„In der Vergangenheit hat die Linke immer daran geglaubt, daß es ein Ziel, ein Programm und eine organisierte Kraß, die dieses Programm umzusetzen vermag, sowie eine Theorie gibt, die das System erklärt. Das Programm mag improvisiert gewesen sein, das Ziel irreal und die Kraft in keiner Weise organisiert, aber trotzdem dachte die Linke derart über Wandel und rechtfertigte so ihre Handlungen. All das wird jetzt in Frage gestellt. „
Dieses Zitat von Jose Aricó beschreibt gut das Dilemma, mit dem die Linke in Lateinamerika seit dem Zusammenbruch des internationalen Kommunismus in den späten 80er Jahren konfrontiert ist. Die lateinamerikanische Linke hat immer versucht, sich über einen weiteren als nur den nationalen Kontext zu legitimieren. Das war zum Teil das Erbe einer Linken, die fest im Marxismus, als ideologisches Modell, und im Leninismus, als historischer Praxis, verwurzelt war. Es ist zum Beispiel schwierig, die wichtige politische Rolle der kommunistischen Parteien in Lateinamerika, trotz ihrer eingeschränkten Popularität und ihres noch eingeschränkteren Erfolgs als Förderer der Revolution zu erklären, wenn man nicht diese internationale und ideologische Dimension mit in Betracht zieht. Kommunistische Parteien in Lateinamerika wurden als direkte Repräsentanten einer internationalen Bewegung der Weltrevolution angesehen, was ihnen Wichtigkeit weit über ihre Wahlerfolge oder ihre politische Macht hinaus verlieh. Es stimmt natürlich, daß die Wirkung der kubanischen Revolution auf die lateinamerikanische Linke, besonders auf jene orthodoxen kommunistischen Parteien, die ein Wahrheitsmonopol beanspruchten, vernichtend war. Aber was wirklich geschah, war die Verschiebung des Zentrums der lateinamerikanischen Linken von Moskau nach Havanna. Außerdem wurde der Marxismus nun mit einer Art von revolutionärem Voluntarismus statt mit strengem Leninismus kombiniert. Die lateinamerikanische Linke hatte also immer noch ihren internationalen Bezugspunkt und ihre revolutionäre Orthodoxie.
Der Zusammenbruch des internationalen Kommunismus hat die lateinamerikanische Linke tiefgreifend verändert. Die Bedeutung dessen, was nach den Revolutionen von 1989 in Osteuropa geschah, war für die lateinamerikanische Linke genauso groß wie die der bolschewistische Revolution von 1917. Die Linke konnte nicht mehr behaupten, Teil einer internationalen Bewegung zu sein. Sie konnte auch nicht mehr eine bestimmte Idee als Trägerin der unveränderlichen Gesetze der Weltgeschichte ansehen. Mit dem Zusammenbruch des internationalen Kommunismus verlor die Linke die mobilisierende Vision einer sozialistischen Gesellschaft, die durch Revolution erreicht werden sollte. Nach Meinung von Jörge Castaneda wurde die Idee der Revolution nicht einfach nur unvorstellbar, sondern sogar nicht mehr erstrebenswert.
Die Linke in Lateinamerika sah sich nun einem neuen politischen Kontext gegenüber, der eher national als international war. Das könnte als Vorteil betrachtet werden. Die Linke mußte nicht mehr die undemokratische Praxis des Ostblocks rechtfertigen oder entschuldigen. Sie mußte nicht mehr Regime verteidigen, die liberale demokratische Einstellungen beleidigten. Die Linke traf nicht mehr die volle Feindschaft der USA. Sie konnte damit beginnen, sich von der Anschuldigung zu befreien, daß eine Linke an der Macht automatisch im Autoritarismus endet.
Aber keine Bewegung verändert sich als Antwort auf externe Ereignisse vollständig von einem Tag zum anderen. Die lateinamerikanische Linke wurde nicht plötzlich sozialdemokratisch. Die alte Praxis wurde fortgesetzt, vor allem die des elitären Leninismus, der immer noch eine Parteiherrschaft ausübte, die alles andere als demokratisch und partizipatorisch war. Die äußerste Linke sah im Zusammenbruch des Kommunismus nicht das Resultat eines Exzesses marxistischer Praxis, sondern, ganz im Gegenteil, das Ergebnis ihres Fehlens. Es gibt immer noch Anhänger revolutionärer Gewalt und der staatszentrierten Doktrin der Planwirtschaft.
