Die Sierra Nevada de Santa Marta ist heiliges Gebiet. Trotz allem sind die Gesteinsressourcen im Inneren der Region begehrt. Um die Ausbeutungsversuche zu stoppen, schließen sich indigene Völker zusammen.
Olga Cecilia Guerrero und Samuel López / Mongabay Latam
Diesmal beschlossen die Führungskräfte der vier indigenen Völker der Sierra Nevada de Santa Marta (SNSM) eine neue Strategie auszuprobieren, um das Land ihrer Vorfahren zu bewahren. Frustriert durch die vielen ergebnislosen Behördengänge der letzten zehn Jahre, zogen am 1. November um die 2000 Männer und Frauen der Arhuacos, Kogui, Wiwa und Kankuamo aus allen vier Himmelsrichtungen vom Kolumbianischen Massiv herab nach Valledupar, der Hauptstadt vom Departamento del Cesar, um mit einer minga zu protestieren. Dies ist eine solidarische Gemeindeversammlung, um sich bei der Ernte, dem Hausbau, oder in diesem Fall, bei der Verteidigung jenen Gebietes zu unterstützen, in dem sie leben.
Nie zuvor haben wir uns in der Öffentlichkeit geäußert. Dies ist eine friedliche Aktion, bei der nur das Wort als Werkzeug dient. Wir sind hierhergekommen, weil uns die für unser Gebiet geplanten Megaprojekte zu Wasserkraftwerken, Staudämmen, Bergbauindustrie und Infrastruktur Sorgen bereiten. All dies könnte zu einem nicht mehr kontrollierbaren Ungleichgewicht führen“, verkündete die Arhuaco-Wirtschaftswissenschaftlerin Saday Rosado. Es wurde darum gebeten, Verstöße gegen Urteile und Rechtssprüche der Hohen Gerichte zum Schutz vertriebener ethnischer Gruppen, dem Schutz der Sierra im Allgemeinen und der Erweiterung von indigenen Gebieten aus den Jahren 2009, 2010, 2014, 2016 aufzuarbeiten. Das brennendste Thema, was sehr engagiert besprochen wurde, war die Petition zur Abschaffung von Bergbaulizenzierungen auf dem Land der Vorfahren, mit der Frage nach einer langfristigen rechtlichen Absicherung vor solchen Aktivitäten.
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Nach tagelangen Demonstrationen, virtuellen Kundgebungen, Zusammenstößen mit der Regierung, viel Nachdruck und Tränengasopfern, folgte schließlich am 25. November ein Abkommen zwischen der Confederación Indígena Tayrona1 und den Ministerien für Inneres, Umwelt, Bergbau, Landwirtschaft, sowie den Staatsbehörden am Runden Tisch für dringende Angelegenheiten. Die Beteiligten werden demnach bis zum Jahresende eine rechtliche Grundlage zum Schutz des Gebietes vor Megaprojekten im Bergbau und in der Ausbeutung fossiler Brennstoffe anstreben. Anlaufstellen sind die OAS, UNO, die Procuraduría General de la Nación (PGN)2 und das Amt zum Schutz der Bürgerrechte (Defensoría del Pueblo). Falls das Abkommen nicht umgesetzt wird, haben die indigenen Völker bereits angekündigt, eine größere minga abzuhalten.
Was passiert in der Sierra?
„Zum großen Teil ist die Sierra Nevada vom Chaos betroffen, das durch die konfliktträchtige Einmischung der Institutionen und den unterschiedliche Interessengruppen von außen entsteht. Dies führt dazu, dass die Autonomie und die Regierung der vier indigenen Völker sehr stark bedroht sind“, erklärte Mongabay Latam Tito Rodríguez, Leiter des Nationalparks Parque Nacional Natural Sierra Nevada de Santa Marta (SNSM). „Alle geschichtlichen Entwicklungen auf dem Kolumbianischen Massiv, gleich in welcher Etappe des bewaffneten Konflikts, Marihuana, Koka, Guerrilla, Paramilitär, haben zu diesem Chaos geführt, was sich heute in einem territorialen Konflikt widerspiegelt“, erläuterte er.
Ein offensichtliches Beispiel ist, dass viele Landstriche, die indigenen Völkern gehört haben, jetzt von Nicht-Indigenen besetzt sind. Außerdem will man nun eine weite Zone für Produktionsketten schaffen. Für den Großunternehmer sind die Umweltbedingungen der Sierra wie geschaffen für Megaprojekte im Bergbau und Tourismus.
