Angesichts der immer häufiger werdenden Einschläge der globalen Wirtschafts-, Finanz-, Klima- und Ernährungskrisen hat sich das Wuppertaler Süd-Nord Kolloquium auf die Suche nach Alternativen zum derzeitigen Gesellschaftssystem gemacht. Im Ergebnis steht ein kleiner Sammelband mit dem Titel „Her mit dem guten Leben! Gegenentwürfe zur globalen Krise“, das der Verein Informationsbüro Nicaragua e. V. herausgegeben hat. Darin kommen zahlreiche namhafte Kritiker zu Wort, leider, und das soll schon vorab gesagt sein, überwiegend aus der deutschen „Szene“. Die Spannbreite der Themen reicht von neuen Konzepten des Guten Zusammenlebens (das sogenannte Sumaq Kawsay), der Skizzierung einer Postwachstumsökonomie, alternativen Kriterien zur Messung gesellschaftlicher Entwicklung bis hin zum Kampf um das Recht auf Stadt und Guerilla Gardening.
Die thematische Ringklammer bildet das Konzept des Guten Zusammenlebens – im Buch mehrheitlich in seiner spanischen Version des Buen Vivir (so bezeichnet in Ecuador; in Bolivien firmierend unter Vivir Bien) verwandt. Hier liegt allerdings der konzeptionelle Fehler der Herausgeber. Hätten sie in ihrem Vorwort darauf verzichtet, das Buen Vivir als roten Faden des Bandes zu wählen, und sich stattdessen auf Wachstumskritik und Bottom-Up-Ansätze beschränkt – es wären keine Missverständnisse entstanden. Denn das Buen Vivir gibt nicht den wahren Wesensgehalt des so genannten Sumaq Kawsay (Quechua/Ecuador), des Qhapac Ñan (Quechua/Peru) oder des Suma Qamaña (Aymara/ Bolivien) wieder [1]. Die etymologische Bedeutung des Aymara- bzw. Quechua-Wortes geht über das „gute Leben für alle“ (S. 13), implizit damit auch über ein besseres Leben für die vielen armen Menschen, hinaus und bezieht sich auf das „gute“ und „richtige Zusammenleben“ von Mensch, Tier, Natur und Kosmos.[2]
Thomas Fatheuer (S. 23ff.), der erst unlängst eine Einführung zu dem Thema für die Böll-Stiftung verfasst hat [3], und Humberto Cholango (S. 29ff.), Vorsitzender des Indigenendachverbandes CONAIE, sind sich dessen sehr wohl bewusst. Dennoch stützt sich die Mehrheit der Autoren des vorliegenden Bandes auf ein Buen Vivir, wie sie es verstehen. Dieses Herangehen öffnet Raum für viele Sachverhalte, vergibt allerdings auch die Chance, der Etymologie des Sumaq Kawsay auf den Grund zu gehen und die realpolitischen und -wirtschaftlichen Konsequenzen aufzuzeigen. Dafür hätte es eines Quechua-/Aymara-sprachigen Autors bedurft, der das zum Teil spirituelle Konzept erläutert und es von anderen Formen des Buen Vivir abgrenzt.
Die Intention der Herausgeber, diese (kosmopolitische) Idee in Deutschland bekannter zu machen und auf verschiedene Aspekte des (urbanen) Zusammenlebens anzuwenden, bekommt deshalb von Anfang an einen bitteren Beigeschmack: zu eurozentristisch (siehe S. 9: „aus einem europäischen Kontext heraus“), zu sehr der westlichen Kultur angelehnt.
Unter diesen Prämissen ist der Sammelband nichtsdestotrotz eine lesenswerte Zusammenführung kritischer Gedanken zu den Ursachen der immanenten Krisen der Industriegesellschaft. Und er liefert Lösungsansätze. Für den Energiesektor etwa schlägt Michelle Wenderlich den Übergang zu einer dezentralen partizipativen Struktur vor, mit Stadtwerken und Genossenschaftsmodellen im Kern (S. 41). Niko Paech plädiert, basierend auf seinen Arbeiten zur Postwachstumsökonomie, für eine Entkopplung, d.h. für die Minimierung des Ressourcen- und Energieeinsatzes zur Produktion einer bestimmten Menge an Gütern, unter weitgehendem Recycling oder gar der Verwendung nachwachsender Rohstoffe (S. 44). Dieser Schritt ist aber seiner Meinung nach nicht ausreichend. Vielmehr bedürfe es auch einer Verringerung der Fremdversorgung – jenes Phänomens, das zwangsläufig aus der immer weiter fortschreitenden kapitalistischen (internationalen) Spezialisierung und Arbeitsteilung folgt. Er schlägt deshalb vor, die Distanz zwischen Verbrauch und Produktion zu verringern und die Lokal- und Regionalwirtschaft zu stärken. Außerdem sollen Anleger wieder größeren Einfluss darauf nehmen, was mit ihrem Kapital geschieht (etwa durch den Wechsel zu Genossenschaftsbanken oder direkter Finanzierungshilfe lokaler Unternehmen). Selbst ein Zurück zur Subsistenzproduktion (z.B. in Form eines urbanen Gemeinschaftsgartens) wäre denkbar (S. 47-51).
Den letztgenannten Punkt greift Christa Müller in ihrem Beitrag zum Guerilla Gardening auf. Jenes Konzept geht jedoch über das bloße Nutzen fremden (oftmals brach liegenden) Bodens für den eigenen Gemüseanbau hinaus, denn Guerilla Gardening ist partizipativ und gemeinschaftsorientiert (S. 55). Es eröffnet so auch den Blick auf Planungsdefizite und verfehlte Stadtpolitik. Dennoch stellt sich dem Leser die Frage, ob jeder Stadtbewohner nun zum Guerilla-Gärtner werden müsse, um dadurch das Gute Zusammenleben zu ermöglichen – oder ob nicht diese Aktionsform lediglich eine Nischenbewegung darstellt.
