Alles begann mit Drogenboss Pablo Escobar. Dann kam das Medellín-Kartell. Und heute unterhält die Oficina de Envigado ein mächtiges kriminelles Netzwerk mit weitreichenden Verbindungen zur Geschäftswelt, und der kolumbianischen Regierung ist es bisher nicht gelungen, dieses zu zerschlagen. Das Problem sind nicht mehr nur die kriminellen Machenschaften der Organisation, sondern das gigantische Wirtschaftssystem, das sich um die Oficina herum entwickelt hat.
Medellín und Neapel liegen tausende Kilometer voneinander entfernt: Medellín, in Südamerika, Neapel in Europa. Erstere, eine noch junge Stadt, die andere, mehr als tausend Jahre alt. Medellín liegt inmitten der Berge, Neapel am offenen Meer. Dennoch gleichen sie sich. Beides sind pulsierende Industriestädte, in denen allerdings auch die Kriminalität boomt. In beiden Städten ziehen Jugendliche von klein auf mit der Browning im Hosenbund durch die Straßen. Sie erpressen, mischen bei großen Geschäften mit, kaufen Politiker und begleichen Blutschuld mit brutaler Gewalt. Von Kugeln durchsiebte Leichen. Tote, die Spuren von Folter aufweisen. Ausgelöschte Familien. Bedrohte Richter. Korrupte Beamte, die den Mafiabossen Gefälligkeiten erweisen.
Die Aufnahmen des 2008 nach dem gleichnamigen Buch von Roberto Saviano erschienenen Films Gomorra wirken, als wären sie direkt aus dem kolumbianischen Film Rodrigo D no futuro entnommen, der ein Portrait des Medellín vor 20 Jahren zeichnet. In beiden Städten ist die Mafia eine dunkle Macht im Untergrund, deren Atem auch in den Straßen zu spüren ist. Sowohl die Camorra in Neapel als auch die Oficina de Envigado in Medellín funktionieren wie Wirtschaftssysteme, genau so wie es Saviano in seinem Buch beschrieben hat. Es sind Systeme, die weit über die organisierte Kriminalität hinausreichen.
Vielleicht sind diese Parallelen zwischen beiden Städten der Grund dafür, dass sich im Büro des Bürgermeisters von Medellín, Alonso Salazar, eine ganze Reihe von Savianos Büchern findet. „Hier drin steht beschrieben, was bei uns gerade passiert“, sagt er und bezieht sich dabei auf die Macht der Drogenmafia und insbesondere auf die sogenannte Oficina de Envigado, die, wie er leidvoll bekennt, die höchste Autorität in seiner Stadt darstellt.
In den vergangenen vier Jahren wurden dutzende Anführer dieser kriminellen Organisation gefasst und hinter Gitter gebracht oder sind zu Tode gekommen. Zuerst traf es den obersten Boss der Oficina „Don Berna“. Er wurde an die USA ausgeliefert und dort zu 31 Jahren Haft verurteilt. Sein Nachfolger, der Fußballunternehmer Gustavo Upeguí, wurde von „Danielito“ erschossen, der dann den Chefposten für kurze Zeit innehatte, bis auch er umgebracht wurde. Es folgten „Rogelio“ und „Yiyo“; beide verhandelten mit den USA. Der Letzte, den es traf, war „Douglas“. Doch die Liste der Nachfolger ist lang. Noch ist die Mafia in Medellín nicht besiegt. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn es einen Wechsel an der Spitze der Oficina gibt, nimmt die Gewalt zu. Die Errungenschaften der Stadt in Sachen Sicherheit sind in Gefahr. Während 2007 in Medellín 776 Morde verübt wurden, lag die Zahl im Jahr 2008 bei 1.035. Tendenz weiter steigend.