Diese Gruppen könnten als Überbleibsel der Vergangenheit, die einen rückwärtsgewandten Kampf gegen die sozialdemokratischen Modernisierer führen, angesehen werden. Diese Erklärung wäre allerdings plausibler, wenn die Modernisierer ein klares ideologisches Programm und breite Unterstützung hätten. Aber das vorherrschende ideologische Klima in Lateinamerika ist nicht vorteilhaft für die Linke, in welcher Form auch immer. Erstens steht die vorherrschende wirtschaftliche Doktrin des freien Marktes der Idee der Staatsplanung, die das Denken der Linken seit ihren Anfängen geprägt hat, diametral entgegen. Da die Idee der Planwirtschaft diskreditiert ist, muß die Linke ihre langfristigen Ziele irgendwie mit dem marktwirtschaftlichen System in Einklang bringen. Aber in der Praxis hat die Linke den Opfern der wirtschaftlichen Anpassung, die in vielen Fällen die Volkswirtschaft trotz hoher sozialer Kosten stabilisierte, wenig glaubwürdige Alternativen anzubieten. Zweitens steht die Linke immer noch vor dem wahltaktischem Dilemma, das sie während ihrer gesamten Geschichte gequält hat: wie kann sie sich außerhalb ihres Wählerkerns von organisierten Arbeitern und linken Intellektuellen bewegen, um die sozialen Sektoren anzusprechen, die ihr gegenüber bis jetzt gleichgültig waren, aber für einen Wahlerfolg notwendig sind? Drittens, wenn man von den geringen Leistungen der Linken an der Macht ausgeht und der Tatsache, daß, aus welchen Gründen auch immer, der wirtschaftliche Erfolg von Allendes Chile, Castros Kuba und dem Nikaragua der Sandinisten alles andere als beeindruckend war, wie kann die Linke dann Glaubwürdigkeit als kompetente Regierungspartei erlangen?
Die Verwirrung der Linken angesichts dieser Krise wird gut durch ein Statement von José Pasos, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der Internationalen Abteilung der FSLN, nach der Niederlage der Sandinisten 1990, ausgedrückt:
„Wir müssen eine moderne Partei werden. Es gibt einige Prinzipien die sich nicht ändern: politischer Pluralismus, Blockfreiheit, Gemischtwirtschaft. Unser Antiimperialismus bleibt derselbe, aber es ist nicht der Antiimperialismus von Marx und Lenin. Für uns bedeutet er die Nichteinmischung in unsere inneren Angelegenheiten, und es sind die Vereinigten Staaten, die sich einmischen. Wir glauben weiterhin an den Sozialismus als Ziel. Aber ganz sicher nicht an den Sozialismus, wie er im Osten entstanden ist, auch nicht an den kubanischen Sozialismus oder die Perestroika. Wahrscheinlich wäre der schwedische Sozialismus für uns am akzeptabelsten, aber der ist sehr teuer. Darüber, welche Art von Sozialismus sich ein armes Land leisten kann, müssen wir erst diskutieren. “ Aus einem Interview in The Guardian, (London), 30. April 1990
Dieses Zitat beschreibt gut das Dilemma der Linken in Lateinamerika in den 90er Jahren. Die früheren Modelle des Sozialismus haben ihren Glanz verloren, und es herrscht kaum Konsens über ein neues Modell. Es besteht das Problem, die Ziele der Linken in der neuen Weltordnung zu beschreiben.
Außerdem ist es problematisch, die Mittel zu beschreiben, mit denen die Linke aktiv die Macht erlangen kann. Wie kann die Linke die Armen effektiv mobilisieren? Welche Bündnisstrategien soll sie verfolgen, um an die Macht zu kommen, ohne dabei das sozialistische Ziel zu gefährden? Wie kann die Linke mit den sozialen Bewegungen Lateinamerikas in Verbindung treten, ohne den Verdacht politischer Manipulation aufkommen zu lassen?
Des weiteren stellt sich die Frage nach der angemessenen Form der Organisation, um Unterstützung für die Linke zu mobilisieren. Es gibt ernste Zweifel, ob das weiterhin mit derselben Parteiorganisation und -Struktur wie in der Vergangenheit erreicht werden kann. Besonders muß auf Veränderungen in der Sozialstruktur reagiert werden, die die traditionelle Basis der Linken geschwächt haben, zum Beispiel die dramatische Einschränkung der Macht und des Einflusses der Gewerkschaftsbewegungen in so unterschiedlichen Ländern wie Bolivien und Argentinien.
