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Kapitän Seymour Sea

Noberto Luis Romero | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

für Eduardo und Adriana

Es war eine sehr kalte Nacht, in der Kapitän Seymour Sea während eines Sturms ein Auge verlor. Der Giekbaum löste sich, schwang herum, riß dabei mehrere Taue mit, und das ausgefranste Ende eines dieser Taue verpaßte ihm einen heftigen Peitschenschlag mitten ins Gesicht.

Der Kapitän kämpfte gegen den wütenden Wind an und bemerkte nur den Schlag und war verwirrt, denn wegen der Kälte spürte er den Schmerz nicht. Etwas später verspürte er große Hitze in einer Wange. Ohne von seinem Kampf abzulassen, faßte er sich an die schmerzende Stelle, und als er dann seine Hand betrachtete, sah er, daß sie ganz rot war. Der eisige Wind ließ das Blut sofort gefrieren, und da erfaßte ein stechender Schmerz diese Seite seines Gesichts und eine ungewohnte Kälte drang in sein rechtes Auge ein. Er betastete vorsichtig das schlaffe Lid und die zu seiner Überraschung nun leere Augenhöhle. Instinktiv schaute er nach unten, als erwartete er, das Auge würde auf dem Deck liegen und ihn ansehen, und er glaubte, jeden Moment sein eigenes Bild zu erblicken, so als würde man sich selbst ohne Spiegel sehen. Dort unten schäumte wütend das Wasser und schlug gegen seine Beine. Plötzlich wurde ihm klar, daß sein Auge in genau jenem Moment von den Fischen gefressen würde und daß er es für immer verloren hatte. Doch trotz seines großen Leidens gab er seinen Männern weiter Befehle, kämpfte er mutig weiter gegen den Sturm, bis er das Schiff wieder im Griff hatte, die Segel festzog und so verhinderte, daß es sich auf die Seite legte und mit der gesamten Mannschaft unterging.

Der Schiffsarzt, ein alter Matrose, der seine Ausbildung nie hatte abschließen können, aber sehr erfahren war im Behandeln von allen möglichen exotischen Fiebern, Krämpfen und im Stillen von Wunden, desinfizierte die dunkle Augenhöhle mit irgendwelchen Pülverchen und vernähte die Wunde mit sechs oder sieben Stichen, die wie eine kleine Strickleiter vom unteren Lid die halbe Wange hinunter gingen.

Als in dieser Nacht der Sturm nachließ, schneiderte ihm der Schiffsjunge, der sehr geschickt mit Nadel und Faden umgehen konnte und Kapitän Sea sehr bewunderte, im schwachen Licht der Öllampe aus einem Stück schwarzen Stoffs eine Augenklappe.

Dieser Unfall bedeutete das Ende der Laufbahn Kapitän Seas. der sein fortgeschrittenes Alter, die verschriebene Erholung und die beständigen Bitten seiner Frau zum Anlaß nahm, sich endgültig zurückzuziehen. Er verspürte einen Schmerz ähnlich dem, den ihm der Peitschenhieb des Taus verursacht hatte, als er sein Schiff einem Unbekannten verkaufen mußte. Er kehrte dem Meer den Rücken und schwor mit lauter und fester Stimme, daß er es nie wieder ansehen würde. Seitdem hielt er sich meistens im unteren Stockwerk seines Hauses auf und mied die Fenster, die auf den Hafen hinausgingen.

Die Frau von Kapitän Sea, eine großartige Frau, wenn auch zu sehr den weltlichen Dingen und Äußerlichkeiten zugeneigt, zwang ihn, die Augenklappe abzunehmen und sich ein Glasauge einzusetzen, welches sie selbst auf einer eigens dafür unternommenen Reise in einem Laden in der Hauptstadt aussuchte. Es glich dem gesunden Auge ihres Mannes überhaupt nicht, denn seine Augen waren dunkel gewesen; und dieses künstliche war dagegen tiefgrün. Doch ihr hatte es sofort gefallen, als sie es sah, und sie hatte aufgeregt zum Verkäufer hin gemurmelt: es ist so schön wie ein Edelstein. Und sie hatte sich ihrem Mann mit einem zufriedenen Lächeln zugewandt und gesagt: Seymour, es wird sein, als würdest du einen in Wimpern gefaßten Smaragd tragen. Und sie war sehr zufrieden mit ihrem Kauf und verbarg ihn eilig und eifersüchtig in ihrer Handtasche.

Kapitän Sea fiel es schwer, sich an diesen kalten und toten Gegenstand zu gewöhnen, der schwer in seiner Augenhöhe lag, unbeweglich und so fremd wie ein Kuckucksei, und er fühlte sich wie ein behinderter und lächerlicher Zyklop. Heimlich versteckte er die Augenklappe in einer Schrankschublade, in welcher er Erinnerungen an seine Reisen aufbewahrte: verrostete Angelhaken, Schwimmer aus Kork, Teile von Schiffsgeräten und sonderbar geformte Muscheln.

