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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Bolívar oder Monroe? Die geopolitischen Dimensionen der venezolanischen Krise

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 15 Minuten

Der Kampf um Venezuela ist in vollem Gange. Er polarisiert nicht nur die venezolanische Gesellschaft, sondern auch Lateinamerika und die internationale Öffentlichkeit. Am 23. Januar 2019 hatte sich Juan Guaidó zum Interimspräsidenten erklärt. Die antichavistische Opposition weckte damit die Erwartung, dass der lang gehegte Traum vom Regime change nun endlich Wirklichkeit wird. Der innenpolitische Machtkampf wird von einer Allianz westlicher und lateinamerikanischer Länder befeuert, die unter Führung der USA steht und dem „Selbsternannten“ per diplomatischer Anerkennung die nötige internationale Legitimität verleihen soll. Inzwischen hat Guaidó sein Pulver weitgehend verschossen, ohne seinem Ziel – dem Sturz von Nicolas Maduro – näher gekommen zu sein. Damit treten die geopolitischen Dimensionen der venezolanischen Krise in den Vordergrund und verleihen dem Konflikt eine neue Qualität.

Mehr als „nur“ Öl

Venezuela ist für seinen Reichtum an natürlichen Ressourcen bekannt, wobei die Förderung und der Export von Erdöl inzwischen ein derartiges Übergewicht gewonnen haben, dass das Land als paradigmatischer Fall eines Petrostaates gilt. Als Hugo Chávez die „Bolivarische Revolution“ ausrief und 2006 den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ proklamierte, konnte er dank hoher Weltmarktpreise große Teile der Ölrente zugunsten der marginalisierten Mehrheit der Venezolaner umverteilen. Der Fluch des „schwarzen Goldes“, von Juan Pablo Pérez Alfonso – 1959 bis 1964 venezolanischer Bergbau- und Erdölminister sowie Mitbegründer der OPEC – auch als „Exkremente des Teufels“ bezeichnet, wurde in vollem Umfang erst nach seinem Tod 2013 wirksam. Der leichtfertige, ja fahrlässige Umgang mit den negativen Seiten des Ressourcenreichtums bildet die entscheidende strukturelle Grundlage der tiefen ökonomischen Krise des Landes.

Zugleich wecken die riesigen Ölreserven Venezuelas, mit geschätzten 302 Milliarden Barrel die größten der Welt, die Begehrlichkeiten externer Mächte. Dies veranlasst Frank Stocker, Redakteur der „Welt“, zu fragen, ob „… in Venezuela ein Kampf der Weltmächte ums Öl (tobt)?“ In seiner Antwort bescheinigt er zwar den USA ein gewisses Interesse am venezolanischen Öl und muss darüber hinaus auch eingestehen, dass die Trump’schen Sanktionen gegen die Erdölindustrie des südamerikanischen Landes „zusätzlichen Einfluss“ nehmen, argumentiert aber, dass China und Russland „ein mindestens genau so großes Interesse an Venezuela“ haben. Der Verweis auf die Ölexporte, die etwa zu gleichen Teilen (40 Prozent) sowohl in die USA als auch nach Asien (Indien und China) gehen, die Kredite, mit denen Venezuela bei China (50 Milliarden US-Dollar) und Russland (17 Milliarden US-Dollar) in der Kreide steht, sowie die Präsenz mächtiger, miteinander konkurrierender Unternehmen aus den USA (Chevron) einerseits und Russland (Rosneft) bzw. China (CNPC, Sinopec) andererseits sprechen dafür, dass sich die drei Weltmächte im Kampf um das venezolanische Öl befinden. Das Manko des Beitrags des Welt-Redakteurs besteht jedoch darin, dass er die geopolitischen Aspekte dieses Kampfes weitgehend vernachlässigt.