Ende März, zur Jahresversammlung der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), fand sich die Stadt in einer unheimlich paradoxen Situation wieder. Die Zeitungen zeichneten das Bild einer menschenfreundlichen, modernen Metropole, mit riesigen Bibliotheken in den Vierteln der Ärmsten, einer Seilbahn, die die wohlhabenden Viertel im Tal mit den armen auf den Berghängen verbindet, und einem gesellschaftlichen Leben, auf das jede Stadt in der ersten Welt neidisch wäre. Am Ende der darauf folgenden Woche hatte man allerdings 31 Mordfälle registriert. In den steilen Gassen der Elendsviertel war Blutrache an der Tagesordnung. Im Mai starben an einem Wochenende 19 Menschen. Alle wurden erschossen. Einige Leichen fand man in Kofferräumen von Autos, andere lagen im Straßengraben. Hier haben Drogenhändler und Banden im Kampf um die Vormachtstellung in der Stadt ihre Rechnungen beglichen. Polizei und Stadtverwaltung wissen, auf wessen Konto die Morde gehen: auf das der Oficina de Envigado.
Wenn es aber vor 20 Jahren gelang, mit dem Medellín-Kartell und Pablo Escobar fertig zu werden, warum ist dann heute eine Zerschlagung der Oficina de Envigado nicht möglich? Wie sieht diese kriminelle Organisation eigentlich genau aus? Wie funktioniert in Medellín das Zusammenleben der erfolgreichsten Unternehmen und einer der mächtigsten Mafiaorganisationen des Landes?
Die Hydra
Am 15. April gab es einen Polizeieinsatz in einer abgeschlossenen Siedlung in den Anhöhen von El Poblado, der besten Wohngegend von Medellín. Hier wohnte in einem nur mit Bett und Billardtisch ausgestatteten Apartment José Leonardo Muñoz, alias „Douglas“. Bei dem Einsatz wurden verschiedene groß- und kleinkalibrige Waffen sichergestellt. Muñoz hatte bis dahin als einer der Bosse der Oficina de Envigado gegolten und ihm wird die Verantwortung für hunderte Morde zugeschrieben. Außerdem kontrollierte er einen Großteil der Unterwelt. Sein Geschäft war eines der rentabelsten in der ganzen Stadt: Er organisierte die lokale Verteilung der Drogen. In Medellín gibt es schätzungsweise 3.000 kleine Läden oder jibariaderos, die mit Drogen im Schnitt einen Umsatz von 12.000 Millionen Pesos machen. Und da sind andere illegale Aktivitäten wie Erpressung, Schutzgelderpressung und der Betrieb von Spielautomaten noch nicht mit eingerechnet. Um die Vormachtstellung in diesen Geschäften wird zum Teil bis aufs Messer gekämpft. Das jedenfalls zeigt sich seit einigen Jahren in Medellín.
Erpresst werden vor allem Transportunternehmen. Diese unterhalten in Medellín 4600 Busse. Jedes der Unternehmen muss wöchentlich eine „Spende“ in Höhe von 20.000 Pesos zahlen. Dieses Geschäft bringt der Mafia schätzungsweise bis zu 4,5 Milliarden Pesos jährlich ein. Das Geld wird in den jeweiligen Stadtvierteln an den Endhaltestellen der Busse eingetrieben, und obwohl viele der Viertel über Polizei verfügen, kann die Oficina de Envigado hier ungestört agieren. Das zweite illegale, aber ebenso enorm rentable Geschäft der Oficina sind die CONVIVIR im Stadtzentrum Medellíns, private Sicherheitskooperativen aus demobilisierten AUC-Mitgliedern, die als Bürgerwehren agieren. So zahlen mehr als 10.000 Lokale im Schnitt 30.000 Pesos pro Woche, von den größten Geschäften bis hin zu den fliegenden Händlern. Dabei fließen Billionen von Pesos und es herrscht derzeit ein Krieg um jeden Häuserblock, denn jeder einzelne Block stellt eine satte Einnahmequelle für einen der Mafiabosse dar. Um diese Machenschaften herum haben sich circa 360 Jugendbanden gebildet. Sie sind das Resultat davon, dass das gesellschaftliche Leben der Stadt nun schon seit drei Jahrzehnten von der Mafia kontrolliert wird. Allerdings sind die Jugendbanden nur für einen Teil der verübten Verbrechen verantwortlich zu machen, denn ihre Bandenchefs wechseln häufig und Bündnisse und Pakte sind nur von kurzer Dauer.