Schatten der Vergangenheit
Die derzeitige Krise muß im Kontext der historischen Entwicklung der Linken in Lateinamerika gesehen werden. Was waren die Schwächen der Linken, und welche dieser Schwächen überleben bis in die Gegenwart? Was waren die Stärken der Linken, und welche dieser Stärken überleben bis in die Gegenwart?
Die Linke wurde in der Vergangenheit durch tiefe und bittere Zerwürfnisse gekennzeichnet und war nur höchst selten vereint. In den meisten Ländern sollte man nicht von der Linken, sondern von den Linken sprechen. Uneinigkeit wurde insbesondere immer dann öffentlich, wenn bittere und gewalttätige Differenzen darüber ausgetragen wurden, wer legitimerweise links steht. Heute gibt es eine weniger fundamentale Uneinigkeit über Ideologien: Kämpfe zwischen orthodoxen Kommunisten, Trotzkisten und Maoisten werden immer unbedeutender. Heute weiß man um die Notwendigkeit von Einigkeit und Konsens auf Seiten der Linken, für breitere Koalitionen und für die Zusammenarbeit mit anderen Parteien. In einigen Ländern, besonders Chile, wurde diese Taktik erfolgreich von einem Teil der Linken, nämlich den sozialistischen Parteien, verfolgt. Aber sie wurde, mit katastrophalen Effekten auf die eigene Anhängerschaft, von den kommunistischen Parteien abgelehnt. Trotzdem muß in den meisten Ländern, auch wenn die Einheit der Linken nicht mehr so weit entfernt ist wie in den Tagen der angeheizten ideologischen Debatten, noch hart daran gearbeitet werden.
Außerdem war die Uneinigkeit der Linken in Lateinamerika nie allein auf doktrinäre Themen zurückzuführen. Die Linke in den meisten Ländern sollte am besten als Kombination einer Vielzahl von Parteien, sozialen Bewegungen und Ideologien angesehen werden. Und diese drei Elemente müssen sich nicht unbedingt überschneiden oder miteinander übereinstimmen. Die Ideologie der Linken, der Marxismus, war immer viel einflußreicher als die organisierten Parteien der Linken, und oft waren die Anhänger der Doktrin unter den stärksten Kritikern der Parteien. Der wirkliche Einfluß des Marxismus in Lateinamerika wurde nicht so sehr durch die Parteien der Linken deutlich, sondern auf der ideologischen Ebene und als ein Stimulus zur politischen Mobilisierung und Aktion, nicht zuletzt in der Gewerkschaftsbewegung und unter Studenten und Intellektuellen, seit 1960 auch unter radikalen Katholiken. Das Problem, dem die derzeitige Linke gegenübersteht, ist, wie sie diese ideologische Bindung wiedergewinnen kann und wie sie so dem stärkeren ideologischen Anspruch der Rechten und ihrer Doktrin des freien Marktes gegenübertreten kann. Eine der Stärken der Linken war gerade ihr fester Glaube an die Gültigkeit ihrer Ideen. Um diese Stärke wiederzuerlangen, muß die Linke Ideen entwickeln, die der Ära des Postmarxismus angemessen sind, eine Herausforderung für die Linke weltweit und nicht nur in Lateinamerika. Die Linke kann nicht mehr so tun, als sei die Logik der geschichtlichen Entwicklung auf ihrer Seite.
Um von der Neudefinierung von Ideologien, der Erstellung von politischen Strategien und dem Eingehen von taktischen Allianzen sprechen zu können, benötigt man eine Linke, die um Parteien und verbündete Organisationen wie Gewerkschaften strukturiert ist. Doch gerade diese Art der politischen Organisation findet man nur in wenigen Ländern, besonders in Chile und Uruguay und (in einem geringeren Maß seit 1989) in Venezuela. Aber in anderen Ländern ist die Linke relativ diffus, wie etwa in Mexiko, wo die Linke eine hohe Anzahl von Parteien, politischen Gruppen, Gewerkschaften, organisierter Volksbewegungen und Massenpublikationen umfaßt, die sich in ihrer Art und Zusammensetzung ständig verändern. Eine derartige Streuung kann eine Quelle der Stärke sein, wenn es eine einende Partei oder Bewegung gibt (wie die PT in Brasilien oder, mit Einschränkungen, die PRD [1] in Mexiko). Aber wenn dieser einende Faktor nicht existiert, kann die Streuung zu Schwäche führen (wie in Peru oder Bolivien).