Trumps „Energy dominance“ funktioniert ohne Venezuela nicht

Diese ergeben sich aus zwei unverrückbaren Fakten: Erstens handelt es sich im Falle Venezuelas um die weltweit größten Ölvorkommen, die zweitens am Südrand der Karibik liegen, die den östlichen Teil des „Amerikanischen Mittelmeeres“ bildet und damit zur unverzichtbaren Sicherheitszone Washingtons gehört. Damit rückt die US-amerikanische Geopolitik ins Zentrum der Auseinandersetzungen um Venezuela. Wenden wir uns deshalb zunächst der Frage zu, welchen Stellenwert die Ölvorkommen des südamerikanischen Landes für die Energiepolitik der USA haben. Deren geopolitische Bedeutung lässt sich bereits daran erkennen, dass Donald Trump gerade auf dieses Feld setzt, in dem sich nationale Sicherheit, Umwelt- und Klimapolitik sowie wirtschaftliche Interessen zu einem Trilemma verquicken, um die globale Dominanz Washingtons durchzusetzent. Dank der generellen Überlegenheit der USA sowie der von seinen Vorgängern eingeleiteten „Fracking-Revolution“ sieht sich Trump zwar auf Erfolgskurs, es liegt jedoch auf der Hand, dass die von ihm angestrebte „energy Hugo Chavez_Bild-Quetzal-Redaktion_solebiasattidominance“ ohne Venezuela bestenfalls Stückwerk bleibt (siehe Quetzal-Beitrag vom Januar 2019 unter: https://quetzal-leipzig.de/themen/ressourcen-und-umwelt/fracking-the-world-trumps-energiepolitik-als-zeichen-imperialer-ueberdehnung).

Unter Chávez hat sich das südamerikanische Land zudem als Vorkämpfer gegen die Vormacht der USA profiliert und – gemeinsam mit anderen Ländern – aktiv daran beteiligt, durch entsprechende Integrationsprojekten wie UNASUR, ALBA und PetroCaribe den Grundstein für ein antiimperialistisch und antineoliberal orientiertes Lateinamerikas zu legen. Auch wenn sich das kontinentale Kräfteverhältnis im Ergebnis der 2014 einsetzenden Rechtswende dramatisch zu Ungunsten der linken Kräfte verändert hat, so bildet das hart umkämpfte Venezuela dennoch das entscheidende Hindernis für die vollständige Rückgewinnung der US-Dominanz über Lateinamerika. Im Falle Venezuelas verbinden sich der besondere energiepolitische Stellenwert des Landes und seine generelle Bedeutung als wichtigster Damm gegen den kontinentalen Gegenangriff der USA miteinander. Um seine geopolitischen Ziele durchzusetzen, ist Washington bereit, alle Optionen – einschließlich die der direkten militärischen Intervention – zu nutzen. Wie ernst es den USA damit ist, zeigt die Rede, die Trumps Sicherheitsberater John Bolton am 1. November 2018 in Miami gehalten hat. Darin bezeichnete er Venezuela, Kuba und Nicaragua als „Troika der Tyrannei“ (troika of tyranny) und kündigte den „Zusammenbruch“ dieses „Dreiecks des Terrors“ an.

