Hugo Chávez hat zum ersten Mal seit 1998 in einer demokratischen Entscheidung verloren. Dies hat er schnell und unumwunden akzeptiert. Indem er seine Niederlage mit dem Zusatz „por ahora“ („vorerst“) kommentiert hat, verweist er zugleich auf seine Absicht, auch unter nunmehr veränderten Bedingungen weiterzumachen. Worin besteht nun diese neue Situation und wohin soll die Reise gehen?
Zunächst wird die Wahlniederlage des seit 1998 amtierenden Präsidenten ganz unterschiedlich interpretiert. Ein Großteil der Opposition sieht in ihr das Anfang vom Ende; für Chávez und seine Anhänger stellt sie wohl gleichfalls eine Zäsur dar – allerdings eine, die sich dennoch in einen Sieg verwandeln lässt. Letzteres ist bereits dreimal gelungen: Aus dem gescheiterten Staatsstreich 1992 wurde sechseinhalb Jahre später ein überwältigender Wahlsieg, aus einer gewaltsam erzwungenen Absetzung 2002 eine triumphale Rückkehr ins höchste Staatsamt, und auch die geplanten Stillegung der Ölindustrie 2003 erwies sich für die Opposition als Bumerang. Die Tatsache, dass beim Referendum über die Verfassungsreform vom 2. Dezember die Nein-Stimmen nur mit einer ziemlich knappen Differenz von 1,5% obsiegten und dass 44% der Wähler, zumeist Chávez-Anhänger, zu Hause blieben, scheint eher der Interpretation von Chávez rechtzugeben. Auch die heterogene Zusammensetzung der Reformgegner spricht dafür. Erste Einschätzungen verweisen darauf, dass eine entscheidende Ursache für Chávez’ Niederlage in der unzureichenden Mobilisierung seiner Basis zu suchen sei. Dies wiederum ist in Verbindung mit der Angst vieler Venezolaner vor möglichen diktatorischen Vollmachten des Präsidenten infolge von unbegrenzter Wiederwahl, Neubestimmung der Ausnahmezustandes und Ausweitung der Kompetenzen zu sehen. Wie auch immer: Selbst erklärten Chávez-Gegnern wird es künftig schwer fallen, Venezuela zur Diktatur zu erklären. Auch prominente Reformgegner sehen im Wahlausgang und seiner prompten Anerkennung durch Chávez in erster Linie einen Sieg der Demokratie und sehen alle Venezolaner als Sieger. Es spricht einiges dafür, dass der Demokratisierungseffekt der Wahlniederlage Chávez’ Position sogar stärken könnte.
Wie soll es nun aber weitergehen? Fest steht, dass Chávez auf die neue Situation reagieren muß. Dies kann auf zweierlei Art geschehen. Einerseits könnte er auf die Mobilisierung seiner Basis durch eine Radikalisierung des Transformationsprozesses setzen, andererseits kann er auf einen gemäßigten Kurs einschwenken. Eine dritte Variante wäre ein Zick-Zack-Kurs zwischen beiden. Jede dieser beiden Optionen hat eine reale Grundlage in der venezolanischen Gesellschaft, die sich auch im jüngsten Wahlergebnis ausdrückt. Dieses lässt sich als Resultat der Ausdifferenzierung der bisherigen Anhängerschaft von Chávez interpretieren. Der reformistischen Fraktion, die ihre Basis vor allem im Staatsapparat hat, geht die Orientierung auf einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, welche mit der geplanten Reform Verfassungsrang erlangt hätte, zu weit. Gestärkt durch das Scheitern dieses Vorhabens, könnte sie nun größeren Druck ausüben oder gar den Anschluß an bestimmte Sektoren der Opposition suchen. Dem steht das Bestreben der Basis entgegen, die revolutionären Umgestaltungen zu forcieren. Es ist Ausdruck der inneren Widersprüchlichkeit des gesamten Projektes, dass die Anhänger dieses Kurses nicht in vollem Umfang mobilisiert werden konnten, obwohl die Verfassungsreformen die Tür für eine Radikalisierung öffnen sollten. Viele Basisstrukturen, die sich als Ausdruck der Selbstorganisation des venezolanischen Volkes verstehen, ging wohl die geplante Anbindung an staatliche Institutionen gegen den Strich. Chávez, der seinen politischen Aufstieg in erster Linie der Volksbewegung verdankt und der bisher beide Standbeine – Reformisten im Staatsapparat wie Revolutionäre an der Basis – in sein Projekt einzubinden vermocht hatte, wird sich nun entscheiden müssen. Dabei kann der Wahlausgang eine mehrfache Katalysatorfunktion übernehmen. Einerseits zwingt er Chávez, über die „Entpersonifizierung“, Demokratisierung und Kohärenz seines Projektes nachzudenken. Andererseits zwingt er auch die chavistische Basis, ihre Rolle im Transformationsprozeß neu zu bestimmen: Will sie weiter auf die Person Hugo Chávez fixiert bleiben oder kann sie ihr Gewicht und ihre Spielräume vergrößern? Nicht zuletzt aufgrund der Ungewißheit, wie sich die Armee in Zukunft zu Chávez stellen wird, kommt letzterem eine Schlüsselrolle bei der Vertiefung des Transformationsprozesses zu. In diesem Sinne könnte die Wahlniederlage auch das Ende vom Anfang sein.