Das Gleiche gilt für die Kontrolle der Drogenhandelsrouten, um die seit der Demobilisierung der Paramilitärs der Vereinten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AUC) gekämpft wird.
Die Hauptrouten des Drogenhandels bilden ein „Dreieck des weißen Goldes“: In Bajo Cauca, im Nordosten der Provinz Antioquia, wird das Kokain hergestellt, am Golf von Urabá erfolgt der Export und in Medellín wird das Geld gewaschen. Deshalb geht es bei dem Krieg der Drogenbosse nicht nur um die Kontrolle über das Aburrá-Tal, die Metropolregion von Medellín. Wer in Antioquia ein mächtiger Mafiaboss werden will, der muss an allen drei dieser Punkte präsent sein, so jedenfalls hielten es „Don Berna“, „Macaco“, „Don Mario“ und El „Loco“ Barrera. Letzterer, so scheint es, strebt derzeit nach der Vormachtstellung auf den Drogenhandelsrouten.
Die Kontrolle der Routen setzt eine komplexe Logistik und das Vorhandensein verschiedener Transportmittel voraus. Nicht umsonst hat sich der Flughafen Olaya Herrera immer im Visier der Behörden befunden. Seit der Zeit Pablo Escobars haben sich die Drogenhändler kleine Flotten aus Sportflugzeugen und Hubschraubern aufgebaut. In den vergangenen zwei Jahren wurden in der Karibik mindestens drei Flugzeuge mit Kokain an Bord abgefangen, die von Olaya Herrera aus gestartet waren. Die Maschinen von „Cuco Vanoy“ beispielsweise, einem inzwischen an die USA ausgelieferten Paramilitär und Drogenhändler, verkehrten regelmäßig zwischen Bajo Cauca und Medellín. Als Ende 2007 Nancy Ester, eine ehemalige Flughafenangestellte, ermordet wurde, war der Einfluss der Mafia erneut in Olaya Herrera zu spüren. Auf der Leiche hatte die Mafia einen Zettel mit der Aufschrift por sapa (wegen Verrats) hinterlassen.
Aber nicht alle Aktivitäten der Mafia sind der organisierten Kriminalität zuzuordnen. Die Drogenmafia hat sich von einer kriminellen Organisation hin zu einer Holding-Gesellschaft aus verschiedenen Unternehmen entwickelt, die sich „in einer Grauzone zwischen legal und illegal bewegt“, wie es General Arcesio García, der Polizeichef von Medellín, formuliert. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Oficina oft als Abbild der italienischen Mafia angesehen wird.
Viele Historiker und Analysten bezeichnen dieses Phänomen als charakteristisch für die Region und insbesondere für Medellín, wobei sich diese Entwicklung auf genau die gleiche Art und Weise auch in italienischen, russischen und japanischen Städten, in Sao Paulo und in New York beobachten lässt. Daher dürfte sich die derzeitige Situation nicht allein aus kulturellen Aspekten heraus erklären lassen, sondern auch durch die wirtschaftliche Lage und die Globalisierung.
Aufstieg einer neuen Elite?
Vor einigen Monaten, inmitten der weltweiten Wirtschaftskrise, wurde am Fluss Medellín ein 144.000 m2 großes Gebäude aus Glas und Beton eingeweiht, dessen Jalousien sich je nach Sonnenstand öffnen und schließen, ein Gebäude, auf das sogar große internationale Konzerne neidisch wären. Es handelt sich um den Sitz der Bancolombia, das neue Wahrzeichen der Elite von Antioquia und Symbol für deren Aufstieg allen widrigen Umständen zum Trotz. Das Sindicato Antioqueño, die Unternehmervereinigung von Antioquia, bildete sich Mitte der 1970er Jahre heraus, in einer Zeit, als die Textilindustrie in der Krise steckte und das Geld aus dem Drogenhandel in Massen in die Wirtschaft des Landes zu fließen begann. Um dieser Tendenz etwas entgegenzusetzen, gingen die Unternehmer aus Antioquia, zwischen denen ohnehin meist familiäre Verbindungen bestanden, an die Börse. Damit konnten sie sich dem Einfluss des Drogenhandels entziehen, meinte Nicanor Restrepo, führender Kopf der Unternehmer von Antioquia, kürzlich auf einer Konferenz. Das Sindicato Antioqueño sei immer eine in sich geschlossene Organisation gewesen, wodurch ein Eindringen der Mafia in die Unternehmen verhindert werden konnte.
