Der Besucher betritt einen abgedunkelten Raum und trifft sofort auf eine Leinwand, auf der in einer Endlosschleife Dias gezeigt werden: Bilder aus den Anden – Landschaft, Menschen, Lamas. Rechts in einem Halbrund sind in zwei Reihen Keramiken zu sehen, Gefäße, die vor allem aus der Mochekultur stammen. Die Objekte aus der Sammlung des Arztes Ernst J. Fischer zeigen Anzeichen verschiedener Krankheiten. Dahinter dann ein seltsames Gebilde, ein Virusmodell, wie ich inzwischen weiß, das weitere Ausstellungsstücke enthält. Wenn man den zweiten Raum betritt, fallen fast als erstes die Tafeln auf, die gewissermaßen den Ablauf des Rundgangs erläutern und wie Schilder in einem großen Supermarkt wirken, die dem Kunden die Orientierung zwischen den einzelnen Abteilungen erleichtern sollen. Diese Erklärungshilfen begannen bereits im ersten Raum mit dem Thema Beruf(ung) und setzen sich jetzt fort mit Prophylaxe, Pharmazie, Diagnose, Therapie, Theorie. Spätenstens hier wird klar: Es geht um Medizin.
Die Leipziger Ausstellung „Kallawaya. Heilkunst in den Anden“ präsentiert Teile der Sammlung der Psychotherapeutin, Soziologin und Ethnologin Ina Rösing, die seit den 1980er Jahren zu den Kallawaya forscht. Die Schau spielt sichtlich mit dem aufscheinenden Widerspruch: magische Volksmedizin auf der einen und Begriffe aus der westlichen rational-wissenschaftlich orientierten Schulmedizin auf der anderen Seite. Das macht ein Gutteil ihres Reizes aus und vermittelt so auf recht anschauliche Weise verblüffende Einsichten. Das Spiel mit tatsächlichen und vermeintlichen Unterschieden zwischen den Krankheitsbegriffen in beiden Kulturen beginnt bereits bei der Gestaltung der Ausstellung: Die Vitrinen, Objektträger – wie immer man sie nennen möchte – kolportieren Gewohntes aus der modernen westlichen Medizin. Da ist das bereits erwähnte Virusmodell, es gibt überdimensionierte Spritzen, Apothekerwaagen, Mikroskope, Medikamentenpackungen. Nur leider, fürchte ich, kann mit Sicherheit nicht jeder Besucher der Ausstellung diese hintersinnige Anspielung auf „unsere“ Medizin als Gegensatz zu den traditionellen Vorstellungen der indigenen Heiler würdigen. Uns, also den beiden Quetzal-Besucherinnen, stellte sich durchaus die Frage, was diese Objekte bedeuten sollen, die ein wenig wie die Kulisse für einen Science-Fiction-Film anmuten. Der intendierte Zusammenhang erschloss sich uns allerdings nicht. Das finde ich im Nachhinein doch etwas schade.
Die Darstellung von Medizin und Heilkunst ist in einem musealen Rahmen sicher nicht ganz einfach zu realisieren. Man denke nur an die Sammlungen von medizinischen Instrumenten, mit denen Laien im Allgemeinen nicht viel anfangen können. Da bleibt bestenfalls ein leichter Schauder angesichts der „Folterinstrumente“. Die Schau zu den Kallawaya-Heilern dagegen vermag es, die uns zunächst eher fremden Vorstellungen und Methoden der indigenen Mediziner sehr anschaulich darzustellen und (wenigstens ansatzweise) nachvollziehbar zu machen. Man sollte aber Zeit mitbringen und sich auch nehmen, um die eigentlich recht kleine Präsentation wirklich studieren zu können. Und, darauf sei hier ausdrücklich hingewiesen, der Katalog zur Ausstellung ist unbedingt empfehlenswert.