Venezuela – Schwachstelle und Schlussstein der Troika

Dass die drei Länder vom bekennenden Neokonservativen Bolton unter dem Label der „Tyrannei“ und des „Terrors“ zusammengefasst werden, erinnert in fataler Weise an Bushs „Achse des Bösen“ und verheißt nichts Gutes. Was Venezuela, Kuba und Nicaragua in den Augen Trumps zu Zielscheiben des Regime change prädestiniert, ist vor allem die Tatsache, dass sie sich in besonderer, offener Weise den realen oder vermeintlichen Interessen der USA Widerstand entgegensetzen. Auch wenn sich alle drei im Visier Washingtons befinden, muss innerhalb der Troika differenziert werden. Während Kuba eine Insel unweit von Florida ist und seit 60 Jahren den konterrevolutionären Attacken Washingtons trotzt, liegt Venezuela auf dem südamerikanischen Festland (tierra firme) und kann – im Unterschied zu Kuba – nicht auf eine radikale Revolution zurückblicken, die gleichermaßen politisch und sozial ist. Außerdem findet die aktuelle venezolanische Krise in ihrer Tiefe keine Entsprechung – weder in Südamerika noch innerhalb der Troika. Zugleich bilden beide Länder in Hinblick auf ihre enge Kooperation und Solidarität die strategische Achse des Widerstandes gegen die imperialen Wunschträume im Weißen Haus. Nicaragua, ein kleines Land in Zentralamerika, hat – nach kubanischem Vorbild – ebenfalls eine antiimperialistische Revolution versucht. Diese wurde jedoch durch die USA mittels Contra-Krieg und Regionalkonflikt blockiert und von den kriegsmüden Nicaraguanern im Februar 1990 abgewählt. Heute ist Nicaragua Washington vor allem deshalb ein Dorn im Auge, weil es sich mit seinem Beitritt zur ALBA dem kubanisch-venezolanischen Bündnis angeschlossen hat, dem auch Bolivien sowie einige kleine karibische Inseln angehören. Zudem weckt das Projekt eines interozeanischen Kanals, der mit chinesischem Kapital finanziert werden soll(te), das Misstrauen der USA. Auf sich allein gestellt, hätte das zentralamerikanische Land keine Chance, dem Druck Washingtons zu widerstehen.

Warum aber „erwählt“ Washington beim Versuch, der Troika den Garaus zu machen, ausgerechnet Venezuela als ersten Kandidaten? Neben der eher psychologisch motivierten Rache an Chávez und seinen Anhängern spielen aus US-amerikanischer Sicht vor allem zwei Befunde eine zentrale Rolle: Zum einen bildet Venezuela das schwächstes Glied in der Kette der verbliebenen linken und fortschrittlichen Länder in Lateinamerika; zum anderen handelt es sich um einen besonders lukrativen und geopolitisch wichtigen Kandidaten für ein kontinentales Rollback. In den Augen von Bolton und Trump kann kein anderes Land Lateinamerika beim Regimewechsel mit einer derart „verführerischen“ Kombination mithalten. Während sich fast alle Kommentare, die sich mit der venezolanischen Krise befassen, auf den ersten Aspekt – die Schwäche des von Trump zum Abschuss freigegebenen Regimes – konzentrieren, spielt der zweite Aspekt, der aus der Sicht Washingtons wahrscheinlich noch mehr ins Gewicht fällt, kaum eine Rolle. Will man diese Seite der US-Politik gegenüber Venezuela besser verstehen, bedarf es eines Rückblicks auf die geopolitische Debatte – und zwar bevor die USA als neue westliche Supermacht aus dem 2. Weltkrieg hervorgingen.

Monroe, Spykman und die drei Amerikas

Als US-Präsident James Monroe 1823 die nach ihm benannte Doktrin verkündete, waren die spanischen Kolonien zwischen Mexiko und Feuerland gerade dabei, mit militärischen Mitteln ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen. Bereits damals erklärten die USA die westliche Hemisphäre zu einer Zone, in der die Rekolonialisierung seitens europäischer Mächte „verboten“ war. Im Selbstverständnis Washingtons war mit dem antikolonial klingenden Motto „Amerika den Amerikanern“ aber nichts anderes gemeint, als dass von nun an die USA über das Schicksal des Doppelkontinents zu entscheiden hatten. Dieser Hegemonialanspruch wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Gestalt des „Manifest destiny“ untermauert. Die Kriege gegen Mexiko (1846-1848) und Spanien (1898) bildeten die entscheidenden Meilensteine bei der Durchsetzung der Monroe-Doktrin. Von Präsident Theodore Roosevelt (1901-1909) ist nicht nur der Spruch „I took Panama“ überliefert. 1904 nahm er außerdem eine Ergänzung (corollary) der Monroe-Doktrin vor, in der die USA das Interventionsrecht in der westlichen Hemisphäre unilateral für sich reklamierten. In Gestalt des „Big Stick“, des „dicken Knüppels“, bekam Washingtons Lateinamerikapolitik auch gleich noch das passende Label.

