Nie vergaß er das erste Mal, als er Haschisch geraucht hatte, er kam zu seiner Großmutter nach Hause, die Augen verquollen, und dieses angenehme Gefühl, schaltete den Fernseher an, eines Tages, dachte er, werde ich Miltão umbringen. Ich werde meine Männer haben. Werde töten. Werde wachsen.“
Mit ihrem dritten Roman führt uns Patrícia Melo schonungslos in das Leben von José Luís, einem Jungen einer Favela in Rio de Janeiro, ein, der von seiner Mutter verprügelt, auf der Suche nach einem abwesenden Vater davon träumt, einmal anstelle Miltãos Anführer des Drogenhandels vom Morro do Berimbau zu werden, damit er nicht wie seine Mutter ein ganzes Leben schuften muss, damit er einmal jemand wird, der respektiert ist. Wie in ihren anderen Romanen wirkt Patrícia Melos Stil abgehackt, rasch und filmisch, was einerseits die Lektüre ganz spannend macht und andererseits auch der hohen Geschwindigkeit des Lebens eines Drogenhändlers entspricht, weil „[es] in unserer Branche […] nicht die sogenannte ‚verlorene Zeit‘ [gibt]“. Schon mit 11 drogensüchtig, auf den Strassen Kleinverbrechen begehend, um seine Drogen zu kaufen, klettert er Schritt für Schritt die Stufenleiter der Drogenhandelshierarchie empor, bis zu dem Tag, an dem Reizinho tatsächlich der kleine König der Favela wird.
Dabei lässt auch die Autorin den Alltag eines brasilianischen Slums durchblicken, wo der Staat schon lange aufgegeben hat und von der Machtübung der Drogenverkäufer ersetzt wird, von der Kinderbetreuung über ganz gemeinsame Angelegenheiten bis hin zur Infrastruktur: „Es gibt nur eine Art und Weise, uns die Polizei vom Hals zu halten. Indem wir für sie die Drecksarbeit erledigen. Wir überwachen, erlassen Gesetze, verprügeln, sorgen für Gerechtigkeit, töten die Schurken, sorgen für Ordnung.“
Der Anfang des Buches, in dem Josés Boss ihm durch die Hand schießt, um ihn wegen seiner Unaufmerksamkeit zu strafen, leitet uns in eine Welt ein, in der die Gewalt zum Alltag gehört, in der die Moral ganz anders bewertet wird, in der es darum gilt, zu töten, bevor man getötet wird. Das „Inferno“ der Favela wird uns so beschrieben, als wäre es zur ohne weiteres hingenommenen Regel geworden. Nur die Mutter Alzira betet jeden Tag dafür, dass ihr Sohn aus den Klauen des Teufels gerät, nachdem sie selbst zurück zu Gott gefunden hat.
Die meist klischeehaften Briefe der mit einem Freier nach Deutschland emigrierten Rosa Maria, die regelmäßig in der Bar von Onofre eintreffen, lassen das Elend der Favela noch krasser erscheinen. Doch dieses Viertel ist kein isolierter Ort, sondern auch Teil eines Ganzen. Das machen auch die zahlreichen Reden über die Favela, die von Journalisten, von Angehörigen der Mittelschicht Brasiliens, von der Polizei gehalten werden, deutlich.
Dies ist das Gute an das Buch: Es ist nicht ein einfach pathetischer, mitleidender Bericht. Mit viel Ironie und durch die Gestalt Leitors, der immer den Überblick über die Situation behält, macht uns Patrícia Melo mit viel Ironie die Mechanismen einer solchen Lage begreifbar, hilft uns weiterzudenken.
Dabei wird auch unsere westliche Welt nicht geschont, mit ihrer Neigung, alles als „Sensation“ zu erleben, alles so zu sehen, als könnte es die nächste Schlagzeile der Zeitungen von Morgen sein, So als könnte das Leben der Fiktion des Fernsehers entsprechen. Dieser Illusion ist Carolaine erlegen, die Schwester von José Luís, die ihr Leben mit dem der Helden ihrer „Acht-Uhr-Serie“ vergleicht und dadurch den Bezug zu ihrer eigenen Wirklichkeit verliert.
Ebenso wie Rosa Maria, die schließlich aus Deutschland zurück nach Rio de Janeiro kommt, kehrt José am Ende in seine Favela zurück. Dieser Ort ist trotz allem sein Zuhause. Hier ist er jemand, obwohl er weiß, dass er gerade hier in Todesgefahr ist, denn „zu diesem Zeitpunkt hatte ihn vermutlich schon das Laser irgend einer Maschinenpistole im Visier.“
„Inferno“ zeigt das Erwachsenwerden eines Jungen, der wie alle Jungen Ideale hat, liebt und enttäuscht wird, und der einmal etwas werden will. Nur hat er von Anfang an das Pech, in einer Favela geboren zu sein.
Inferno
von Patrícia Melo
Klett-Cotta, Stuttgart, 2003
ISBN 3-608-93231-3