In der Vergangenheit hat die Linke ihre Basis in der Gewerkschaftsbewegung gesucht, welche ihrerseits die städtischen und sogar die ländlichen Armen repräsentieren wollte. Aber zur Zeit beobachten wir einen Machtverlust der Gewerkschaften, und jene Gewerkschaften, die stark bleiben, befinden sich im öffentlichen Sektor und können nicht immer mit breiter Unterstützung für ihre Forderungen rechnen. Auch die Gemeindeorganisationen sind gewachsen und fürchten oft die Manipulation durch politische Parteien, auch durch die Linken. Diese Basisbewegungen geben Forderungen nach Bürgerrechten Ausdruck und beziehen eine gewisse Inspiration aus dem radikalen Katholizismus, und sie binden Gruppen ein, die in der Vergangenheit nicht politisch aktiv waren, vor allem Frauen und Arbeitslose. Ihre Forderungen sind am Anfang selten politisch, aber wenn die politische Umgebung auf ihre Forderungen nicht oder nur feindlich reagiert, verbinden sie eine allgemeine Forderung nach Demokratie mit ihren speziellen Zielen. Volksbewegungen sind durch Protest und Opposition gekennzeichnet. Sie wuchsen stark an, als Militärdiktaturen die politische Partizipation einschränkten. Sie entwickelten ein mächtiges Oppositionsbewußtsein mit einem stark korporatistischen Element. Sie glauben an den Staat und nicht an den Markt.
Die sogenannten neuen sozialen Bewegungen stehen Parteien nicht immer feindlich gegenüber. In Brasilien spielt die Linke, besonders die Arbeiterpartei (PT), in den Nachbarschaftsorganisationen eine wichtige Rolle. Die PT half diesen Organisationen, über ihre kurzfristigen materiellen Perspektiven hinauszuwachsen, förderte Koordination in einem weiteren Rahmen und brachte allgemeine politische Themen auf die Tagesordnung. Aber in anderen Ländern bringen diese sozialen Bewegungen eine explizite Ablehnung oder Enttäuschung über die politischen Parteien zum Ausdruck. In Peru, wo die Linke und die APRA [2] traditionell stark waren, wurden 1990 der politisch unbekannte Fujimori und seine noch nie zu Wahlen angetretene Partei Cambio 90 gewählt. Fujimori erhielt 40 Prozent der Stimmen, die er in Lima bekam, in den zwölf ärmsten Distrikten, viel mehr als die Linkskoalition Izquierda Unida. Die wahlpolitische Herausforderung der Linken durch diese Bewegungen ist außerordentlich, da diese Populisten oft bedeutende Unterstützung von den städtischen und ländlichen Armen gewinnen können. In Gesellschaften, wo Klassenstrukturen weniger starr sind und auf jeden Fall weniger durch Klassenorganisationen institutionell ausgedrückt werden, steht die Linke einer großen Herausforderung gegenüber. Kann sie den städtischen Armen etwas anbieten, das attraktiver ist als die Versprechungen eines populistischen Politikers? Eine teilweise Antwort ist effektive Kommunalpolitik, und auf diesem Gebiet versucht die Linke auch, ein eigenes Profil im Gegensatz zum Klientelismus und der Korruption, welche die Kommunalpolitik in Lateinamerika normalerweise kennzeichnen, aufzubauen.
Der politische Raum, der in Europa traditionell von der Sozialdemokratie besetzt war, wurde in Lateinamerika von nationalpopulistischen Parteien eingenommen. Diese Parteien wurden nie von revolutionärer Orthodoxie zurückgehalten und haben in der Vergangenheit stark die Ideen und die Praxis der Linken ausgenutzt. Ein schwerwiegendes und ständiges Problem der Linken war und ist die Art ihres Verhältnisses zu solchen Parteien, die größere ideologische Flexibilität, größere politische Attraktivität und größere gesellschaftliche Unterstützung besitzen. Die kolumbianische Linke hat es nie geschafft, außerhalb der Allianz mit der Liberalen Partei bei Wahlen erfolgreich zu sein. Das ist auch teilweise eine Konsequenz des kolumbianischen Wahlsystems, das kleine unabhängige Parteien bestraft. Einer der Gründe, warum Sektoren der kolumbianischen Linken die Gewalt als Taktik befürworten, ist dieses überwältigende politische Gewicht der zwei traditionellen Parteien.