Folgt man den „Supermarkt-Tafeln“, dann wird man recht umfassend über Vorstellungen und Therapien der Heiler aus dem Andenhochland informiert. Auffällig die zahlreichen Präsentationsmethoden, die das schwierige Thema sehr abwechslungsreich gestalten: Informationstafeln, Tondokumente, Filme und Ausstellungsstücke über Ausstellungsstücke…
Die vorgestellten Heilkräuter belegen das umfassende medizinische Wissen der indigenen Heiler. Und besonders dieses Kräuterwissen weckt großes internationales Interesse. So wird die Kallawaya-Heilkunst nach ihrer 2003 erfolgten Anerkennung als immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe vor allem als Wissen über die Wirkung verschiedenster Heilpflanzen gefördert. Die andere, die magische Seite der traditionellen Heilmethoden wird dabei zumeist ausgeblendet. Möglich, dass sie heute auch im offiziellen Bolivien als eher rückständig und somit etwas peinlich angesehen wird. Doch gerade die religiöse Funktion der Kallawaya genannten Heiler macht die Bedeutung dieser Heilkunst aus, die in der in der andinen Region im Westen Boliviens nördlich des Titicaca-Sees beheimatet ist. Die Bezeichnung Kallawaya (vermutlich Aymara für Heilkräuter-Tragender), die angesichts der internationalen Anerkennung inzwischen viele für sich beanspruchen, dürfen offiziell übrigens nur Männer tragen. Frauen bleiben in der Regel nur die etwas „negativeren“ Heilverfahren (schwarze Heilung) vorbehalten.
Die Ausstellung folgt zum Glück dieser eingeschränkten Interpretation nicht. Der Besucher lernt den Unterschied zwischen weißer, grauer und schwarzer Heilung kennen und erfährt damit einiges über das Weltbild der Andenbewohner und den Zusammenhang zwischen Religion und Heilung. So werden die zahlreichen Ingredienzien für die verschiedenen Zeremonien sehr anschaulich präsentiert und erläutert. In einem Film können auch schwarze Heilungen verfolgt werden. Ich gebe zu, schon zu Beginn des zweiten Beispiels einer Diagnose mit Hilfe eines Meerschweinchens aufgegeben zu haben. Andere Länder, andere Sitten – und wahrlich nicht jedermanns Sache…
Sehr originell und aufschlussreich ist die Diskussion von psychologischen, religionswissenschaftlichen und soziologischen Aspekten der verschiedenen Auffassungen von Gesundheit und Krankheit, die – von Schauspielern vorgetragen – in eingespielten Filmen zu sehen ist. Hier wird deutlich, wie ähnlich sich westliche Biomedizin und traditionelle andine Heilmethoden bei allen Unterschieden doch sein können. Gut, die Vorstellung dessen, was als gesund und als krank gilt, ist grundverschieden. In der westlichen Medizin konzentriert man sich auf rein physiologische Vorgänge, die mit allerlei Mittelchen und Pülverchen beeinflusst und somit verbessert werden können. Die Kallawaya begreifen ein gestörtes Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt als krank, meist – aber nicht nur – hervorgerufen durch Missachtung oder Beleidigung der göttlichen Wesen. Und da selbige die Geschicke der Menschen umfassend beeinflussen und zudem sehr zahlreich sind, ist es relativ leicht, einmal eines zu vergessen, zu erzürnen und damit die Lebensharmonie zu stören. Für deren Wiederherstellung sind die Heiler zuständig.
Ihre Methoden mögen uns bisweilen bizarr erscheinen, doch sie nutzen ähnliche Mechanismen wie unsere Halbgötter in Weiß. Bilden wir aufgeklärten Westeuropäer uns nicht manchmal ein, besser behandelt zu werden, wenn unser Arzt ein Doktor ist? Glaube kann Berge versetzen, nur glauben verschiedene Kulturen halt an verschiedene Dinge: die einen an die magische Heilwirkung von Meerschweincheninnereien und die anderen an Medikamente, die nicht selten (rein naturwissenschaftlich gesehen) als eher wirkungslos eingestuft werden oder sowieso nur Placebos sind. Das hilft beides nicht immer, aber oft genug. Wie, weiß keiner so richtig; die Kallawaya-Ausstellung erinnert uns aber daran.
Abbildungen: Edenheiser, Iris/ Deimel, Claus: Kallawaya. Heilkunst in den Anden. Katalog zur Sonderausstellung im GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig vom 3.12.2010 bis zum 8.5.2011.