Dirk Gebhardt und Andrej Holm widmen sich in ihrem Artikel dem Recht auf Stadt, d.h. dem gleichen „Nutzungsrecht von Städten innerhalb der Prinzipien der Nachhaltigkeit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit“ […] insbesondere für benachteiligte und marginalisierte Gruppen (S. 67-69). Allerdings bleibt die Analyse auf dieser Ebene stehen; eine Verknüpfung mit dem Konzept des Sumaq Kawsay wird nicht hergestellt.
Das gleiche gilt auch für den Beitrag von Dorothee Rodenhäuser. Zwar ist ihre Suche nach einem alternativen Kriterium zur Bestimmung gesellschaftlicher Entwicklung ein aktuelles Thema; das Bruttoinlandsprodukt taugt als Wohlfahrtsmaß bekanntlich wenig. Aber die Analyse – so richtig sie auch ist – bleibt isoliert. Es handelt sich um einen stand alone-Artikel, der je nach Kontext (hier: des Guten Zusammenlebens) scheinbar beliebig verwendet werden kann. Nur geht gerade der Begriff „Entwicklung“ (oder die Berechnung derselben) bereits im Ansatz am Konzept des Guten Zusammenlebens vorbei! – Ein interkulturelles Missverständnis, was auf die eingangs geschilderte Problematik der richtigen Definition von Sumak Kawsay und die Konzeption des Sammelbandes zurückzuführen ist.
Eine isolierte Stellung des zu erklärenden Sachverhaltes, des Explanandums, im Sammelband nehmen auch Friederike Habermanns Analyse zu den Commons und Thomas Seiferts Beitrag zu den öffentlichen Gütern ein.
Im Sinne des Buen Vivir als potentielle (lateinamerikanische) Antwort auf die Weltkrisen sind deshalb vor allem die ersten beiden Artikel des Bandes empfehlenswerte Lektüre. Gert Eisenbürger hinterfragt beispielsweise, ob das Buen Vivir derzeit eine Perspektive für die linken Regierungen in Lateinamerika darstellt. Er umreißt die lateinamerikanische jüngere Geschichte, die durch Schuldenkrise, Strukturanpassungsprogramme, Marktöffnung und Liberalisierung, Rohstoffausbeutung und Monokulturen charakterisiert ist. Aber er hegt Zweifel, ob die angestoßenen Reformen ausreichen, grundlegende Änderungen im Sinne eines Guten Zusammenlebens umsetzen zu können. Dafür gehen die wirtschaftspolitischen Umstrukturierungen (vor allem in Bezug auf das extraktivistische Rohstoffexportmodell) nicht weit genug. Sein Fazit: „Von einem alternativen ökonomischen Modell jenseits des Neoliberalismus ist bisher […] nur sehr wenig zu erkennen.“
Ebenso deutlich ist Humberto Cholango. Für ihn läuft die aktuelle Politik in Ecuador weniger auf die Realisierung des Sumak Kawsay hinaus, sondern stellt lediglich eine „Politik der Klientelisierung“ (S. 31) dar. Die wichtigen Entscheidungen werden in Quito gefällt. Das „Buen Vivir lässt sich aber nicht von oben verordnen, es kann nur aus dem Dialog entstehen“ (ebd.). Überdies beinhaltet das Gute Zusammenleben eben auch, die vorherrschenden Strukturen in Staat und Wirtschaft zu hinterfragen – ein Hauptkonfliktpunkt für die gespannten Beziehungen zwischen der indigenen Bewegung in Ecuador und der Regierung Rafael Correas.
Was ist nun die Quintessenz des Bandes? Es fällt erstaunlich schwer, diese Frage zu beantworten. Über das Konzept des Sumaq Kawsay (das Gute Zusammenleben), wie es Einklang in die ecuadorianische und bolivianische Verfassung fand, erfährt der Leser wenig. Und die Exclamatio „Her mit dem guten Leben!“ lässt offen, wie denn das gute Leben aussehen soll. Sicherlich finden sich Anhaltspunkte. Doch als Gesamtkonzept bleibt das Büchlein zu sehr Stückwerk. Bestenfalls kann es als Einstiegsliteratur ins Thema empfohlen werden.
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[1] Die Entstehung dieses Begriffes und die Bedeutung des Konzeptes ist nachzulesen in: Gärtner et al. (2010): Bolivien im Umbruch. Der schwierige Weg der Neugründung. Quetzal / Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, S. 686.
[2] Siehe Muruchi Poma: Das Wirtschaftsmodell Boliviens, in: Quetzal, Mai 2009, https://quetzal-leipzig.de/lateinamerika/bolivien/das-wirtschaftsmodell-boliviens. Siehe ders.: Vivir Bien („Gut leben“). Zur Entstehung und Inhalt des „Guten Lebens“, in: Amerika21 vom 25.11.2011, http://amerika21.de/analyse/42318/vivir-bien.
[3] Fatheuer, Thomas: Buen Vivir. Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur, Band 17 der Schriftenreihe Ökologie, Heinrich-Böll-Stiftung, 2011.
Bildquellen: [1] Buch-Cover; [2] Quetzal-Redaktion, wd; [3] Quetzal-Redaktion, am
Informationsbüro Nicaragua e.V.
Her mit dem guten Leben! Gegenentwürfe zur globalen Krise
nahua script 14
Wuppertal, 2011