Die Süddeutsche Zeitung hat vor fast einem Jahr ihre Bibliothek kreiert, gute Bücher für 4,90 €. Die Idee dazu stammt aus Italien. „50 große Romane des 20. Jahrhunderts, ausgewählt von der Feuilletonredaktion der Süddeutschen Zeitung“, so steht es auf jedem Band. Die Auswahl sagt uns nicht unbedingt etwas über die Weltliteratur im vergangenen Jahrhundert (das wäre auch ein sehr gewagtes Unterverfangen), aber doch allerhand über die Feuilletonredaktion der SZ. Damit meine ich jetzt nicht, dass es von Cortázar „nur“ eine Erzählung gibt und Oscar Wildes „Dorian Gray“ in den 90ern des 19. Jahrhunderts erschien. Unter den 50 Titeln fi nden sich zwei Osteuropäer (wenn man großzügig Kafka und Jurek Becker mitzählt, vier), zwei Lateinamerikaner, kein Asiat, kein Afrikaner, gerade einmal vier Frauen … Die absolute Mehrzahl der Autoren kommt aus Westeuropa (vor allem aus dem deutschsprachigen Raum) und aus Nordamerika (sprich den USA). Die Welt ist halt klein …
Juan Carlos Onetti (1909-1994) ist hierzulande kaum bekannt, zu Unrecht, wie dieses Buch beweist. Allerdings dürften wohl vor allem sein 95. Geburtstag und der 10. Todestag der Grund gewesen sein, weshalb er in die Bibliothek aufgenommen wurde. Onettis Roman „Das kurze Leben“, 1950 erschienen, gilt vielen Kritikern als Wegbereiter des modernen lateinamerikanischen Romans.
Juan María Brausen ist 40, verheiratet, von Beruf Werbetexter. Allzu viel ist in seinem Leben nicht passiert, er steckt in einer tiefen Krise: Seine Ehe ist nur noch eine Farce, sein Job unsicher – und schließlich verliert er ihn. Frustriert und gelangweilt von seinem Leben nimmt er den Vorschlag seines Freundes und Kollegen an und beginnt mit der Arbeit an einem Drehbuch; ein zusätzlicher Geldverdienst und die Möglichkeit, etwas zu schreiben, das über die bisherige Arbeit in der Werbeagentur hinaus geht. Doch nach und nach bekommt die fi ktive Geschichte eine größere Bedeutung für Brausen, sie verschafft ihm eine andere Existenz. Die Geschichte von dem Provinzarzt Díaz Grey, der einer ihm unbekannten Frau Morphium verschreibt und durch sie in einen Strudel von Abenteuern gerissen wird, ergreift von ihm Besitz. Brausen sieht sich immer mehr in der Rolle dieses Arztes.
Darüber hinaus hat er Kontakt zu seiner Nachbarin Queca aufgenommen, einer Prostituierten. Mit diesem Schritt baut er sich eine „echte“ falsche Identität auf: Er nennt sich ihr gegenüber Arce, und fasst schließlich den Entschluss, Queca zu töten. Als Queca tatsächlich ermordet wird, fl ieht er mit dem Mörder in eben die Provinzstadt, die Schauplatz seines Drehbuchs ist. Aus seinen drei verschiedenen Identitäten sind da schon zwei geworden, Brausen ist bereits verschwunden.
Onetti lässt aus seinen drei Erzählsträngen des Romans zwei werden, ganz allmählich, fast unbemerkt – aber zwingend: Juan María Brausen, der eigentliche Protagonist, verschwindet in seinen eigenen Fiktionen und lebt schließlich als Arce/Díaz Grey das Leben, das er „von Anfang suchte … den anderen gegenüber unverantwortlich“.
Juan Carlos Onetti
Das kurze Leben
Süddeutsche Zeitung Bibliothek
München 2004
ISBN 3-937793-12-7