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Es gibt also verschiedene Standpunkte vonseiten des Departamento, der Gemeinde, des Nationalparks, der Corporación Autónoma3, des Naturschutzbundes, des Umweltministeriums, et cetera. Aus den Bereichen der Verwaltungs- und (nachhaltigen) Umweltpolitik bestehen verschiedene Interessen, was die Nutzung des Wassers anbelangt.
Die Línea Negra verstehen
Das einzig Wichtige für die Gemeinden ist die Sierra selbst, das „Herz der Welt“, regiert vom Gesetz des Ursprungs, d.h. Gesamtheit der sozialen, kulturellen, territorialen Normen. Dieses Gesetz gilt für die sogenannte Línea Negra: der theologische Raum oder die unsichtbare Grenze, die das Gebiet der Vorfahren umgibt und sich aus 17 Gemeinden und einem Bezirk in den Departamentos von Magdalena, Cesar und La Guajira mit drei Millionen Einwohnern zusammensetzt.
Innerhalb der Línea befinden sich die zeremoniellen Stätten oder heiligen Räume. „Dort müssen die mamos4 die Führungskräfte und wir als Gemeinden die pagamentos (Opfergaben an bestimmten Orten) durchführen, so wie es das Gesetz des Ursprungs vorsieht, um Leben und Gleichgewicht zu erhalten. Diese Stätten dürfen nicht privatisiert, für eigennützige Zwecke verwendet, verkauft, gekauft oder kommerzialisiert werden“, vermerkt der Bericht „Die uralte indigene Vision für die Ordnung der Sierra Nevada
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„Das Gesetz des Ursprungs legt fest, dass alles was in der materiellen Welt existiert, wie Pflanzen, Tiere, Wasser (Meer, Flüsse, Lagunen, Schnee), Feuer, Luft, Erde, Hügel, Steine und der Mensch zuerst als Geist existierte, alles hatte eine Persönlichkeit“. So hat jede dieser spirituellen Gestalten eine Funktion und einen Ort. Daher sind die zeremoniellen Stätten für die Opfergaben so unentbehrlich, legt das Bericht über die Ordnung dar.
Ein anderes Gesetz, das der ‘kleinen Geschwister’, wie sie die übrigen KolumbianerInnen nennen, schreibt über die Línea Negra, im Urteil T849-14 des Verfassungsgerichtshofes Folgendes: „eine besondere Schutzzone, aufgrund des spirituellen und kulturellen Wertes, den sie für die vier indigenen Völker darstellt, darum müssen besagte Gemeinschaften konsultiert werden, wenn ein Projekt die Ausübung ihrer Rechte gefährden könnte. Dies zu missachten ist eine Verletzung der Gemeinderechte“. Diese ökologische Region umfasst drei Kategorien von geschützten Gebieten: die Línea Negra, indigene Reservate und drei Nationalparks: PNN Sierra Nevada (400.000 Hektar), PNN Tayrona (12.000 Hektar) und das Santuario de Fauna y Flora Los Flamencos (7.600 Hektar).
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Projekte ohne vorherige Absprache
El Consejo Territorial de Cabildos5 (CTC) beschwerte sich beim PGN und dem Verfassungsgerichtshof im letzten August, weil verschiedene Projekte der letzten Jahre das Recht auf vorherige Absprache verletzten. „Die erste Bauphase des Staudamms Ranchería, Puerto Brisas, das Ökoturismusprojekt Los Ciruelos, der Ausbau der Ruta del Sol und die Übergabe unserer Territorien an Bergbauunternehmen war nicht abgesprochen“. Hinzu kommt, dass die vier Völker den Konsultationsprozess für die Projekte der Eisenbahnlinie und des Kohlehafens MPX-CCX, in Mingueo, La Guajira einstellen mussten, weil sie im Verfahren nicht gleichberechtigt waren.
Sie machten darauf aufmerksam, dass auch für das Steinbruch-Projekt Canteras Pavimentos El Dorado und Agregados del Cesar E.U. keine vorherige Absprache getroffen wurde. Am 13. Dezember 2010 stellte die Corporación Autónoma Regional del Cesar (Corpocesar) dem Unternehmen Agregados del Cesar E.U mittels Resolution 1646 eine Umweltlizenz für das Projekt aus, um die Baustoffvorkommen innerhalb der Línea Negra auszubeuten. Dies wurde im November 2013 als Bevormundung gewertet, da laut der indigenen Gemeinschaft, das Innenministerium, Corpocesar und die Bergbau-Unternehmen Agregados del Cesar E.U und Pavimentos y Construcciones el Dorado den besonderen, in der Verfassung verankerten Schutz der Indigenen nicht anerkannt hatten.