Mit ihrem Eintritt in den 2. Weltkrieg im Dezember 1941 wurden die USA vor neue, grundsätzliche Entscheidungen geopolitischer Natur gestellt. Wie sollten sie der realen Gefahr der Einkreisung (encirclement) der westlichen Hemisphäre durch die verbündeten Achsenmächte Deutschland und Japan begegnen? Welches war die beste Strategie, um die Landung feindlicher Truppen auf dem amerikanischen Doppelkontinent zu verhindern? War Washington mit der bislang verfolgten Strategie, sich aus den europäischen Angelegenheiten herauszuhalten und sich auf die Verteidigung der „Fortress America“ zu konzentrieren, in der Lage, die drohende weltpolitische Isolierung abzuwehren? In der Debatte um die Neuorientierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik entwickelte Nicholas Spykman (1893-1943) sein „Rimland-Konzept“, mit dem Washington während des Kalten Krieges die Strategie des Containment gegenüber der Sowjetunion begründete und das im sogenannten zweiten Kalten Krieg (ab 2014) fröhliche Urständ feiert. Für Spykman war klar, dass sich die USA angesichts der neuen weltpolitischen Konstellation nur dann als Weltmacht behaupten konnten, wenn sie in der Lage waren, ihre transatlantischen und transpazifischen Gegenküsten sowie den Bogen vom Mittelmeer über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Ostasien kontrollieren. Diese Gebiete, die das eurasische „Heartland“ (Mackinder) in Form einer Sichel umgeben, nannte er „Rimland“. Seine Schlussfolgerung lautete folgendermaßen: „Wer das Rimland kontrolliert, beherrscht Eurasien. Wer Eurasien beherrscht, kontrolliert das Schicksal der Welt.“ (SpUS-Flagge_Bild-Quetzal-Redaktion_gcykman 1944, S. 43; Übersetzung P.G.) Für Washington gilt deshalb bis heute: Die USA sind nur dann sicher, wenn sie Eurasien und damit die Welt beherrschen.

Voraussetzung der Umsetzung der Rimland-Strategie war, ist und bleibt die Kontrolle Washingtons über die westliche Hemisphäre. In geopolitischer Hinsicht besteht diese aus drei verschiedenen Zonen: aus den beiden Kontinenten Nord- und Südamerika, die voneinander durch das Amerikanische Mittelmeer getrennt sind (Spykman 1942, S. 43-58). Nordamerika wird von den USA klar dominiert. Sie nehmen die klimatisch begünstigte Mitte des Kontinents ein und haben sowohl im Norden (Kanada) als auch im Süden (Mexiko) zwei schwache Nachbarn, während sie mit ihren langen Küsten im Osten und Westen an den Atlantischen bzw. Pazifischen Ozean grenzen. Die faktische Insellage verschafft den USA zusammen mit der großen Bevölkerung und dem riesigen Territorium geopolitische Vorteile, über die sonst keine Weltmacht verfügt. Nach dem Bürgerkrieg (1861-1865) und dem Abschluss der kontinentalen Expansion bildete die rasche Industrialisierung die Grundlage für den Aufstieg zur Weltmacht.