Doch nicht nur, weil er sich zur Ruhe gesetzt hatte, lebte der Kapitän so zurückgezogen: dieses undurchdringliche und feindliche smaragdgrüne Auge erregte neben dem anderen, dem richtigen, lebendigen und dunklen, die Aufmerksamkeit der Menschen, besonders der Frauen, und vor allem der Kinder, die sich anstandslos über ihn lustig machten und ihn hinter seinem Rücken Kapitän Smaragd nannten. Und es ging das Gerücht um, dieser Edelstein stamme aus einem Piratenschatz, den er auf einer einsamen Insel gefunden hatte.

Es war ein reines, wunderschönes Auge, doch es besaß weder Erfahrung noch Erinnerung.

Eines Nachts, als der Kapitän sich schlafen legte und das falsche Auge in ein Glas mit Wasser tat, befiel ihn eine leichte Übelkeit. Er sagte seiner Frau nichts davon, um sie nicht zu beunruhigen. Als diese Übelkeit vorüber war, bildete sich in seinem Geiste ein verschwommenes Bild, das allmählich klarer wurde: ein weiter Strand mit feinem Sand und ein ruhiges tiefblaues Meer, in dem sich der rötliche Mond spiegelte. Erst nach mehreren Stunden schlief er ein, so gefangen war er von der Schönheit dieses Strandes. Als er am nächsten Tag aufstand und entgegen seinem Versprechen an das Fenster seines Schlafzimmers trat, sah er die Mole voller vertäuter Schiffe, die Matrosen, die über die Decks hetzten, und hörte all den gewohnten Lärm des Hafens. Über dieses flache Bild, das ihm sein einziges Auge bot, legten sich der feinsandige Strand und das dunkelblaue Meer, beide sonnenüberflutet. Er ging zurück zum Bett, wo seine Frau noch friedlich schlief. Die einst festen Brüste hoben und senkten sich im Rhythmus ihres Atems, und über ihnen kamen und gingen die blauen Wellen, glitten in einem Durcheinander von Schaum und Spitzen auf das Mieder zu, während ein Schwärm Albatrosse um ihren Nacken herumflog. Durch diese Erscheinung beunruhigt, nahm der Kapitän das Glasauge aus dem Wasser und setzte es sich ein.

Sofort verschwand der unwirkliche Strand, lag nicht mehr über dem Körper seiner Frau und gab die weiße, blau geäderte Brust frei, die wieder aussah wie immer. Er setzte sich hin und dachte nach. Er erzählte niemandem von seiner Entdeckung, nicht einmal seiner Frau, doch wann immer er konnte und niemand bei ihm war, nahm der Kapitän das Glasauge heraus, schloß das andere, gesunde und ließ sich von den sanften Wellen forttreiben, bis er eingeschlafen war. Eines Morgens nutzte er den längeren Schlaf seiner Frau, und während das Glasauge auf dem Boden seines Glases ruhte, sah er eine Gruppe Spaziergänger teilnahmslos über jenen geheimen Strand wandern und einen Jungen im Matrosenanzug, der Muscheln sammelte und sie in einen kleinen Korb legte. Er sah, wie eine sehr schöne Frau erschien, die sich mit einem Spitzenhut vor der Sonne schützte, eine Hand des Jungen faßte und ihn mit sich nahm. Eines Nachts, als er nicht schlafen konnte, sah er eine Menge Krebse, die sich schnell seitwärts bewegten und mit ihren bedrohlichen Scheren schnappten, und er hatte Angst um sein Auge. Doch als er näherkam, wandten sie sich zur Seite und verschwanden. Ein anderes Mal näherte sich ein Schwärm Albatrosse gefährlich, sie pickten im Boden herum – er konnte ihre gelben, hungrigen Schnäbel erkennen – dann stiegen sie auf und verloren sich in der Höhe.

Im Laufe der Zeit wurde der Charakter Kapitän Seas mit jedem Tag befremdlicher. Das Lärmen des Hafens und das herzzerreißende Geschrei der Möwen brachten ihn durcheinander, denn obgleich er seit jenem weit zurückliegenden Morgen die Küste nicht mehr angeschaut hatte, trugen ihm die Brise oder der Wind jene so vertrauten Geräusche zu, denen es trotz der verschlossenen Fenster gelang, in sein Haus einzudringen. Er floh, immer heimlich, zu seinem geheimen Meer, um dort Trost zu finden.

Es wollte das Glück oder das Unglück, daß seine Frau erkrankte und die Ärzte ihr die gesunde Gebirgsluft verschrieben. Das war die Gelegenheit, endgültig von dort zu fliehen. Sie zogen in ein weit von der Küste gelegenes Tal, in ein kleines ruhiges Dorf mit wenigen Einwohnern; bescheidenen, gewöhnlichen Bauern und rundlichen, zur Geschwätzigkeit neigenden Frauen. Dort besserte sich seine Stimmung, doch seine Frau war weit davon entfernt, sich zu erholen, und eines Morgens spuckte sie Blut.

