Verflucht kam ich zur Welt. Von Mutters Möse bis zu der Kiste, in der ich jetzt liege, war mein Leben verflucht.
Eine Aura von Scheiße umgibt mich. (…) Seit meiner Geburt sitze ich in der Scheiße, komplett in der Scheiße …
Nach diesem „Einstieg“ in die Geschichte war ich fast davon überzeugt, dass die Rezension sehr kurz sein und nur aus einem Satz bestehen wird: Nach der hundertsten Erwähnung des Wortes Scheiße habe ich aufgehört zu lesen. Ich hatte eigentlich keine Lust mehr weiterzulesen. Aber so ist es dann doch nicht gekommen, die Aversion verlor sich irgendwann, vermutlich mit dem weitgehenden Verschwinden der Fäkalsprache. Dieser letztendlich poetischen und irgendwie in der Schwebe gehaltenen Geschichte konnte ich mich sehr bald nicht mehr entziehen.
Nona Fernández‘ Roman, in Chile bereits 2003 erschienen, erzählt eine Familiengeschichte, die auf fantastische Weise mit der Geschichte des Landes verwoben wird. Rucia und ihr älterer Bruder Indio wachsen in einem Haus in der Nähe des Flusses Mapocho in Santiago de Chile auf, mit ihren Eltern, der Großmutter und ungenannten anderen Mitbewohnern. Der Vater, von Beruf Lehrer, ist ein großer Geschichtenerzähler, der die Bewohner des Viertels, insbesondere die Kinder, mit seinen Geschichten zu verzaubern vermag. Das Kindheitsidyll endet, als die Militärs die Macht übernehmen, eine Ausgangssperre verhängt und ein Nachbar nach dem anderen verhaftet wird. Eines Nachts holen die Soldaten auch den Vater ab, der damit aus dem Leben der Kinder verschwindet. Die Mutter verlässt mit ihnen das Land. Fortan leben sie irgendwo an einem nicht näher benannten Strand, mehr schlecht als recht, aber in einer fast ursprünglichen Idylle. Die Geschwister entwickeln ein inzestuöses Verhältnis, das die Mutter schließlich unterbindet.
Die erwachsene Rucia ist die Erzählerin dieser Geschichte. Auf der Suche nach dem geliebten Bruder kehrt sie nach Santiago in das mittlerweile halb zerfallene Haus ihrer Familie zurück. Mit der Erinnerung an die Kindheit an den Ufern des Mapocho verbinden sich die Geschichten ungezählter Toter: Die Mapuche, die im 16. Jahrhundert im Kampf gegen die Spanier gefallen sind und deren enthaupteter Anführer Lautaro auf der Suche nach seinem Kopf immer noch die Stadt durchstreift, von der Plaza zum Mapocho, vom Mapocho zum Cerro San Cristóbal, vom Cerro wieder zur Plaza; die unzähligen Arbeiter, zumeist Strafgefangene, die zweihundert Jahre später beim Bau einer Brücke über den Fluss starben; die Transvestiten, die während der Regierungszeit von General Ibañez der Moral wegen aus der Stadt entfernt und (so heißt es) getötet wurden; und nicht zuletzt die unzähligen Opfer der Militärdiktatur, deren Leichen der Fluss mit sich trug.
Rucia wird Indio letztlich nicht finden, dafür aber ihren Vater treffen. Dieser hatte sich von den Militärs einspannen lassen, die Geschichte Chiles in deren Interesse neu zu erzählen. Er lebt ein priviligiertes Leben, doch gepeinigt von der Trauer um seine verlorene Familie und der Scham über seinen Verrat. Für seine Frau war er aufgrund der Kollaboration mit den Militärs „gestorben“, weshalb sie seinen Tod in einem furchtbaren Feuer erfindet. Als Indio die Lüge entdeckt, kommt es zur Katastrophe.
„Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ ist eine Geschichte von Betrug und Selbstbetrug, von gestohlenem und nicht gelebtem Leben, von Wirklichkeit und Schein. Das Buch weckt Erinnerungen an Rulfos „Pedro Páramo“. Nichts ist hier wie es scheint, die Lebenden und die Toten teilen sich die Stadt. Denn der Tod ist eine Farce.
Nona Fernández:
Die Toten im trüben Wasser des Mapocho.
Septime Verlag Wien 2012.
ISBN 978-3-902711-09-0