Pablo Escobar hat einst eine Annäherung an das Sindicato versucht, wurde aber zurückgewiesen, weshalb er sich dann südlich von Medellín in Envigado niederließ. Hier hatte er Freunde und wickelte seine Fußballgeschäfte ab, hier saß er im Gefängnis, und hier waren auch seine Feinde. Viele Jahre lang führte die Mafia von hier aus ihre Geschäfte – daher auch der Name Oficina de Envigado –, und auf diese Weise bildete sich hier eine eigene Elite heraus.
„Das ist keine einfache kriminelle Organisation mehr, sondern ein komplexes System aus verschiedenen Geschäften“, meint Jesús Ramírez, stellvertretender Bürgermeister von Medellín. Von seinem Büro in La Alpujarra aus blickt man auf zwei neue Gebäude in El Hueco, einem zehn Blocks großen Geschäftsviertel, in dem neben mittelständischen und kleinen Unternehmen auch der Schmuggel gedeiht. Legal neben Illegal. Kreativität neben Kriminalität. In den Schaufenstern liegen chinesische Waren, die übrigens von der Camorra von Neapel aus in alle Welt verschifft werden. Sie konkurrieren mit im Osten Antioquias hergestellten Kleidungsstücken, die den chinesischen Waren recht gut nachempfunden sind. Nur durch eine Straße und einen Platz von El Hueco getrennt befindet sich das Rathaus der Stadt, und dennoch gibt es keine städtische Behörde, die nicht Augen und Ohren verschließt, wenn es um dieses Viertel geht. El Hueco hat sich in einen Sumpf verwandelt, in dem vermutlich in großem Stile Geld gewaschen wird. Das Viertel ist Dreh- und Angelpunkt für die Wirtschaft der Stadt. Hier kauft Arm und Reich ein, denn in El Hueco bekommt man alles zum halben Preis.
Auf die ersten Anzeichen von Geldwäsche stieß man vor zehn Jahren, als die Staatsanwaltschaft ein städtisches Parkhaus stürmen und den Finanzchef der AUC, Jacinto Alberto Soto Toro, verhaften ließ. Carlos Castaño, der AUC-Begründer, hatte über Strohmänner verschiedene Geschäfte in El Hueco übernommen. In den letzten 10 Jahren gab es dutzende Polizeieinsätze, und so kam ans Licht, dass Paramilitärs und Mafiosi mit Geschäften wie dem Verkauf von CDs Geldwäsche betreiben. Bei einem kürzlich durchgeführten Einsatz entdeckte die Staatsanwaltschaft in einer der durchsuchten Räumlichkeiten ein Geldversteck mit 1,2 Milliarden und nahm „Don Alex“ fest. Der Geschäftsmann steht in Verdacht, mit verschiedenen Chefs der Paramilitärs geschäftliche Verbindung unterhalten zu haben.
Aufgrund der enormen Ausmaße, die die Geldwäscheaktivitäten angenommen haben, ist es sehr schwierig geworden, diesen Bereich in den Griff zu bekommen. Die kolumbianische Organisation zur Überwachung und Bekämpfung der Geldwäsche, die Unidad de Información y Análisis Financiero (Uiaf), hat in den vergangenen acht Jahren im gesamten Land 34.000 Personen und mehr als 3.000 Unternehmen ermittelt, die verdächtige Transaktionen in einer Gesamthöhe von etwa 4,3 Milliarden Dollar ausgeführt haben. Ein Teil des Geldes jedoch kommt gar nicht erst bei den Banken an. Anstelle von Drogendollars importieren die Drogenhändler Tennisschuhe und andere geschmuggelte Kleidung.
