krieg oder gar ein bloßer Banditen-Aufruhr. Von nicht wenigen Forschern wurde der Mexikanischen Revolution ihr Revolutionsstatus aberkannt. Allzu gern wollten insbesondere US-amerikanische Kollegen Mexiko, selbst im Zusammenhang mit seiner exemplarischen Revolution, in die zweite oder dritte Reihe schieben. Im Unterschied zu den Mittelschichten-Revolutionen auf dem Südkonus (außer in Venezuela) hat es Katz im Weiteren als spezifisch mexikanisch betrachtet, dies sowohl in der Unabhängigkeitsbewegung als auch in der Mexikanischen Revolution, dass diese radikalen Umbrüche nicht nur von Führungspersönlichkeiten, sondern auch und vor allem von den „popular classes“ gemacht wurden. Mit den Worten von Claudio Lomnitz (2011) hat Katz damit Mexiko „deprovinzialisiert“ und zugleich dezidiert der rassistischen Interpretation „des Mexikaners“ als „biologische Subspezies“ widersprochen, wie man sie auch heute noch in kolonialistisch-rassistischen Diskursen wiederfindet. Nimmt man Trotzki (mit seinem fatalen Schicksal in Mexiko) aus, hat niemand von den Theoretikern der Zweiten und Dritten Internationale die Mexikanische Revolution entsprechend gewürdigt. Von den marxistischen „Klassikern“ hatte sich nur Marx, aber weder Lenin, Kautsky noch Luxemburg für sie interessiert.
Zum zweiten ging Katz mit der „Einzigartigkeit“ der Mexikanischen Revolution aber auch vorsichtig um, indem er sie „universalistisch“ (Lomnitz 2011), mithin im Vergleich betrachtete. Die komparative Methode bestimmte auch Katz‘ andere Werke, etwa, wie oben schon erwähnt, sein Buch „Vorkolumbische Kulturen“. Bei beiden Themen wird Katz‘ Überzeugung deutlich, dass nicht nur Vergleichbarkeit, sondern sogar Ähnlichkeit Mexikos mit bestimmten historischen Prozessen in Europa, aber auch anderswo auf der Welt besteht. Das hatte Katz bei den Azteken festgestellt, aber auch bei den Bauernrebellionen in Mexiko. So verglich er die Rancheros in Chihuahua mit den russischen Kosaken, den Hunnen und mongolischen Viehzüchtern. Ganz zweifellos hat hier Walter Markov (mit Karl Lamprecht im Kopf) seine intellektuellen, vor allem methodischen Spuren in den Werken von Katz hinterlassen. Neben seiner von Markov übernommenen globalgeschichtlichen und komparativen Methodik hatte Katz in Bezug auf Mexiko aber noch einen weiteren Vorteil: Als Europäer und „quasi-Mexikaner“ hatte er sowohl den nüchternen Blick „von außen“ als auch den emotionalen Blick „von innen“. Und so verbanden sich bei ihm, dies nun wie bei Markov und dessen Schülern, „breite Interpretation“ und „sorgfältige Aufmerksamkeit für die Details“ (Estala Rojas 2010).
Zum dritten hatte Katz eine dialektische Sicht auf das Verhältnis von Reform und Revolution, denn von den Führungspersönlichkeiten war es weder Zapata noch Villa, dem sein Hauptinteresse galt, sondern Lázaro Cárdenas, der den alten Staat zerstört und dann das Land mit Agrarreform, Erdöl-Nationalisierung und Bildungsreform konstruktiv (im Unterschied zu destruktiv) revolutionär umgestaltet hatte. Katz spricht hier ausdrücklich von zwei Etappen der Revolution, einer blutigen, „von unten“, mit der die Revolution „installiert“ wurde, und einer institutionellen, „von oben“, als die Revolution zur Regierung geworden war, was in Mexiko mit Präsident Cárdenas geschah.
Daraus ergibt sich für Katz zum vierten die Besonderheit Mexikos, etwa im Unterschied zu Frankreich, Russland oder China, dass hier die zweite Etappe der Revolution ohne revolutionären Terror und Diktatur auskam. Die Regierung Cárdenas sei, so Katz, demokratisch gewesen, denn sie duldete Opposition (wenn sie auch deren Sieg nicht geduldet hätte) sowie deren Presse und hatte auch mit der Kirche ihren Frieden geschlossen. Und Cárdenas habe, anders als Stalin oder Mao, als seine Regierungszeit zu Ende war, sein Amt zur Verfügung gestellt. Katz sah in Cárdenas einen Sozialisten, allerdings mehr einen Sozialdemokraten denn einen Kommunisten. (Domínguez Michael 2010) Lomnitz (2011) nennt Katz folgerichtig einen „Cardenista“, denn Cárdenas war für ihn Held und „Modell“ zugleich.