Der Gerichtshof von Valledupar wehrte die Ansprüche der indigenen Völker ab, sodass das Urteil im Verfassungsgerichtshof wiederaufgenommen wurde, der im November 2014 zum Urteil T849-14 kam und einräumte: „Die Grundrechte auf Selbstbestimmung, Lebensunterhalt, ethnische Vielfalt und vorherige Absprache der unterschiedlichen ethnischen Gemeinschaften, sind für die Einwohner des heiligen Gebiets der Sierra Nevada de Santa Marta unter besonderem Schutz in der Verfassung verankert“. Dieses Urteil dient heute als normativer Bezugspunkt für indigene Gemeinden.
Nachdem die Bevormundung aufgezeigt war, wurde nach dem Urteil die erwähnte Umweltlizenz des Corpocesar für die Ausbeutung von Baustoffen in der Línea Negra als ungültig befunden und das Innenministerium zu einem ausführlichen Konsultationsverfahren aufgefordert. In Zukunft müssen Anfragen eingereicht werden, welche die Präsenz indigener Gemeinden in der Línea Negra schriftlich bestätigen. Andernfalls mache man sich aus Unkenntnis über die Grundrechte der Gemeinden strafbar. Ebenso wurde Corpocesar ermahnt, dass die bescheinigte Abwesenheit indigener Gemeinden nicht als Grund ausreicht, um eine Erlaubnis oder Bewilligungen für Projekte zu erhalten, die das Gebiet innerhalb der Línea Negra betreffen.
Einige weitere Fälle wie der bereits genannte führten dazu, dass die Gemeinden am 13. Februar 2016 die Konsultationsverfahren abbrechen mussten, da so lange keine Gleichberechtigung für sie bestand, bis ein Abkommen mit der Regierung geschlossen würde. Bis heute sind 130 Anfragen ohne vorherige Absprache in die Tat umgesetzt worden.
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Ati Quigua ist der Meinung, dass so viele Konsultationen den Druck erhöhen und die Handlungskapazität der traditionellen Führungskräfte übersteigen, die nun keine Möglichkeit mehr haben, Spiritualität und Kultur zu leben. „Die Anfragen anzunehmen wird das Problem der Bergbauindustrie nicht lösen, im Gegenteil: Es ist eine unverhältnismäßig schwere Last, weil wir gar nicht so viele Leute, Spezialisten oder die Zeit haben, um das alles zu bewältigen. Wegen dieser Lawine von Anfragen haben wir unsere Zeit verwendet für externe Angelegenheiten von Regierung und Privatpersonen. Das hat den Zusammenhalt, die Autonomie und die eigene Regierung beeinträchtigt. Anfragen zu bearbeiten und uns mit Politik zu befassen, hat zur internen Spaltung beigetragen und schwächt immer weiter unsere Kultur und unser Überleben“, formulierte der Consejo Territorial de Cabildos, wobei sie den Gerichtshof und den PGN dazu aufforderten, diesen Punkt besonders zu analysieren.
‘Subjekt unter besonderem Schutzʽ
Am ersten August beraumte die Procuraduría General de la Nación (PGN) eine Audienz mit den vier indigenen Gemeinden und neun Richtern des Verfassungsgerichtshofs in Nabusímake an. „Das erste Mal in der Geschichte tagte das Gericht vollzählig außerhalb von Bogotá. „Der Dialog ist einzigartig in der Geschichte und hat viel Verständnis geschaffen, denn wenn man die Lage in Bogotá vom Schreibtisch aus betrachtet, ist das ein ganz anderes Bild als wenn man direkt in den Territorien lebt“, meinte Fernando Carrillo, Leiter der Procuraduría, der sich für den Schutz von 36 Wasserquellen einsetzt, die in der Sierra entspringen.
Die Völker klagten über Verstöße gegen Gerichtsbeschlüsse und Urteile des Gerichtshofs und überreichten den Bericht über das Entwicklungsmodell des extraktivistischen Bergbaus und dessen Auswirkung auf Kultur und Umwelt. Ein ausführliches Dokument, das ihre Weltsicht und nacheinander juristisch fundierte Probleme offenlegt. Im Bericht wurden zwei spezifische Anfragen gestellt. Zuerst wurde die SNSM als „Subjekt unter besonderem Schutz“ eingestuft, um so Maßnahmen für die Bewahrung des Ökosystems zu erreichen und zerstörerische Aktionen abzuwenden. Etwa in der Art des Urteils Sentencia T622 von 2016, bei dem der Verfassungsgerichtshof den Fluss Atrato zum „Subjekt unter besonderem Schutz“ erklärte, was Schutzmaßnahmen, Erhaltung, und Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts zur Folge hatte.