Der Populismus in Lateinamerika hat seit kurzem seine Feindschaft mit politischen Parteien an sich verstärkt zum Ausdruck gebracht. Das hat sich nicht nur auf der nationalen Ebene, durch Führer wie Fujimori in Peru oder Caldera in Venezuela manifestiert, sondern auch auf der lokalen Ebene wurden einige Bürgermeister von wichtigen Städten als Antiparteien-Kandidaten gewählt. Das erzeugt schwerwiegende Probleme für die Linke. Sie muß nicht nur gegen die Attraktivität von wirklich populären Führern ankämpfen, sondern sich auch mit einer weitverbreiteten Gleichgültigkeit oder Ablehnung von politischen Parteien an sich auseinandersetzen.
Eine der dauerhaftesten Spaltungen der Linken in Lateinamerika betraf die Rechtfertigung der Gebrauchs von Gewalt, um politische Ziele zu erreichen, eine Taktik, die durch die kubanische Revolution enormen Aufwind erhalten hat. Die Wahl Allendes in Chile war ein dramatischer Moment für die Linke und schien den gewaltlosen Weg zum Sozialismus zu legitimieren. Das war das erste Experiment, eine sozialistische Gesellschaft mit friedlichen, rechtsstaatlichen Mitteln aufzubauen. Für die Linke war das eine Frage von universeller Bedeutung: Konnte es eine friedliche Transition zum Sozialismus in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft geben? Das war nicht die Einsetzung eines rigiden revolutionären Dogmas von oben, sondern eine pluralistische und demokratische Regierung, die versuchte, die Unterstützung des Volkes hauptsächlich durch Argumente und Überzeugung zu gewinnen.
Der Putsch von 1973 warf allerdings andere Fragen auf: Was konnte die lateinamerikanische Linke aus den Fehlern der chilenischen Linken lernen? Wie konnte die Linke trotz der Opposition der nationalen und internationalen Rechten hoffen, irgendwo an die Macht zu kommen? Das Versagen der Unidad Populär Regierung führte zur Polarisierung der Linken in Lateinamerika. Die radikaleren Gruppen, wie die Sandinisten und andere pro-kubanische Gruppen entschlossen sich, den bewaffneten Kampf zu verstärken. Dir Argument war, daß der Putsch gezeigt habe, daß ein friedlicher Weg zum Sozialismus nichts als eine Illusion wäre. Die äußerste Linke argumentierte, daß angesichts der Opposition durch die Rechte, das Militär und die Vereinigten Staaten die bewaffnete Revolution die einzige Hoffnung wäre, an die Macht zu gelangen.
Wenn eine Antwort der Linken auf den Putsch die Befürwortung von Gewalt war, so war die andere Antwort diametral entgegengesetzt – die Linke sollte nun ihre Politik und Aktionen mäßigen, damit die Bedingungen, die zu Putschen führen, erst gar nicht entstehen könnten. Die Revisionisten argumentierten, daß die Linke die Macht nicht länger als Kraft, als etwas, das man physisch besitzen kann, ansehen sollte. Die Linke sollte aufhören, sich auf Besitzverhältnisse zu konzentrieren: ein einfacher Übergang des Eigentums an den Staat würde nichts ändern und könnte sogar mehr Probleme schaffen, als er regeln würde. Das Militär könnte nicht mit Gewalt besiegt werden. Eine radikale Regierung müßte sich eine derart breite Legitimationsbasis schaffen, daß die Bedingungen, die militärisches Eingreifen begünstigen – gesellschaftliche Unruhe, politischer Konflikt außerhalb des Parlaments – nicht entstünden. Politische Allianzen wurden als notwendig und Demokratie als ein Wert an sich angesehen.
Die moderne Debatte über die Linke in Lateinamerika begann mit dem chilenischen Putsch und ist noch nicht beendet. Einige Parteien der Linken, nicht zuletzt die chilenische sozialistische Partei, können im Lager der Revisionisten angesiedelt werden. Aber andere Bewegungen, besonders die Guerillagruppen in Kolumbien und Peru, haben den bewaffneten Kampf noch nicht aufgegeben. Und wieder andere, wie die Sandinisten in Nikaragua oder die ehemaligen Guerillagruppen in El Salvador, machen eine schwierige Transition von der bewaffneten Bewegung zur politischen Partei durch.