Aber damit nicht genug. Die größte Sorge bereiten Behörden und Polizei die Kasinos. Deren Anzahl ist in Medellín um 500 Prozent gestiegen: Praktisch jeder Block im Zentrum und auf der Goldmeile des Viertels El Poblado verfügt über eines. „Das ist die elektronische Droge“, meint eine Ermittlerin der Staatsanwaltschaft. Man nimmt an, dass hier Geld für die Mafia gewaschen wird, so wie es in Städten überall auf der Welt der Fall ist. Aber solange es keine Beweise gibt, kann man nichts tun.
Ähnlich besorgniserregend ist das Spielautomatengeschäft. Antonio López, Ex-Paramilitär und bekannt als der unaussprechliche „Job“, hat einmal ausgerechnet, dass die Automaten der Oficina de Envigado monatlich sechs Milliarden Pesos einbringen. Die Oficina lässt sich für die Aufstellung und den Betrieb der Automaten bezahlen, und viele Mitglieder der mafiaähnlichen Organisation sind auch Besitzer der Spielautomaten.
Vor einem Jahr beauftragte Etesa, das staatliche Aufsichtsunternehmen für das Glücksspiel, zwei junge Angestellte, Fabio Alonso Bossa und Julio Antonio Varela, mit der vorläufigen Schließung einiger Kasinos und Lokale, die ohne Genehmigung Spielautomaten betrieben. Wie man herausgefunden hat, wurden sie eines Abends von einem Mann, der für einen Spielautomatenhersteller arbeitete, auf ein paar Drinks ins Fase Dos eingeladen, ein Bordell, das sich im Besitz eines bekannten Glücksspielbetreibers der Stadt befindet. Als sie am frühen Morgen das Lokal verließen, wurden sie erschossen. Die Täter wurden bereits verhaftet, und es ist erwiesen, dass sie für die illegalen CONVIVIR im Zentrum arbeiteten, die das Spielautomatengeschäft kontrollieren.
Im Stadtzentrum gibt es unzählige dieser privaten Bürgerwehren. Sie sind die Überbleibsel früherer Sicherheitsunternehmen, agieren jedoch illegal. Vor wenigen Wochen gelang es Polizeichef García, acht dieser Banden zu zerschlagen, zahlreiche Bandenmitglieder wurden verhaftet. Aber das Phänomen ist weit verbreitet, und die Geschäftsleute zahlen für diesen illegalen und privat aufgestellten Wachschutz, zum Teil weil sie Angst haben, und teilweise auch aus einem verbitterten Pragmatismus heraus. Während das neue Strafrecht als ineffizient angesehen wird, da viele Kleinkriminelle laufen gelassen werden, verpassen die CONVIVIR ihnen hingegen eine ordentliche Tracht Prügel, vertreiben sie mit Drohungen oder bringen sie ganz einfach um.
Einer der Geschäftszweige, in dem der Schutz der CONVIVIR am häufigsten in Anspruch genommen wird, ist das Lotteriegeschäft. Hier fließen Millionen von Pesos. Man braucht nur die Hauptstraßen im Zentrum entlangzulaufen und trifft auf die Stände von Gana, Medellíns Wettunternehmen. Das Konsortium aus verschiedenen Unternehmen hatte die öffentliche Ausschreibung zum Betreiben des Lotteriespieles mittels eines EDV-gestützten Systems für sich entschieden. Die Begeisterung für die Lotterie ist so groß, dass bei Spielen wie el paisita oder el cafeterito zum Teil zwei Ziehungen täglich durchgeführt werden.
