Kleine Insel schreibt große Geschichte
Kuba ist ein Land, das voller Faszination ist. Es sind aber nicht nur die tropische Landschaft und das einzigartige Lebensgefühl der Kubaner, auf die sich diese Faszination gründet. Es ist auch und gerade die Geschichte der Antillen-Insel, die ihr eine unerwartet große Ausstrahlung verleihen. In zwei Büchern läßt der Leipziger Historiker Michael Zeuske, seit zehn Jahren Professor am Historischen Seminar der Universität Köln, den spannungsreichen Jahrhundertweg Kubas von den vorkolonialen Anfängen bis zur Millenniumswende 2000 vor dem geistigen Auge des gefesselten Lesers vorüberziehen.
Was macht nun die große Faszination kubanischer Geschichte im einzelnen aus? Eine erste Antwort gibt die „Kleine Geschichte Kubas“, die im Rahmen der Beck’schen Reihe erschienen ist. Mit der Lektüre des flüssig und kenntnisreich geschriebenen Buches kommt man schon bald zu dem Schluß, daß mit dem Adjektiv „klein“ nur der Umfang, nicht aber der Gehalt der Darstellung gemeint sein kann. Es ist schon erstaunlich, wie es dem Verfasser auf etwas mehr als 200 Seiten Text und ohne die üblichen Anmerkungen gelingt, den wechselhaften Verlauf und die enormen Widersprüche der historischen Entwicklung plastisch einzufangen und systematisch gut aufbereitet wiederzugeben. Bereits die knapp 400jährige Kolonialgeschichte belegt, daß ungeachtet der prägenden geostrategischen (strukturellen) Konstanten, für die Braudel an anderer Stelle den Begriff der „langen Welle“ geprägt hat, eine beachtliche Vielfalt der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Realität(en) möglich ist. Zunächst war Kuba „nur“ Sprungbrett für die spanische Eroberung Amerikas, dann Schaltstelle im transatlantischen Handel und schließlich weltgrößter Zuckerproduzent. Auch die inneren Strukturen der Insel weisen einen großen Facettenreichtum auf. Neben der Weltstellung der Haupt- und Hafenstadt Havanna mit seiner imperialen Elite gab es eine ausgedehnte Schmuggelökonomie, die sich auf den Anbau und die Vermarktung von Tabak gründete. Später gerieten Subsistenzwirtschaft und die von Kleinbauern betriebene Kaffeekultur in Konflikt zur Zuckerökonomie, die auf Massensklaverei beruhte und ab Mitte des 18. Jahrhunderts in immer stärkerem Maße die kubanische Realität bestimmte. Abgesehen von der geostrategischen Stellung Kubas, die mit Insularität und Weltgeltung zwei gegensätzliche Pole besaß, muß der geographisch-politische Dualismus zwischen Westen (Havanna) und Osten (Santiago) als die zweite große Konstante in der Geschichte des Landes gelten. Mit dem Aufkommen von Zuckerplantage und Massensklaverei kulminierte der innerkubanische Ost-West-Gegensatz in der Konkurrenz von zwei unterschiedlichen Gesellschaftsprojekten: dem „großen Kuba“ der Zuckerökonomie und dem „kleinen Kuba“ der freien Einwanderer und der diversifizierten Produktion ohne dominierenden Großgrundbesitz. Da das „große Kuba“ die Alternativsituation um 1800 für sich entscheiden konnte, blieb dem „kleinen Kuba“ nur eine Randexistenz im „schwarzen“ Oriente. Das „Negerproblem“ wurde in der Folge zum inneren „Stolperstein“ für die Herausbildung der kubanischen Nation.
Mit dem Übergang ins 20. Jahrhundert wurde Kuba endgültig zur „Insel der Extreme“ – so der Titel von Zeuskes zweitem Buch. Das wohl größte Extrem besteht in der langen Kolonialzeit und der neokolonialen Überfremdung durch die USA einerseits und dem unbändigen Unabhängigkeitsstreben der Kubaner andererseits. Obwohl sich Kuba im Unterschied zum kontinentalen Ibero-Amerika erst Ende des 19. Jahrhunderts von der Kolonialherrschaft befreien konnte und von den USA um die Früchte seines Unabhängigkeitskampfes betrogen worden war, erwies sich der kubanische Nationalismus letztlich als stark genug, die strukturellen Vorgaben (Großgrundbesitz, Dualismus zwischen Westen und Osten, „Negerproblem“, Nähe zu den USA und neokoloniale Abhängigkeit vom „Koloß im Norden“) zu sprengen und freies Fahrwasser für eine alternative Entwicklung zu gewinnen. Um unter kubanischen Bedingungen überhaupt ein eigenes nationales Projekt in Angriff nehmen zu können, war eine Revolution notwendig. Es ist das Verdienst der Führungsgruppe um Fidel Castro, den unerlässlichen Freiraum für die Durchsetzung von Unabhängigkeit, Gerechtigkeit und Würde für die kubanische Nation erkämpft zu haben. Die so erworbene revolutionäre Legitimität war immerhin stabil genug, um den von vielen erwarteten Dominoeffekt nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums zu verhindern. Ob sie in Zukunft hinreichen wird, den neuen Abhängigkeiten (Dollarüberweisungen, Tourismus) und Erosionserscheinungen Paroli zu bieten, wird die Zukunft zeigen müssen. Zeuske sieht in der Entwicklung eines kubanischen Unternehmertums und einer Marktwirtschaft von unten einen Ausweg aus der Krise. Der Armee weist er eine Schlüsselrolle im Transformationsprozeß nach Castro zu. Auch wenn Kuba seine geostrategische Bedeutung im Internetzeitalter verloren haben sollte (Kleine Geschichte …, S. 222), besitzen dennoch die Existenzsicherung der Revolution vor der Haustür der USA und der Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung einen enorm hohen Stellenwert für die Rückgewinnung von Spielräumen für eine alternative Entwicklung in Lateinamerika und darüber hinaus.
Zeuske, Michael
Kleine Geschichte Kubas
Verlag C.H. Beck, München 2000.