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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die Macht der Wiphala

Germán Montaño Arroyo | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Ein Symbol, das den Geist der indigenen Völker stärkt

Sie ist ein Symbol, das in sozialen Bewegungen, in rituellen Zeremonien, beim
Ayni, bei Feierlichkeiten und in allen gesellschaftlichen Institutionen der
indigenen Identität präsent ist. Aus diesem Grund ist sie ebenso ein Symbol
des Widerstandes und des Kampfes: die „kämpferische Wiphala“ lässt
diejenigen erzittern, die immer noch versuchen, die indigenen Völker
unterdrückt zu halten.

Ein Meer von quadratischen Wiphalas („Fahnen“), Symbol ethnischer und politischer sozialer Bewegungen, Ausdruck von Identität in leuchtenden Farben zwischen den Stimmen und Schreien, den Gesängen und Ausrufen von Freude und Zorn. Die Wiphala eint und verbindet die Menschen in der Ritualisierung ihres Lebens, Indigene und Mestizen, aus der Stadt und vom Land.

Sie ist ein heiliges Symbol der einheimischen „amerikanischen“ Kultur, stets präsent bei allen sozialen und kulturellen Ereignissen, bei Festlichkeiten und den Zusammenkünften im Rahmen der Ayllu (Dorfgemeinschaft). Sie steht für die Vereinigung der Ehepaare in den Gemeinden und gleichzeitig für die Integration der Neugeborenen in die Gemeinschaft. Auch bei der Taufe ist sie präsent. Und wenn sich der Kreislauf des Lebens schließt, sieht man die Wiphala bei den Bestattungen. Es gibt keine Zeremonie in den Gemeinden, wo man nicht sofort auf ihr Fehlen aufmerksam werden würde. Jeder öffentliche Festakt oder historische Feiertag des Marka (Volk) erlangt in dessen Psyche eine tiefe Festlichkeit und Dauerhaftigkeit. Die Wiphala ist Symbol für die Zeremonie der k´illpa (Kennzeichnung des Viehs) und auch die Übergabe von Ämtern findet, in festgelegten Abständen, unter ihrem Schutz statt. Ganz zu schweigen von landwirtschaftlicher Gemeinschaftsarbeit, wo bei Ayni, Mink´a, Chuqu und Mit´a die Wiphala gemeinsam mit der Sonne und dem Regenbogen erstrahlt. Keine gemeinschaftliche Arbeit der Ayllu? und Marka und kein Bauwerk wird ohne die Wiphala und andere indigene Symbole fertig gestellt. Nie fehlt sie bei rituellen oder gesellschaftlichen Ereignissen. Außerdem ist die Wiphala auch Symbol spielerischer und soziokultureller Aktivitäten. Spiel und Freude gehören ebenso zu diesem Symbol wie zur Gesamtheit unserer indigenen Kultur. Daher rührt auch die Präsenz der Wiphala beim Volkstanz, wie zum Beispiel bei den Festen Anata oder Sujllay.

Die Wiphala ist ein dynamischer Bestandteil der gesellschaftlichen Institutionen der indigenen Bevölkerung. Sie ist Bestandteil einer Sprache, Teil der symbolischen Kommunikation verschiedener Gruppen und Individuen mit unterschiedlichen Sprachen. Sie repräsentiert eine offene Sprache, eine gemeinsame Kultur und ein gemeinschaftliches Gefühl. Als Symbol spielt die Wiphala auf ihre Weise auf die „Essenz“ der indigenen Identität an, die sich ihrerseits in vielfältigen gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten widerspiegelt. Im kämpferischen Widerstand gegen die spanische Konquista und später gegen die Feindseligkeit der Kolonialisten war die Wiphala ein dynamisches und kämpferisches Symbol des soziokulturellen Zusammenhalts der indigenen Identität. Dieser Aspekt der „kriegerischen Wiphala“ gegenüber den kolonialistischen Symbolen war in ihrer Geschichte außergewöhnlich (W. Chukiwanka). Sie tauchte immer dort auf, wo die indigene Identität angegriffen wurde: als Emblem des gesellschaftlichen Protestes und ethnischen Widerstandes der unterdrückten Klasse. Von der spanischen Invasion unter der karminroten Fahne Kolumbus´ bis zum heutigen massiven Widerstand der städtischen und ländlichen indigenen Bevölkerung: Immer wurde zunächst der holprige Weg des Gesetzes beschritten und erst, wenn sich kein anderer Ausweg mehr bot, wurde eine kriegerische Lösung in Betracht gezogen. Laut Chukiwanka erfüllt die Wiphala in diesem außergewöhnlichen Aspekt die Aufgabe, den „Geist der indigenen Völker des Kontinents Awiyala und des Tawantinsuyu zu stärken, um die indianische Nation gegen die kolonialistische Unterjochung zu verteidigen.“