Mit einer derartigen Machtfülle ausgestattet beherrschen die USA das Amerikanische Mittelmeer, das sich südlich von ihnen bis zur Nordküste Südamerikas erstreckt. Die absolute Vorherrschaft der USA kann – Spykman (1942, S. 60) zufolge – nur von außen herausgefordert werden. Saul Cohen bezeichnet diesen Teil des Doppelkontinents, zu dem er die Karibik, Zentralamerika und die nördlichen Küstengebiete Südamerikas zählt, als Mittelamerika. Indem er diese „Subregion“ geopolitisch zu einem „Teil Nordamerikas“ (Cohen 2015, S. 148) erklärt, gesteht er Mittelamerika noch weniger Autonomie gegenüber den USA zu als Spykman mit seiner Untergliederung in drei Amerikas.

Venezuela – ein shatterbelt in der westlichen Hemisphäre?

Was hat dies alles nun mit Venezuela und seiner tiefen Krise zu tun? Sehr viel: Als „Brückenland“, das sowohl zu Mittel- als auch zu Südamerika gehört, liegt es einerseits in der Sicherheitszone, über die die USA die absolute Vorherrschaft beanspruchen, zum anderen macht es seine Zugehörigkeit zu Südamerika möglich, geopolitisch in dieser Richtung aktiv zu werden. Unter Nutzung seiner großen Ölreichtums hat Hugo Chávez genau dies getan: Die Ausweitung seiner „Bolivarischen Revolution“ von Kuba und Nicaragua im Norden bis nach Südamerika hinein (ebenda). Nach seinem Tod musste Venezuela diese Geopolitik der Gegenhegemonie gegenüber den USA allerdings aufgeben. Die ökonomische Basis der Petrostaates erwies sich als zu schmal und brüchig, um eine derartige Politik der Herausforderung der westlichen Supermacht in deren eigenen Hinterhof durchzuhalten. Aber immerhin schuf sie die Basis für eine geopolitische Allianz Venezuelas mit China und Russland.

Dies stellt für die USA eine noch größere Gefahr dar als Chávez‘ Petro-Diplomatie. Gerade die Krise verschafft den beiden Rivalen Washingtons weitere Vorteile, um ihren Einfluss in Venezuela und der Region auszuweiten und zu festigen. Dass es sich bei Venezuela um ein Brückenland handelt, das zudem über riesige Naturreichtümer verfügt, macht die strategische Allianz mit China und Russland in den Augen von Trump und Bolton noch gefährlicher. Das zerntrale Problem besteht darin, dass Washington fast alle Varianten des Regime change unterhalb einer direkten militärischen Invasion ausgespielt hat. Eine weitere Eskalation birgt die Gefahr, dass sich aus der inneren Krise ein regionaler Konflikt entwickelt. Das abschreckende Szenario dafür liefert Syrien. Indem der Westen in offensichtlicher Fehleinschätzung der Lage unbeirrt auf den Sturz von Bashir Assad bestanden hat, konnte sich aus der Protestwelle ein Bürgerkrieg und später ein Regionalkrieg unter Einbeziehung der USA auf der einen und Russlands auf der anderen Seite entwickeln. Syrien stellt zugleich eine geopolitische Konstellation dar, die in der Fachliteratur als „shatterbelt“ (auch shatter zone bzw. crash zone). Dabei handelt es sich um eine geographische Region, um deren Kontrolle Großmächte hart miteinander konkurrieren. Dabei geht es ihnen um die Durchsetzung wichtiger Interessen, wobei ihnen ausreichende Möglichkeiten für Bündnisse mit Staaten in der Region zur Verfügung stehen. Daraus ergibt sich ein großes Eskalationspotential, das den Konflikt in eine größere militärische Auseinandersetzung umschlagen lässt (Kelly 1986, S. 176). In Mittelamerika hat es im Rahmen des Kalten Krieges bisher nur zweimal Konflikte in Gestalt von shatterbelts gegeben: 1962 mit der kubanischen Raketenkrise und die Zentralamerikakrise in den 1980er Jahren. Die venezolanischen Krise enthält derzeit alle Zutaten für einen dritten shatterbelt im Hinterhof der USA. Einzig Verhandlungen zwischen den inneren Konfliktparteien und die Deeskalation des US-amerikanischen Vorgehens können ein solches Szenario noch verhindern.

