Seit der Etablierung des spanisch/portugiesischen Kolonialsystems in Amerika zeigen sich deutlich zwei Entwicklungslinien, Standpunkte und Sichten, die man einerseits als Fremdbestimmung und andererseits als Selbstbestimmung des Indianers bezeichnen kann. Ersteres – die Fremdbestimmung – fand seinen deutlichsten Ausdruck in Theorie und Praxis des Indigenismo in allen seinen Varianten. Letzteres – die Selbstbestimmung – die inzwischen mit dem Begriff der Indianidad erfasst wird, bildet die zweite Linie. Beiden Richtungen muss Aufmerksamkeit gewidmet werden, will man die Situation speziell des lateinamerikanischen Indianers in der Gegenwart erfassen(…)
So unterschiedlich die indigenistischen Vorstellungen und Ziele auch sein mögen, eines ist ihnen immer eigen, ist das Charakteristikum des Indigenismus: der Paternalismus. (…) In diesem Kontext hat Mexiko eine Vorreiterrolle für Lateinamerika übernommen. Hier sind Theorie und Praxis des Indigenismus nach der Revolution von 1910/17 in besonderem Maße entwickelt und durchgesetzt sowie – seit Gründung des Interamerikanischen Indigenistischen Instituts im Jahre 1940 an die darin fast alle integrierten lateinamerikanischen Staaten – empfehlend weitergegeben worden. (…)
Mit zunehmender Institutionalisierung änderte sich die Zielstellung der indigenistischen Politik, die der mexikanische Präsident Echeverría während der zweiten großen indigenistischen Welle 1970-76 folgendermaßen umschrieb: ‚Wenn die Indianer Mexikos nicht aktiv am intellektuellen und produktiven Leben als Staatsbürger teilnehmen, werden sie Fremde in ihrem eigenen Lande und Gegenstand des Missbrauchs von jenen sein, die mehr besitzen und werden weiterhin entfernt von den Vorteilen der Zivilisation dahinleben. Wir sprechen davon, unsere Rohstoffquellen zu mexikanisieren, ohne daran zu denken, dass es richtig wäre, auch an die Mexikanisierung unserer menschlichen Ressourcen zu denken. (Hervorhebung, V.H.) Selbst in Mexiko, das für seine 59 staatlich registrierten Ethnien inzwischen 90 Koordinationszentren in den jeweiligen Siedlungszentren eingerichtet hat, ist dieses indigenistische Ziel, Mexikanisierung bzw. Nationalisierung des Indianers, fehlgeschlagen. (…) Die wichtigste Frage wurde bei den statistischen Erhebungen nicht gestellt: die Frage nach der eigenen ethnischen, indigenen oder nicht-indigenen Identität des Bürgers. So reicht die Fremdbestimmung bis in die uns vorliegenden Statistiken; das sollte bei Nutzung solcher Angaben immer auch bedacht werden.(…)
Die Geschichte der Indianidad muss noch geschrieben werden. Sie beginnt mit dem Aufbegehren gegen die Conquista und zieht sich in Form von Aufständen, Rebellionen, Teilnahme an Befreiungsbewegungen und Revolutionen, Autonomiebestrebungen, Ausweichen in Rückzugsgebiete („regiones de refugio“) durch die Jahrhunderte. Mit allen diesen historischen Ereignissen sind indianische Positionen, Haltungen, Forderungen verbunden, die Wandlungen unterworfen waren, und von denen wir noch viel zu wenig wissen. Erst in den letzten 30 – 40 Jahren hat es solche Dokumentationen gegeben. (…)
Dabei kristallisierten sich elf Themenkreise heraus, die uns die Möglichkeit bieten, einige wichtige Positionen zu ihrem Selbstverständnis zu finden. (…)
1. Grundsätzliche Negation der „westlichen Zivilisation“, eine Abgrenzung des Indígena vom Nicht-Indígena; aus der historischen Kontituität leitet sich das Recht der Indianer auf eigenes Denken her; Amerika ist eine indianische Welt, die wieder befreit werden muss.
2. Entwicklung pan-indianischer Auffassungen – Ausgangspunkt ist die These einer „indianischen Zivilisation“(…)
3. Entwicklung eines eigenen Geschichtsbewusstseins, Rückgewinnung der indianischen Geschichte. Die Praxis, dass die Bildungsprogramme der einzelnen lateinamerikanischen Länder ausgerichtet sind auf die Vermittlung einer Nationalgeschichte, führte zum Verschweigen und Verfälschen, zur Ignorierung der ethnischen, der indianischen Geschichte. Dargestellte Fakten und Perspektiven sind falsch. Mythen, orale Überlieferungen müssen genutzt werden, um eine neue wahre, eigene Geschichte zu schreiben. Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist unverzichtbar für die politische Mobilisierung des indianischen Volkes. Es war eine der grausamsten Aggressionen, den Indianer seiner Geschichte zu berauben.
4. Die Wertung indianischer Kulturen, ausgehend von einer Gegenüberstellung der indianischen und der nicht-indianischen-Zivilisation. Die Überlegenheit indigener Kultur ist vor allem moralischer Natur; es geht um solche Werte wie Solidarität, Respekt, Ehrenhaftigkeit, Bescheidenheit, Liebe. Im Kontrast dazu sieht man die Werte des „Westens“, die sich als Akkumulierung von unersättlicher Gier nach materiellen Reichtümern, Egoismus, Betrug, Enttäuschung und Hass darstellen.
5. Als ein Charakteristikum indianischen Verhaltens gilt ihre spezielle Beziehung zur Natur. Der Mensch ist wesentlicher und unlösbarer Teil des Kosmos.