Die zweite Anfrage bezieht sich darauf, eine öffentliche Politik zum Kultur-und Umweltschutz der SNSM zu entwerfen, die ausgehend von der uralten Umweltvision eine Ordnung gewährleistet. Hierzu gibt es zwei Vorschläge: das Entwicklungsmodell für die Sierra neu überdenken und rechtliche Parameter für vorherige Absprachen festlegen, sodass sie nicht nur pro forma ablaufen, sondern eine Zustimmung notwendig ist. Ebenfalls soll eine strategische Umweltanalyse der Línea Negra vorgenommen werden, um Auswirkungen von Projekten auf Kultur und Umwelt festzustellen, die sich in der Vergangenheit gehäuft haben, aber auch in Zukunft auftreten können.
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Erwartung und Hoffnung
Die Hoffnung der vier Völker ist laut indigenen Wortführern, dass das Abkommen umgesetzt wird. „Wir haben immer an den guten Willen der Regierung geglaubt und wurden enttäuscht. Eine solche Aktion hatten wir bisher nie vorgesehen, aber die Regierung funktioniert auf Druck und deshalb werden wir aktiv. Es hat viel gebraucht, um uns an diesen Punkt zu bringen und nun hoffen wir, dass dieses rechtliche Werkzeug Gestalt annimmt. Aber das hängt nicht mehr von uns ab. Unser Kampf steht nicht nur für die vier indigenen Völker, sondern auch für Menschlichkeit“, bekräftigte Hermes Torres, Generalsekretär des Indigenen Arhuacaverbandes […], sobald er das Abkommen mit dem Innenministerium unterzeichnet hatte.
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Saday Rosado ist überzeugt, dass es sich um einen einschneidenden Moment handelt. „Wir sind traurig darüber, dass die Regierung von ‘Yugayinna’ ihre Versprechen nicht gehalten hat, die sie einer lebendigen Kultur gab, die nicht in Büchern oder Museen zu finden ist. Jetzt hoffen wir, dass sie uns nicht im Stich lässt“.
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Tito Rodríguez, Chef des Nationalparks SNSN, gibt die Hoffnung nicht auf. „Ich bin positiv gestimmt, aber das ist erst die Bestandsaufnahme. Ich glaube, dass die Sierra einen wichtigen Vorteil hat, denn sie wird von vier sehr starken indigenen Völkern bewahrt. Sie sind von Schwächen und Problemen geplagt, aber ihre Überzeugung zu erhalten und zu schützen ist machtvoll. Das ist die Hoffnung, die uns träumen lässt“.
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Dieser Artikel stammt vom 12. Juni 2016. Über zwei Jahre später hat sich die bedrohliche Lage für die vier indigenen Völker in der Sierra nicht grundlegend geändert. Ein weiterer Artikel vom 16. November 2018 berichtet ebenfalls über indigene Gemeinden, die durch bewaffnete Gruppen und um sich greifende Bergbauprojekte gefährdet sind. Dabei ist nicht einmal der Nationalen Bergbauagentur bekannt, wie viele Bergbau-Unternehmen schon in der Region aktiv sind. Allerdings hat sich durch die Impulse der Procuraduría auch eine inter/nationale „Allianz der Freunde der Sierra“ (Amigos de la Sierra) gegründet, welche die indigenen Gemeinden vor Gericht in ihrer wiederholten Klage wegen Bevormundung unterstützen wird. Die indigene Bevölkerung möchte weitere Konsultationsverfahren vermeiden, solange sie immer noch rechtlich benachteiligt werden. Allerdings haben die Unternehmen nach drei nicht durchgeführten Konsultationsprozessen freie Hand, ohne Rücksicht auf politische Abkommen oder den Willen der indigenen Gemeinden zu nehmen. Aktuell äußert sich die Regierung nicht zur Sierra Nevada (N. d. Übersetzerin).
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Original-Beitrag aus Semana Sostenible (12.06.2017). Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift.
Übersetzung aus dem Spanisch: Uta Hecker
Bildquelle: Semana Sostenible.
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1 Arhuaco-Organisation der Zusammenarbeit der indigenen Völker Kolumbiens.