Mit ihrem Memorandum vom 4. April 2019 warnen die Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS) den US-Präsidenten genau vor einem solchen Szenario (Abruf 30. April 2019 unter:). Wörtlich heißt es darin: „Herr Präsident, die Venezuela-Politik Ihrer Regierung bewegt sich auf einen schlüpfrigen Hang zu, auf dem wir leicht in einen Krieg in Venezuela und eine militärische Konfrontation mit Russland schlittern könnten. Als ehemalige Geheimdienstler und für die Sicherheit unseres Staates Zuständige mit jahrzehntelanger Erfahrung fordern wir Sie auf, sich nicht aus Verärgerung über die Unruhen in Venezuela oder die russischen Aktivitäten auf der westlichen Halbkugel in eine Militäraktion drängen zu lassen. Mit der Landung zweier russischer Transportflugzeuge und der andauernden politischen Unterstützung für die (legitime) Regierung Venezuelas sind die Russen weit davon entfernt, die „rote Linie“ zu überschreiten, die 1823 (von dem US-Präsidenten James Monroe) mit der Monroe-Doktrin gezogen wurde. Die US-Aktivitäten in Venezuela haben die Krise, in der sich das Land befindet, nur vertieft, die Leiden seiner Bevölkerung vergrößert und die Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzungen auf nationaler Ebene deutlich erhöht. Präsident Maduros Misswirtschaft und seine autoritären Reaktionen auf Provokationen sollen nicht verteidigt werden; sie resultieren aber zumindest teilweise aus der Tatsache, dass er seit seiner ersten Wahl im Jahr 2013 (vor allem von den USA) mit Sanktionen unter Druck gesetzt wurde, mit dem Ziel, ihn aus dem Amt zu drängen. Unserer Ansicht nach sind die Ratschläge, die Sie von Ihren Spitzenberatern – dem Senator Marco Rubio aus Florida, Ihrem Nationalen Sicherheitsberater John Bolton, von Elliott Abrams, dem US-Sonderbeauftragten für Venezuela und Ihrem Außenminister Michael Pompeo – erhalten haben und immer noch erhalten, schlicht und einfach falsch.“ (die Übersetzung ins deutsche ist „Luftpost“ 047/19 vom 17.04.2019 entnommen. Dort sind auch der restliche Text und das englische Original zu finden.) Es bleibt nur zu hoffen, dass diese ernste Botschaft bei Donald Trump offene Ohren findet. Ansonsten droht ein Krieg mit unabsehbaren Folgen.

 

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Literatur:

Cohen, Saul Bernhard: Geopolitics. The Geography of International Relations. Third edition, Lanham/ Boulder/ New York/ London 2015

Kelly, Philip: Escalation of regional conflict: testing the shatterbelt concept, in: Political Geography Quarterly, Vol. 5 (April 1986) No. 2, S. 161-180

Kelly, Phil: A Geopolitical Interpretation of Security Concerns within United States – Latin American Relations, in: Security and Defense Studies Review, vol. 14 (2013) Special Issue: The Drug Policy Debate, S. 53-68

Spykman, Nicholas: America’s Strategy in World Politics. The United States and the Balance of Power. New York 1942

Spykman, Nicholas: The Geography of the Peace. New York 1944

Stocker, Frank: Maduro gegen Guaidó – Tobt in Venezuela ein Kampf der Weltmächte ums Öl?, in: Die Welt vom 5.2.2019 (Abruf 9.5.2019 unter: https://www.welt.de/finanzen/article188258195/Maduro-gegen-Guaido-Tobt-in-Venezuela-ein-Kampf-der-Weltmaechte-ums-Oel.html)

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Bildquellen: Quetzal-Redaktion [1]_solebiasatti [2]_gc

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