In Medellín hat dieser Firmenzusammenschluss Opfer gefordert. Mindestens drei Unternehmer starben, unter ihnen der Geschäftsführer von Le Apuesto, einem der Unternehmen, die sich weigerten, dem Konsortium beizutreten. Er wurde in einem Restaurant von einem Auftragsmörder erschossen, weitere Personen wurden verletzt. Der Schütze konnte festgenommen werden und sagte aus, dass er von Mitgliedern der Oficina für den Mord bezahlt worden sei. Doch die Behörden konnten nicht nachweisen, wie tief die Mafia in diese Geschäfte verstrickt ist. Das Paradoxe ist, dass die Gelder für das Gesundheitswesen aus dem Lotteriegeschäft stammen, und auch wenn die Regierung versucht hat, mehr Transparenz in diesen Bereich zu bringen, wurde allenfalls erreicht, dass weniger Steuern hinterzogen werden.
Streben nach Legalität
Wie schon an der Camorra in Neapel zu sehen ist, will die Mafia nicht mehr nur im Untergrund agieren. „Der Mafia muss der Übergang von der Kriminalität über den informellen Sektor und von da aus in die Legalität gelingen“, meint Gustavo Duncan, Professor an der Anden-Universität in Bogotá und Experte für die Themen Drogenhandel und Gewalt. Genau aus diesem Grund interessiert sich die Oficina de Envigado schon seit einiger Zeit für legale Geschäfte.
So bestätigen offizielle Quellen, dass auch die Geldwäscheaktivitäten ihren Anteil an der Gewalt in der Stadt haben. Als „Don Berna“ im Hochsicherheitsgefängnis in Itagüí einsaß, hat sich „Danielito“ während seiner kurzen Zeit an der Spitze der Oficina allem Anschein nach vor allem dieser Aufgabe verschrieben. Er ging sogar soweit, Hugo Albeiro Quintero, den Inhaber des Transportunternehmens Bellanita, unter Druck zu setzen, damit dieser der Oficina sein Unternehmen für 25 Millionen Dollar überlässt. Ein legales und gut funktionierendes Busunternehmen mit 370 Fahrzeugen zu besitzen, wäre für die Mafia von unschätzbarem Wert gewesen. Quintero jedoch, der mittlerweile wegen mutmaßlichen Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen im Gefängnis sitzt, wollte nicht verkaufen. Deswegen wurde auf ihn geschossen. Er hat den Mordanschlag aber überlebt.
Ein weiterer Fall, mit dem sich die Staatsanwaltschaft befassen musste, ist der der Familie Rodríguez. Ihr gehörte ein großes Stück Land in den Anhöhen von El Poblado, also genau dort, wo das Immobiliengeschäft ungebremst wucherte, was häufig auch mit einer zweifelhaften Auslegung der Gesetze einherging. Einer der Söhne der Familie lieh sich bei der Oficina Geld, um auf dem Grundstück zu bauen. Sein finanzieller Bankrott kam die Familie teuer zu stehen: Er, sein Vater und der Anwalt der Familie wurden stranguliert aufgefunden. Jetzt werden auf dem Gelände neue Gebäude errichtet und es konnte nie aufgeklärt werden, was genau mit den Eigentumsverhältnissen passiert ist.
Auch Alirio Rendón, besser bekannt als „Cebollero“, gehört zu den Personen, die mit der Oficina in Verbindung stehen und deren Leben sich in einer schmalen Grauzone zwischen Legalität und Illegalität bewegt. Rendón gehörten mehrere Lebensmittelläden, er war eine von der Politik anerkannte Person, und zwischen ihm und der Regionalregierung von Antioquia bestanden vertragliche Vereinbarungen. Die Behörden waren ihm lange Zeit wohlgesonnen, da seine private Sicherheitsfirma auf dem Markt von Itagüí, der sich jahrelang in der Hand von Banden befunden hatte, für „Ruhe und Ordnung“ sorgte. Für „Ruhe und Ordnung sorgen“ war allerdings ganz offensichtlich ein Euphemismus für regelrechte soziale Säuberungen, die mit Gewalt vollzogen und bei denen all diejenigen, die sich Redóns Gesetzen nicht unterwarfen, geprügelt und misshandelt wurden. „Cebollero“ sitzt inzwischen im Gefängnis und wird der Zugehörigkeit zur Mafia beschuldigt.