Wegen seines Smaragdauges wurde er schnell bekannt, doch trotz der Neugier stellte ihm niemand unangenehme Fragen. Nur setzte sich auf dem Markt jene einfältige Legende fest, der Edelstein stamme aus einem Piratenschatz. Schon bald mochte und achtete man diesen alten Kapitän, der die Tage mit seiner blassen und mageren Frau verbrachte, stundenlang im Schaukelstuhl auf der Veranda saß und mit seinem einzigen Auge ins Unendliche blickte. Er folgte dem Wunsch seiner Frau und nahm das Glasauge nie in ihrer Gegenwart heraus, außer wenn er sich schlafen legte. Die toten Tage verstrichen und er trauerte seinem vergangenen Leben immer mit gewisser Verbitterung und Sorge nach, dem Geruch von Salz und Jod, dem unermüdlichen Rauschen der Wellen, seinem Fischerboot. Und er dachte immer wieder an jenen verhängnisvollen Tag, als ihm die aufgebrachte Wut des Meeres ein Auge entriß. Wenn die Nacht hereinbrach, blickte er auf zum Mond, der wie ein makelloses konkaves Gegenstück zu seiner Glasprothese war, und vergoß eine Träne, die er sofort wieder wegwischte. Ein friedlicher und kleiner Mond, der nicht mit den Wellen zu sprechen vermochte, hatte von seinem Gesicht Besitz ergriffen.

Eines Nachts, während seine Frau schlief und er sich im Schaukelstuhl dem Zauber seines inneren Meeres hingab, sah er mit Schrecken, wie das Wasser sich aufzuwühlen begann und bleierne Sturmwolken am Himmel aufzogen, dann brach ein Sturm los, der jenem gar nicht soweit zurückliegenden glich. Er hatte das unangenehme Gefühl, erneut einen Peitschenschlag ins Gesicht zu bekommen, und er sah Schiffbrüche und leblose Körper, die inmitten Von Holztrümmern von den Wellen fortgerissen wurden. Er sah ganz nahe das panisch verzerrte Gesicht einer toten Frau, das ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Er schwitzte. Voller Schrecken über diese Erscheinung sprang er auf und rannte ins Schlafzimmer, nicht ohne sich zuvor das falsche Auge einzusetzen. Ein kurzer Blick genügte, um ihm zu bestätigen, was ihm mitgeteilt worden war: seine Frau atmete nicht mehr. Ihre Brust schimmerte in endgültiger Ruhe weiß im Licht des Vollmonds. Er tröstete sich damit, daß sie nicht gelitten hatte, daß sie inmitten von Träumen gestorben war.

Ohnmacht erfaßte Kapitän Sea. Er bedeckte das Gesicht seiner Frau mit dem Überschlag der Bettdecke und blieb mehrere Stunden neben ihr sitzen und dachte nach über die Gerechtigkeit Gottes. Als der Tag anbrach, als die Kerzen niedergebrannt waren und die ersten Sonnenstrahlen gehüllt in ein Leichentuch aus goldenen Staub ins Zimmer drangen, erhob ersieh, ging zum Kamin, in dem noch Glut war, riß sich das Smaragdauge heraus und schleuderte es in die Asche. Die Kugel zerbarst mit einem Knall in tausend Stücke, die sich über den Boden verstreuten. Von seiner Ohnmacht befreit, fegte er die Scherben zusammen, die ihn mit einem sarkastischen Grinsen anblinkten, und schüttete sie in den Mülleimer. Er war nun ruhig, setzte sich wieder neben das Bett und weinte bitterlich über das dunkelblaue Meer und den feinsandigen Strand.

Beim Begräbnis trug er offen das faltige und eingefallene Augenlid zur Schau, wie eine Trophäe, die er dem Leben abgewonnen hatte, und die ganze Zeit sah er über dem Grab und dem Blick auf das Tal ein graues Meer. Als er zu Hause die Beileidsbekundungen der Nachbarn entgegengenommen hatte, nahm er die alte Augenklappe aus der Schublade und setzte sie sich für immer auf das gesunde Auge. Sofort wurde das Meer wieder blau, getaucht in ein strahlendes Sonnenlicht, und die sanft wogenden Wellen waren mit weißem Schaum bedeckt und spülten Muscheln an den Strand. Die Frau mit dem Spitzenhut ging wieder barfuß spazieren und der Junge im Matrosenanzug baute riesige Sandburgen.

****

Die Leute im Dorf reden. Sie behaupten, Kapitän Sea habe beim Tod seiner Frau den Verstand verloren. Sie sagen das, weil er die schwarze Augenklappe auf dem falschen Auge trägt. Vor allem aber, weil er immer wie entrückt auf der Veranda sitzt und seine schwarze, leere Augenhöhle mit unsichtbarem Blick einen nur für ihn sichtbaren, hinter den Bergen verborgenen Horizont betrachtet. Und weil er ihnen, wenn sie ihn im Vorübergehen fragen: Was machen Sie da, Kapitän Sea? aus seinem Schaukelstuhl, der ihn an das Rollen und Stampfen seines alten Schiffs erinnert, voller Zufriedenheit zuruft: Ich sehe das Meer…, den Strand…, die Wellen…

Und dann verstummt er, hört aber nicht auf zu lächeln.

Übersetzung: Marcel Vejmelka

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