Zum fünften war Katz in seinem Blick auf das spätere politische Regime in Mexiko einerseits nicht blauäugig: Er sah in ihm durchaus diktatorische und repressive Elemente. Doch da sich sein Vergleich insbesondere auf die Militärdiktaturen im Südkonus richtete, „kam“ Mexiko bei ihm andererseits auch oft zu demokratisch „weg“. (Carvallo Robledo 2009; Katz in Estala Rojas 2010). Da war Katz dann doch, im doppelten Sinne – zeitlich wie inhaltlich – bis zum Letzten ein entschiedener Verteidiger der Mexikanischen Revolution. Das war, wie Lomnitz (2011) meint, immer auch eine „persönliche Verteidigung“, hatte Katz doch als Jude und Marxist Mexiko sein Leben zu verdanken. Außerdem hatten sich Cárdenas und Mexiko (im Völkerbund), im Übrigen als einziges Land, ganz klar vom „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich distanziert, was Katz natürlich imponierte. Leider habe ich bei Friedrich Katz nichts zu einer möglichen Ähnlichkeit von revolutionärem, in wesentlichen Zügen nicht-demokratischem Institutionalismus in Gestalt des PRI-ismo in Mexiko und dem DDR-Staatssozialismus gefunden. Ich hätte gern gewusst, was Katz, der ja die DDR wegen fehlender Demokratie verlassen hatte, dazu gesagt hätte.
Als Katz 2010 in den USA gestorben war, berichteten darüber so gut wie alle mexikanischen Zeitungen sogar auf ihren Titelseiten davon. Radiosender wiederholten mit ihm geführte Interviews, und in den Schulen sowie Universitäten wurde sein Porträt angebracht. Welche Ehre für einen Historiker – noch dazu in einem Land, das nicht seines war, auch wenn er es bis zuletzt in seinem Herzen trug.
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Zitierte Literatur:
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Domínguez Michael, Christopher (2010): Villa se aparece en mis sueños: Friedrich Katz. In: Letras Libres. Unter: https://www.letraslibres.com/mexico/xi-villa-se-aparece-en-mis-suenos-friedrich-katz (Zugriff: 06.11.2019).
Estala Rojas, Eduardo (2010). An Interview with Friedrich Katz. In: Literal. Latin American Voices, 27 de Septiembre. Unter: http://literalmagazine.blogspot.com/2010/09/it-is-remarkable-that-past-influences.html (Zugriff: 06.11.2019).
Gilly, Adolfo (2010): Friedrich Katz, el villista que vino de Viena. In: La Jornada, 11 de Noviembre. Unter: https://www.jornada.com.mx/2010/11/11/opinion/018a1pol (Zugriff: 06.11.2019).
Kaller, Martina (2012): Friedrich Katz an der Universität Wien. Von der Exzellenz ins Nichts. In: Kaller, Martina/Mayer, David/Molden, Berthold (eds.): Friedrich Katz. Essays zu Leben und Wirken eines transnationalen Historikers. Frankfurt/M., 35 – 44.
Katz, Friedrich (1979): Vorkolumbische Kulturen. Die großen Reiche des alten Amerikas. Essen.
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Katz, Friedrich (1998): The Life and Times of Pancho Villa. Stanford.
Kießling, Wolfgang (1980): Exil in Lateinamerika. Leipzig.
Kloyber, Christian (2012): Biographische Fragmente. Friedrich Katz – Erinnerungen ans mexikanische Exil. In: Kaller, Martina/Mayer, David/Molden, Berthold (eds.): Friedrich Katz. Essays zu Leben und Wirken eines transnationalen Historikers. Frankfurt/M., 55 – 64.
Lomnitz, Claudio (2012): El espíritu de Friedrich Katz. In: Nexos. Unter: https://www.nexos.com.mx/?p=14971 (Zugriff: 06.11.2019)
Mayer, David (2012): Der Weltenläufer: Friedrich Katz und die historiographischen Debatten seiner Zeit. In: Kaller, Martina/Mayer, David/Molden, Berthold (eds.): Friedrich Katz. Essays zu Leben und Wirken eines transnationalen Historikers. Frankfurt/M., 73 – 84.
Molden, Berthold (2012): Die Selbstermächtigung der Maus. Friedrich Katz und das Überleben. In: Kaller, Martina/Mayer, David/Molden, Berthold (eds.): Friedrich Katz. Essays zu Leben und Wirken eines transnationalen Historikers. Frankfurt/M., 97 – 106.
Molden, Berthold (2017): Las muchas familias de un joven cosmopolita. Instantáneas de Friedrich Katz en París, Nueva York y México (1938 – 1949). In: L‘ Ordinaire de Amérique, No. 223. Unter: https://journals.openedition.org/orda/3906 (Zugriff: 06.11.2019).
Sánchez Díaz, Gerardo (2010): Friedrich Katz (1927 – 2010). In: Tzintzun, No. 52, Julio/Diciembre. Unter: http://www.scielo.org.mx/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S0188-28722010000200011 (Zugriff: 06.11.2019).
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Wittfogel, Karl (1962): Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht. Köln/Berlin.
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Bildquellen: [1][3]CC_wiki [2]CoverScan