Die Wiphala ist das Symbol aller gesellschaftlichen Aspekte der indigenen Lebenswelt und damit ihrer individuellen und gemeinschaftlichen Charakteristika. Somit umschließt sie die Gesamtheit der entsprechenden kulturellen Ausdrucksweisen. Sie „lebt“ selbst, indem sie fundamentale symmetrische und organische Formen des Lebens widerspiegelt. „Sie ist Ausdruck der sozioökonomischen Beziehungen im System der Qamaña (Existenz).“ Sie ist Symbol der Brüderlichkeit, der menschlichen Reziprozität und Solidarität. Die Wiphala hat vier gleich lange Seiten und sieben Farben zu je gleichen Anteilen, was für die Gleichheit in der Vielfalt der indigenen Völker steht. Diese Symbolik stellt im abstrakten Sinne das Fehlen der Antagonismen von Armen und Reichen, Unterdrückten und Herrschern dar. Die 49 kleinen Quadrate in sieben Farben repräsentieren die verschiedenen Markas und Suyus. Dies steht für die Einheit in der geografischen Vielfalt. Damit symbolisiert die Wiphala den Zweck der gesellschaftlichen und kulturellen Organisation und Harmonie für die indigene Gemeinschaft.

Die Wiphala begünstigt den Austausch von Leben und Energie bei Festen, bei der Arbeit, beim Spiel oder Protest. Sie ist gleichzeitig angewandtes Symbol wie auch selbst Bestandteil der kulturellen und gesellschaftlichen Energie. Von ihrem offenbaren (bewussten) Verwendungszweck leitet ihr Nutzer den verborgenen (unbewussten) Verwendungszweck ab. Zwischen diesen zwei Ebenen bewegen sich diejenigen, die die Wiphala tragen und verwenden. Tatsächlich öffnet die Wiphala und mit ihr die Gesamtheit der indigenen Symbolik das Tor zu einer spirituellen Gemeinschaft mit eigenen Bräuchen und Traditionen. Die Wiphala stärkt nicht nur die Solidarität zwischen den Individuen in der Gemeinschaft, sie symbolisiert nicht nur die gemeinschaftliche Unterstützung und Integration in einem sozialen Gefüge mit radikalisierter kollektiver Identität, sondern sie führt auch jenen außerhalb der Gemeinschaft vor Augen, dass sie sie ausschließen oder diskriminieren.

Viele weitere Inhalte werden der Wiphala zugeordnet. So heißt es zum Beispiel, dass „sie die Vertretung der Chakana, der vier Sterne am Firmament sei, die die Grundlage der geopolitischen Gliederung der Anden ist.“ Außerdem soll sie z. B. „das Gedenken an Ayar-kachi, Ayar-Uchu, Ayar-laq´a und Ayar-k´allku, die vier mythologischen Brüder und Vorgänger von Pusintsuyu und Tawantinsuyu,“ symbolisieren. Die Wiphala wird auch mit dem kosmischen Kalender in Verbindung gebracht (Alejandro Quisbert). Man sagt auch, sie sei „ein astronomisch-mathematisches Messinstrument, das unsere Vorfahren nutzten, um die Bewegungen der Erde in Bezug auf die Sonne und den Mond zu ,kontrollieren‘… Dieses Instrument ist unter der Bezeichnung andines Awaku bekannt.“ Quisbert liefert eine mathematische Erklärung mit drei Lesarten für den kalendarischen Inhalt.

Was der indigenen Identität zugrunde liegt

Carl Jung würde vielleicht sagen, die Wiphala sei die formale Repräsentation eines „unbewussten Archetypus“. Sicher ist sie so etwas wie ein „Urbild“, etwas, dass schon vor seinen zahlreichen Auslegungen und Verwendungen existierte. Wie ein Phänomen, das man erkennt, wenn es sich manifestiert. Ausgehend von ihrem unbewussten Charakter ist die Wiphala eine „angeborene“ Struktur. Andernfalls wäre es uns nicht möglich, ihre vorbewussten oder unbewussten Wurzeln zu begreifen. Das Vorbewusste oder Unbewusste ist kein „leeres Nichts“, sondern vielmehr eine psychische Dimension, die durch lebendige Manifestationen sichtbar wird. Wenn Jung von „Urbildern“ spricht, die dem menschlichen Geschlecht eigen sind oder eventuell durch „Gestaltungsprozesse“ entstehen, so liegt es nahe, anzunehmen, dass es für verschiedene soziokulturelle Zusammenhänge jeweils spezielle „Urbilder“ gibt. Die Wiphala ist also Manifestation eines „unbewussten Denkens“ (H. Usener).

Dieses unbewusste Denken ist eine Prädisposition der Psyche, es ist Form, Idee und Gefühl. Trotz der Tatsache, dass die Wiphala eine Manifestation (unter vielen) ist, so stellt sie doch auch die Prädisposition der soziokulturellen Psyche der indigenen Identität dar.