Als ob dies noch nicht genug Parallelen zwischen Medellín und Neapel wären, beginnt auch die illegale Giftmüllentsorgung in der Stadt um sich zu greifen. Vor einigen Wochen kippte in San Antonio de Prado, einem der ländlichen Verwaltungsbezirke Medellíns, ein Lastwagen um. Dabei lösten sich dutzende Fässer mit Säure und rollten auf die Straße. Der Unfall brachte ans Licht, dass in El Guacal, der Mülldeponie von Envigado, Giftmüll gelagert wird. Verschiedenen Stadträten zufolge könnte hinter diesen Geschäften die Mafia stehen.
Die Politik
Auch wenn kaum einer ihrer Bosse lange auf seinem Posten bleibt, bedeutet das nicht, dass die Oficina de Envigado am Ende ist. Das lässt sich damit erklären, dass es sich bei der Oficina eben nicht um eine simple Vereinigung handelt, sondern um ein komplexes Geflecht aus illegalen und legalen Geschäften, das sich um eine gewalttätige, kriminelle Organisation herum ausgebildet hat. „Hier treffen Drogenhandel, Paramilitärs und das in der Stadt alteingesessene Bandenwesen aufeinander“, umreißt Diego Sierra, Vertreter der Nicht-Regierungsorganisation Instituto Popular de Capacitación (IPC) das Phänomen. Um in das Büro der NGO zu gelangen, die bereits seit mehr als 20 Jahren gegen die Gewalt in der Stadt ankämpft, muss man eine über 50 kg schwere gepanzerte Tür aufdrücken und einen Metalldetektor passieren. Das dreistöckige Gebäude, in dem das IPC sitzt, wurde vor zehn Jahren von der gefürchteten Bande La Terraza überfallen, vier hohe Mitarbeiter wurden dabei entführt. Kurze Zeit nach dem Überfall sprengte eine Bombe die Fassade des Gebäudes. Organisationen wie das IPC gehören zu den zahlreichen sozialen und politischen Initiativen, die seit vielen Jahren vor Ort versuchen, der Mafia etwas entgegensetzen.
Eine andere NGO hat allerdings in den letzten Jahren für Diskussionen gesorgt: Die Corporación Democracia, die am entgegengesetzten Ende der Stadt ihren Sitz hat. In der Zeit, als die Gewalt in Medellín wieder aufflackerte, hatte die Organisation unter ihren Mitgliedern – demobilisierte AUC-Kämpfer – immer wieder Verluste zu beklagen.
„Don Berna“ und vor allem sein Vertrauensmann „Job“ hatten damals eine politische Strategie zur Übernahme der Kontrolle in der Stadt entwickelt. Sie kontrollierten – und kontrollieren – zahlreiche Bürgervereinigungen auf kommunaler Ebene, stellten einen Stadtrat und nahmen 2003 entscheidenden Einfluss auf die Wahl von Rocío Arias zur Kongressabgeordneten, wobei der klare Ausgang der Abstimmung vor allem in Medellín entschieden wurde. Möglicherweise sind diese Verbindungen auch der Grund dafür, dass vor einigen Wochen eine Staatsanwältin während der Anklageerhebung gegen „Douglas“ den Mut fand, die Corporación Democracia als politischen Arm der Oficina zu bezeichnen.
Dass die Oficina bereit ist, den Staat auf allen Ebenen zu infiltrieren, zeigte sich daran, dass der oberste Staatsanwalt von Antioquia, Guillermo León Valencia Cossio, wegen entsprechender Beziehungen verhaftet wurde. Auch die Rolle einiger hoher Polizeibeamter bleibt suspekt. Außerdem sind Fälle wie der Tod eines Armeehauptmanns und eines Staatsanwalts im vergangenen Jahr im 13. Bezirk weiterhin ungeklärt. Sie wurden während einer Racheaktion, die der Oficina zugeschrieben wird, von Kugeln durchsiebt. Die Situation im Aburrá-Tal ist nicht so sehr vom Fehlen staatlicher Strukturen geprägt – daran mangelt es eigentlich nicht –, sondern vielmehr von Instabilität, Korruption und Inkompetenz – und davon hat die Kriminalität fantastisch profitiert.