Diese Debatte wurde während der 70er und 80er Jahre hauptsächlich im Untergrund oder im Exil geführt, da die Linke passiver Zeuge einer Entwicklung wurde, die sie kaum beeinflussen konnte. Autoritäre Militärregierungen attackierten die Linke auf brutale Weise. Parteien und Gewerkschaften wurden unterdrückt und viele ihrer Führer getötet oder ins Exil verbannt. Die intellektuelle Debatte war gelähmt. Die Zeit des Autoritarismus sah Veränderungen in der Gesellschaft und der Wirtschaft, die nicht vorteilhaft für die Linke waren – das Wachstum des informellen im Gegensatz zum formellen Sektor, die Herausbildung der freien Marktwirtschaft als dominantes Modell, die Reduzierung des Staatssektors. Diese Trends setzen sich auch in der Phase der Transition zur Demokratie durch. Und dieser Zustand der organisatorischen Schwäche und der ideologischen Unsicherheit war noch nicht genug, zum Unglück der Linken kam auch noch der Zusammenbruch des internationalen Kommunismus hinzu.
Die lateinamerikanische Linke in den 90er Jahren
Es sollte aus der bisherigen Analyse klar werden, daß die Linke in Lateinamerika, wie auch in anderen Teilen der Welt, vielfältigen Herausforderungen gegenüberstand und das aus einer Position der organisatorischen Schwäche, ideologischen Unsicherheit und geringer Unterstützung. Trotzdem hatte die Linke in einigen Ländern Stärken, auf die sie zählen konnte. Die Linke hatte oft mit großem Mut Widerstand gegen die autoritären Regierungen der 70er und 80er Jahre geleistet und konnte daher mehr demokratische Glaubwürdigkeit beanspruchen als die Bewegungen der Rechten. Die Linke einiger Länder, besonders Brasiliens, organisierte die neuen Bewegungen in den Gewerkschaften und Wohnvierteln und repräsentierte die Armen. Die Linke in anderen Ländern besaß eine Tradition der Organisierung und hatte eine sozialistische Subkultur geschaffen, die dem Ruck nach rechts widerstand. Die Schlüssel für ein zukünftiges Wachstum der Linken in Lateinamerika liegen in dem zweifachen Versagen der wiedererichteten Demokratien: der Unfähigkeit, angemessene soziale Sicherheitssysteme zu schaffen, um die sozialen Kosten der wirtschaftlichen Anpassungsprogramme abzufedern, und dem Versagen, der Korruption der herrschenden Elite Einhalt zu gebieten. Die Linke verdankt ihre Entstehung vor allem dem Protest – und, wenn man die Lebensbedingungen der Armen in Lateinamerika in Betracht zieht, gibt es noch viel, wogegen man protestieren kann.
Inwieweit können wir allgemeine Trends feststellen? Können wir sagen, daß die Linke in Lateinamerika ohne Zweifel die Demokratie akzeptiert? Ist die Linke eine ernstzunehmende politische Kraft in Lateinamerika? Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach, und in mancher Hinsicht sind die nationalen Unterschiede jetzt, in der postkommunistischen Ära, größer als in der Vergangenheit. Selbst wenn es keine vollkommen gleichartigen Trends gibt, ist es doch nötig, einige Punkte herauszuarbeiten, die über die nationale Ebene hinausgehen.
In einer Vielzahl von Ländern existiert eine starke sozialdemokratische Linke. In diesen Ländern – Chile, Venezuela, Uruguay, Brasilien und Mexiko sind die besten Beispiele – gibt es Parteien, die dem demokratischen System stark verbunden sind und bedeutende Unterstützung haben. Sie alle haben einen populären Führer, wenn auch keine Strategien zur Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die sich entscheidend von den marktwirtschaftlichen abheben.
In anderen Ländern, besonders denen Zentralamerikas und Kolumbien, gibt es eine Linke, die aus der Guerillaerfahrung entstanden ist und dazu gezwungen wurde, die Regeln des parteipolitischen Wettbewerbs zu akzeptieren.
Es existiert noch immer eine aktive Tradition des linken Aufstands. Diese ist am stärksten in Peru mit dem maoistisch inspirierten Leuchtenden Pfad präsent. Es stimmt, daß diese Bewegung durch die Verhaftung ihres Führers Abimáel Guzmán eine bedeutende Schwächung erlitten hat. Aber genauso charakteristisch ist es für solche Bewegungen, daß sie plötzlich und ohne Vorwarnung auftauchen können, wie die zapatistische Bewegung in Chiapas in Mexiko.