Nur indem wir die Wiphala als Tatsache wahrnehmen, begreifen wir, dass sie für uns unwiderlegbar eine organische Gesamtheit an Symbolen darstellt, die das lebendige und dauerhafte Wesen einer Ethnie greifbar machen. Die Wiphala kommuniziert das Bedürfnis eines Volkes, als würdiger Akteur einer Nation mit eigenem Ursprung und selbst bestimmter Zukunft anerkannt zu werden. Als das Zeichen schlechthin für gesellschaftlichen Mut repräsentiert sie eine sensible gesellschaftliche Verpflichtung, die nicht zu leugnen ist. Sie ist ein Symbol der Unterstützung für die Sache der indigenen Identität. Sie ist präsent im sozialen Gefüge vereinter Emotionalität (als „Meer von Wiphalas“) und erlaubt den Mitgliedern dieses Gefüges sich im fortlaufenden Prozess der Erneuerung als „Eins“ zu begreifen. Die Wiphala erlaubt damit -als hätte sie einen eigenen Willen- dass sich eine Gruppe oder Menge als Einheit begreift. Schlussendlich repräsentiert sie eine Sprache, welche die verschiedenen Aspekte des täglichen Lebens und Überlebenskampfes vereint. Sie ist da, wo Tod und Leben aufeinander treffen. Sie reduziert die Vielfalt durch ihre Anwesenheit auf eine ursprüngliche, eine Ur-Einheit im Rahmen der dynamischen und einzigartigen gesellschaftlichen Situationen. So zeigt sie auf, welche Strukturen der indigenen Identität zugrunde liegen.

Auf den ersten Blick ist die Wiphala kaum ein öffentliches gesellschaftliches Zeichen und noch weniger ein Aspekt der Denkstrukturen, Gefühle und des Schaffens der indigenen Identität in ihrer Geschichte. Schon allein ihre Farben sind Ausdruck einer Werteskala, wo zum Beispiel das Weiße zusammen mit den anderen Farben ein Paradigma darstellt. Wenn dies der Fall ist, so schafft es die heutige Wiphala, die Gefühl, Schaffen und Denken der tatsächlichen indigenen Vielfalt repräsentiert, in gewisser Weise die latente Dynamik des individuellen und kollektiven Unterbewusstseins und seines zugrunde liegenden Denkens auszudrücken. Somit bestätigt sich die Tatsache, dass die Wiphala eine Art Zeichen für eine Gesamtheit von Symbolen ist, was wiederum auf ihre ursprüngliche Radikalität und Bedeutungstiefe schließen lässt. In unserer indianischen und „mestizischen“ Mentalität harmonieren die Zeichen innerhalb eines Systems und ihre Funktionalität ist wechselseitig. Wenn ein negatives, das System negierendes Zeichen auftaucht, wird es in einem langen und historisch nicht zu beweisenden Prozess auf symbolischer Ebene in einen positiven Wert umgewandelt. Daraus folgt eine Revitalisierung des zugrunde liegenden Systems von Symbolen und dessen, was dieses System repräsentiert. Wenn es wahr wäre, dass die Wiphala aus einer uns fremden Welt kam, aufgeladen mit Werten, die unsere Identität negieren, so haben unsere Vorfahren dieses fremde Symbol soweit „domestiziert“ und sich zu eigen gemacht, dass es sich schließlich unter Voraussetzung der symbolischen Reziprozität in die Reihe der ursprünglichen, ureigenen Symbole einordnete. Wie konnte ein solcher Prozess möglich werden? Diese Frage können uns weder Wissenschaftler noch Historiker beantworten. Wir können nur die Macht des Geschehenen benennen. Ist nicht das Gleiche mit so vielen anderen Symbolen geschehen? Ist nicht zum Beispiel das Symbol der Jungfrau Maria auf diese Weise zu einem aktiven Teil der komplexen und schwer zugänglichen Symbolik des Begriffs Mamapacha geworden? Könnte das vielleicht bedeuten, dass diese Prozesse einer Gesetzmäßigkeit unterliegen? Sicher ist, dass solche Prozesse im Spiel und den Konflikten ethnischer und kultureller Spannungen ablaufen, wo die Unterschiede die Gemeinsamkeiten überwiegen.

Zusammenfassend sei ohne Anspruch auf empirische Beweisbarkeit folgendes gesagt: Es gibt eine Zeit, die nie enden wird: die Zeit des Ursprungs. Der Zusammenhalt der fortdauernden Integration der indigenen Ethnizität, die historisch durch zahlreiche Symbole und Werke belegt wird, vergrößert ihre Würde und macht sie authentischer. Dies wird umso klarer durch die zahlreichen Zeugnisse der Selbstbestätigung.

Übersetzung: Maxi Pöttrich