Die politische Strategie der Mafia ist jedoch nicht aufgegangen. Auch wenn die Oficina in anderen Gemeinden im Aburrá-Tal erstarkt ist, hat sich in Medellín gezeigt, dass der 30 Jahre währende Kampf gegen Drogenhandel und Gewalt einen enorm starken Widerstand hervorgebracht hat: eine wirtschaftliche Elite unter dem Sindicato Antioqueño, die der Mafia ablehnend gegenüber steht, sowie starke soziale Netzwerke. „Seltsamerweise haben es letztendlich politisch und ideologisch sehr unterschiedliche Personen, wie Unternehmer und NGO-Mitglieder, geschafft, der Mafia gemeinsam entgegenzutreten“, so Bürgermeister Alonso Salazar.
Aus einer kürzlich mit Unterstützung der London School of Economics und unter Leitung von Francisco Gutiérrez durchgeführten Studie geht hervor, dass der Einfluss der Mafia vor allem durch die Bildung politischer Koalitionen, zunächst um den ehemaligen Bürgermeister von Medellín, Sergio Fajardo, und nun um den derzeitigen Amtsinhaber Salazar herum, abgeschwächt werden konnte. Das gelang insbesondere durch einen Regierungsstil, der, anders als es traditionell in der Politik der Fall war, nicht auf dem Austausch von Gefälligkeiten beruhte.
Die friedliche Episode, die Medellín nach der Demobilisierung der AUC erlebte, war wohl darauf zurückzuführen, dass „Don Berna“ noch an der Macht war und dass die jahrelang ausgeübte soziale Kontrolle noch immer nachwirkte. Doch das ist jetzt vorbei. Die Oficina hat zur Zeit keinen Anführer. „Ihnen ist das Geld ausgegangen. Am deutlichsten zeigt sich das daran, dass im Dezember in den Straßen nur wenig gefeiert wurde, es gab wenig Trubel“, äußert ein Vertreter der Stadtverwaltung. Die Festnahmen, Auslieferungen und Todesfälle haben Paranoia, Racheakte und Machtstreben ausgelöst.
„Paradoxerweise ist das der Preis dafür, dass wir uns nicht auf Bündnisse mit der Mafia eingelassen haben“, meint Juan Sebastián Betancourt, Vorsitzender der Unternehmerinitiative Proantioquia, die sich für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der Region einsetzt.
Der von der kolumbianischen Regierung initiierte Friedensprozess ist in Medellín aufgrund einer Fehleinschätzung der Lage gescheitert. Die Oficina de Envigado ist keine Mafiaorganisation mit klaren Hierarchien – wie es bei den Clans in Italien der Fall ist –, sie verfolgt auch keine einheitliche Ideologie – wie es eine Guerillabewegung tut. Deshalb griffen die Maßnahmen der Stadtverwaltung, die Millionen in die Resozialisierung von mehr als 4000 demobilisierten AUC-Mitgliedern investiert hat, bei rangmittleren Militärs nicht, und diese bewegen sich weiterhin in der rentablen Welt des Verbrechen. Die Oficina de Envigado hat den Friedensprozess in der Stadt vereitelt und uns damit eine klare Lektion erteilt: Der Kampf gegen die Mafia und ihre Auswüchse hat gerade erst begonnen.
Original-Beitrag aus La Semana vom 02.05.2009 (Ausgabe Nr. 1409). Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift.
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Übersetzung aus dem Spanischen: Franziska Pfab
Bildquellen: [1] Felipe Campuzano; [2] Albeiro Rodas (Public Domain); [3] Scabredon (Public Domain); [4] David Sasaki