Bolivien: Die Tragik Morales‘ – Was wir wissen, was wir nicht wissen und was wir wissen können
|Was wir wissen: Am 10. November 2019 trat Evo Morales auf Druck des Militärs und von Teilen der Bevölkerung von seinem Präsidentenamt zurück. Morales wird immer das große Verdienst für sich beanspruchen können, die verschiedenen indigenen Gruppen im Land in einem plurinationalen Staat integriert, ihnen die gebührenden Rechte verschafft und die Armut halbiert zu haben. Was wir nicht wissen: Gab es bei den Präsidentschaftswahlen am 20. Oktober 2019 Wahlbetrug oder nicht? Die Befürworter der These führen ins Feld, dass nach einer Auszahlungspause die letzten 5, 10 oder 12 Prozent (die Zahlen variieren) einen nicht mehr erwartbaren Umschwung brachten. Die Wahlbeobachter hielten diesen Sprung für „sehr ungewöhnlich“ und „statistisch unwahrscheinlich“, also für anfechtbar. Die OAS, der Morales die Wahlbeobachtung ausdrücklich gestattet hatte, stellte in ihrem 13seitigen Papier weitere Wahlmanipulationen fest. Morales begründete seine Gegenthese damit, dass diese Stimmen aus ländlichen, entlegenen Gebieten gekommen seien, wo er aber besonders viele Anhänger habe, und sie bis zu ihrer Einbeziehung in das Gesamtresultat einfach „länger“ brauchten. Heute, vom Leipziger Wohnzimmer aus, ein Urteil darüber zu fällen, welche der beiden Thesen richtig ist, erweist sich als schlechterdings unmöglich. Wir haben nicht mitgezählt. Wichtig aber ist, dass, selbst wenn man Wahlbetrug bestreitet, Morales nur äußerst knapp gesiegt hat: Der Sieger musste über 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinen und 10 Prozent Stimmenvorsprung vor dem Zweiten haben, damit keine Stichwahl notwendig geworden wäre. Ersteres hat Morales erreicht, bei Letzterem hat er selbst nach der offiziellen Auszählung die nötige Vorsprunggrenze nur mit 0,56 Prozent übertroffen. Das ist sehr wenig, und unter dieser Bedingung den Vorschlag einer Stichwahl, zumal bei einem im Raum stehenden Vorwurf der Wahlmanipulation, abzulehnen, sehr bedenklich. Bedenkenswert ist, dass für Morales weniger als die Hälfte der Bevölkerung gestimmt hat und dass dieser einen knapp 14 Prozent geringeren Stimmenanteil erreicht hat als 2014. Was von der Definition abhängt: Morales unterstellt der bolivianischen Armee einen Putsch: Wenn man „Putsch“ so definiert, dass das Militär dazu die Macht übernehmen muss, war es keiner, denn das ist nicht geschehen. Wenn man hingegen allein zur Bedingung macht, dass der Oberbefehlshaber der Streitkräfte den Präsidenten öffentlich zum Rücktritt auffordert, wäre es einer. Nimmt man schließlich als Putschkriterium an, dass die Armee die gegebene Verfassung verletzt hat, wird es knifflig, weil es ja Morales zuerst gewesen war, der sich über sie hinweggesetzt hat. Er wollte damit zum vierten Mal das Präsidentenamt gewinnen. Doch laut der Verfassung, die sich Bolivien unter Morales selbst gegeben hat (!), war und ist rechtlich nur eine einmalige Wiederwahl erlaubt (Artikel 168). Die zweite Wiederwahl fand dennoch statt, weil man sich darauf geeinigt hatte, dass die erste Wahl vor der neuen Verfassung stattgefunden habe und deshalb nicht „zähle“. Vor der vierten Wahl gab es am 21.02.2016 ein Referendum. 51,3 Prozent stimmten hier gegen eine weitere Wiederwahl, die Mehrheit. Das von der Exekutive nicht unabhängige (!) Oberste Verfassungsgericht setzte sich indes über das Ergebnis des Referendums hinweg, weil es die von der eigenen (!) Verfassung auferlegte Beschränkung auf einmal als Verletzung der Menschenrechte ansah. Das hat unter der Bevölkerung, auch unter den indígenas und beim Gewerkschaftsbund COB, Unmut ausgelöst. Morales, der die indigene Bevölkerung einst selbst politisch emanzipiert hatte, war auf einmal mit den Folgen konfrontiert: Sie maß nun auch ihn an den demokratischen Verfassungsbestimmungen. Worin Morales‘ Tragik besteht: Morales ist an einem wesentlichen Teil der Demokratiefrage gescheitert. Auch, so selbst linke Beobachter, sei Morales im Amt paternalistisch, ja zuweilen autoritär geworden und habe es versäumt oder vermieden, neben sich, aus dem eigenen Kreis, einen würdigen Nachfolger aufzubauen. Einmal mehr scheint auf, dass ein Teil der lateinamerikanischen Linken (noch mehr als Morales – Ortega und Chávez), zumindest implizit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als lediglich „formal“ und im Zweifel vernachlässigbar einstuft. Beides ist aber in seiner Relevanz mit sozioökonomischer und ethnischer Emanzipation gleichzusetzen. Das können wir inzwischen wissen. (Bild: Quetzal-Redaktion_gc)