Andere Länder werden durch den Niedergang der Linken und ihrer politischen Bedeutung charakterisiert. Der Peronismus in Argentinien hat seiner linken Vergangenheit den Rücken gekehrt und auf der Linken ein Vakuum hinterlassen. In Bolivien ist eine einstmals starke
Bewegung, die auf die Gewerkschaften, vor allem auf die Bergarbeitergewerkschaft, baute, zusammengebrochen und die Gewerkschaften wurden dezimiert.
Der politische Einfluß der Linken in jedem Land wird am stärksten sein, wenn vier Faktoren zusammentreffen und einander verstärken: eine vereinte Partei, breite gesellschaftliche Unterstützung, Ideen, die als wichtig und glaubwürdig angesehen werden und populäre Führer. Diese Faktoren treffen selten zusammen, aber einige lateinamerikanische Länder vereinen sie, besonders jene, in denen politische Parteien einigermaßen gut strukturiert sind und wo es eine sozialdemokratische Tradition von einigem Gewicht gibt. In diesen Ländern, so kann argumentiert werden, ist die Teilnahme der Linken an den Wahlen nicht nur eine Frage der Nützlichkeit, sondern des Prinzips. Wenn der gewaltsame Weg durch verschiedene Gründe verstellt ist, ist die Maximierung des Wahlerfolgs die einzige Alternative für die Linke. In diesen Ländern ist die Einbindung der Linken in demokratische und rechtsstaatliche Politik wahrscheinlich einfacher als die Einbindung der Rechten.
Übersetzung aus dem Englischen: Daniela Vogl.
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* Alan Angell ist der Lecturer an der Oxforder Universität und Direktor des Latin American Centre des St Antony ’s College. Er ist vornehmlich durch seine Veröffentlichungen zu Chile (Politics and Labour in Chile. Oxford 1972) bekannt geworden und hat in letzter Zeit vornehmlich zu Sozial-Politiken in Chile, Venezuela und Peru gearbeitet. Er ist einer der Autoren der Cambridge History of Latin America, für die er auch das Kapitel zu den lateinamerikanischen Linken im Bd. 6 verfaßt hat. Den hier – in Auszügen – veröffentlichten Artikel hat der Autor dem Quetzal freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
[1] PRD (Partido de la Revolución Democrática – Partei der demokratischen Revolution)
1989 gegründet; führende Oppositionskraft links vom PRI; ging aus dem Zusammenschluß des vom PRI abgespaltenen Corriente Demócratico mit dem PMS hervor, die als einzige Partei des Wahlbündnisses FDN zu diesem Schritt bereit war. Während jedoch die FDN 1988 noch 31 % erhielt, konnte der PRD 1991 lediglich 8,5 % verbuchen. Ferner beteiligten sich eine Reihe von Volksorganisationen und sozialen Protestbewegungen an der Gründung des PRD. Uneingeschränkter Führer ist Cuautemoc Cárdenas.
[2] APRA: Alianza Popular Revolucionaria Americana – „ Revolutionäre Volksallianz“, gemäßigt-reformistisch, gegründet 1924 von Haya de la Torre im mexikanischen Exil als Partei des antiimperialistischen Kampfes auf dem ganzen Kontinent, unterstützt von einer Allianz aus Mittelschichten, aus denen sich die Führung rekrutierte, Arbeitern und Bauern. Zeichnete sich zunächst durch militanten Populismus aus, der in scheiternden Aufständen und Putschversuchen mündete. Seit 1930 war die APRA de facto auf Peru beschränkt. 1939 bis 1962 Anpassung an die Spielregeln des politischen Systems, kritische Distanz zu den herrschenden Machtblöcken bis Mitte der 70er. Nach der „Demokratisierung“ unter Federführung der militärischen Machthaber ab 1978 kommt es zu einer Annäherung zwischen APRA und Militär. Letztgenanntes sah seine Politik in den wirtschaftspolitischen Zielen der APRA widergespiegelt – begrenzte wirtschaftliche Liberalisierung bei Aufrechterhaltung einiger Reformelemente. 1985 kam mit Alan Garcia zum ersten Mal ein Führer der APRA an die Macht.