Neue Welt in der neuen Weltordnung
Zahlreich und einschneidend sind die Veränderungen, die am Ausgang des 20. Jahrhunderts die Welt erschüttern, umkrempeln und restrukturieren. Der Umbruch von 1989 hat diese Entwicklung nicht nur unwiederbringlich in unser Bewußtsein gerückt, sondern sie auch beschleunigt und ihr neue Felder eröffnet. So nimmt es nicht Wunder, wenn Lateinamerikaner und Lateinamerikanisten der verschiedendsten Couleur die Frage umtreibt, wie „Die internationale Situation Lateinamerikas in einer veränderten Welt“ sein wird. Unter diesem Titel wurden bei Vervuert die Ergebnisse der wissenschaftlichen Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lateinamerika-Forschung (ADLAF) vom Oktober 1993 publiziert. Auch die drei Aufsätze im „Lateinamerika Jahrbuch 1995″, vom selben Verlag editiert, widmen sich dieser Frage. Folgt man der Gliederung des ersten Titels, dann kann man der sehr komplexen Fragestellung anhand von vier Themenfeldern nachgehen: 1. globale Veränderungstrends (mit Beiträgen von Sandner, Heine, Smith, Kumar) und die internationale Situation Lateinamerikas (Klose, Mols, Borja); 2. Außenbeziehungen Lateinamerikas (Bodemer, Botero, Vickers, Palacios); 3. Integrationsbemühungen im kontinentalen und subregionalen Rahmen (Ferrero Costa, Frohmann, Wedderburn, Lauth); 4. neue Konzepte (Sangmeister, Schaffer, Murtfeld). Die Beiträge des Jahrbuchs lassen sich ebenfalls in dieses Raster einordnen. Frohmann widmet sich auch hier dem Thema der politischen Zusammenarbeit in Lateinamerika, Werz greift mit den Kulturbeziehungen Deutschland – Lateinamerika einen spezifischen und interessanten Aspekt der Außenbeziehungen auf, der auch die DDR einbezieht, und Moltmann behandelt unter dem Thema der Sicherheitspolitik im südlichen Südamerika auch die außenpolitischen Determinanten und neuen Herausforderungen dieses gerade für Lateinamerika relevanten Politikfeldes. Inhaltlich stehen drei Fragen im Zentrum: nach dem Verhältnis von Globalisierung und Fragmentierung (bzw. Regionalisierung), von Politik und Ökonomie sowie von Nord und Süd. In diesem dreifachen Spannungsfeld mit seinen mannigfaltigen Überlagerungen und Gegenläufigkeiten muß Lateinamerika – wie andere Regionen auch – seinen Platz im internationalen System neu bestimmen. Die Dimension dieser Aufgabe wird deutlich, wenn man die Ausgangs- und Rahmenbedingungen zu den Zielen und Herausforderungen in Beziehung setzt. Da ist erstens die Tiefe der Zäsur der Weltpolitik zu nennen, die Heine in seinem Beitrag dazu veranlaßt, 1989 allenfalls mit 1648, „als mit dem Westfälischen Frieden das im Nationalstaat verankerte internationale System entstand“ (S. 55), zu vergleichen. Die tektonischen Brüche und Verschiebungen des „Weltbebens“ von 1989 hatten für Lateinamerika vielfältige Folgen. Mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts hat der Kontinent in den Augen der USA seine vorherige Bedeutung eingebüßt (Smith, Vickers), ohne daß dies durch andere Mächte (v.a. EU) kompensiert werden konnte (Klose, Botero, Borja). Die Hegemonie der USA in der westlichen Hemisphäre ist manifester als je zuvor (Smith). Mit anderen Regionen befindet sich Lateinamerika im 2-Fronten-Krieg auf höchst unterschiedlichen Feldern. Mit Osteuropa muß es um Investitionen und Entwicklungshilfe aus den Industrieländern (Klose, Botero) und mit der ostasiatisch-pazifischen Region, „die Wachstumsregion der nächsten Jahrzehnte“ (Klose; Hervorheb, im Original), um Weltmarktanteile konkurrieren (Mols, Palacios). In Verbindung mit der weitverbreiteten Skepsis gegenüber Lateinamerika (Mols) erwachsen dem Halbkontinent daraus trotz seiner geostrategischen Lage im Dreieck der Triade (USA, EU, Japan) und obwohl es den Empfehlungen des Neoliberalismus bereitwillig folgt, eher Nachteile.
Damit sind die auch von den Teilnehmern der ADLAF-Tagung kontrovers diskutierten Folgen des Neoliberalismus angesprochen. Einerseits wird Lateinamerika für seine erfolgreiche Verbindung von Demokratisierung und Marktöffnung höchstes Lob gezollt (Klose) bzw. aufgefordert, auf diesem Weg konsequenter und schneller voranzuschreiten (Mols, Sangmeister). Andererseits verschärft sich im Ergebnis dieses Kurses die soziale Frage. „Die soziale Frage stellt nach Einschätzung der deutschen Botschafter das größte Problem des Kontinents dar, dessen Lösung auch nicht in Ansätzen erkennbar ist.“ (Schaffer, S. 236). Es ist deshalb nur logisch, daß es zum Neoliberalismus konträre Positionen gibt. Während deutsche Autoren darin eine Alternative zur „bisherigen Geschichte“ sehen (Sangmeister; vorsichtiger Mols), beharren lateinamerikanische Teilnehmer (Palacios, Borja) darauf, daß es eine Alternative sowohl zum Cepalismus als auch zum Neoliberalismus geben müsse. Wie auch immer der Leser diese Frage beantwortet, er findet in den besprochenen Beiträgen genügend Anregungen, weiter darüber nachzudenken. Ein Gewinn ist die Lektüre auch deshalb, weil die Probleme aus der Perspektive verschiedener Regionen und Länder beleuchtet werden (neben Lateinamerika, USA und Europa auch Asien).
Mols, Manfred (Hrsg.),
Die internationale Situation Lateinamerikas in einer veränderten Welt.
Vervuert Verlag,
273 Seiten,
Frankfurt/M. 1995.
Gleich, A. v./ Krumwiede, H.-W./Nolte, D./ Sangmeister, H. (Hrsg.),
Lateinamerika Jahrbuch 1995.
Vervuert Verlag,
340 Seiten,
Frankfurt/M. 1995.