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Politik und Kultur in Lateinamerika

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25 Jahre: Niedergang, Ende und Transition

Diego Bautista Urbaneja | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Das, was wir die venezolanische Demokratie nennen können, hat gerade einen Zyklus vollendet, der bei ihrer Errichtung im Jahre 1959 beginnt und bis zum Ende der achtziger bzw. Beginn der neunziger Jahre reicht. Er hatte wie jeder Zyklus seinen Höhepunkt und seinen Verfallsphase, seine aufsteigenden und seine absteigenden Etappen. Die einzelnen Regierungsperioden bieten eine bequemes Muster, diesen Weg nachzuzeichnen. Es muss jedoch zuvor daraufhingewiesen werden, dass der Prozess des Auf- und Abschwungs Faktoren gehorcht, die weit unter die Oberfläche der einzelnen Regierungen gehen, Faktoren, deren Ursprünge in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit wurzeln und in eine fernere Zukunft wirken als in dem Ausdruck „die vorherige – die nächste Regierung“ enthalten ist. Jede Regierung leistet ihren spezifischen Beitrag bei der Formgebung des Prozesses, doch der Prozess selbst bleibt immer der Hintergrund, auf dem sie sich bewegt.

Vor fünfundzwanzig Jahren: Das Ende des Aufstiegs

Vor fünfundzwanzig Jahren befanden wir uns mitten in der ersten Regierungszeit von Rafael Caldera. Es war dies die letzte Regierung der Aufstiegsphase der venezolanischen Demokratie, dem Zyklus, dessen Ende wir in diesen Jahren erleben. In dieser Periode erreichten die Ziele, deren Verwirklichung seit 1959 den Gang des politischen Regimes bestimmt hatten, einen Gipfelpunkt. Vielfach offenbarten sich sogar schon die Schwächen dieser Ziele, oder sie gelangten bei ihrer Umsetzung in einen Engpass. Erinnern wir uns, welche diese Ziele waren:

  • Konsolidierung der Demokratie,
  • importsubstituierende Industrialisierung,
  • Agrarreform,
  • Ausbau des Bildungswesens,
  • Schaffung einer Basisindustrie in staatlicher Hand,
  • die Verstaatlichung der wichtigsten Bodenschätze des Landes, speziell Eisen und Erdöl,
  • der Aufbau wenigstens der Grundzüge eines Sozialstaates.

Dies alles wurde von gut organisierten politischen Parteien gelenkt, die Gremien und Gewerkschaften kontrollierten und den Staatsapparat klientelistisch in Beschlag nahmen. Die Regierung von Caldera bot keine schlechten wirtschaftlichen Resultate, und auch politisch gesehen befand sie sich auf der Siegerliste: Mit ihr übernahm erstmalig die vorherige Oppositionspartei die Regierungsgeschäfte, außerdem war sie eine Einparteienregierung mit parlamentarischer Minderheit, ohne dass dies eine besondere politische Instabilität mit sich gebracht hätte. Des weiteren hatte sie es mittels großer friedensschaffender Anstrengungen erreicht, die bedeutendsten linken Gruppen, die die subversiven Aktivitäten der sechziger Jahre angeführt hatten, wieder in das legale politische Leben einzugliedern.

Doch trotz alledem lauerten schon die Anzeichen schwieriger Zeiten. Denn gerade die Erfüllung der demokratischen Ziele verlangte eine Neubewertung dessen, was man bis dahin vollbracht hatte. So hörte man in der Wahlkampagne von 1973 zum ersten Mal den Slogan „Dies ist die letzte Chance für die venezolanische Demokratie“, der seitdem immer wieder wie eine Leier wiederholt wurde.

Der Beginn des Niedergangs

Unter diesen Voraussetzungen ereignet sich der große Wahlerfolg von Carlos Andrés Pérez (1974-1979). Doch all die Ansätze zum Umdenken, von denen man am Ende der Regierung Caldera zaghaft zu sprechen begann, werden plötzlich zurückgedrängt oder schlichtweg vergessen, als sich von einem Tag auf den anderen die Ölpreise und damit auch die Staatseinnahmen vervierfachen. Weder organisatorisch noch institutionell noch ideologisch war die venezolanische Demokratie auf den Umgang mit einem derartigen Einnahmenzuwachs vorbereitet. Auf der Suche nach Verwendungsmöglichkeiten für diesen Geldstrom vervielfacht die Regierung ihre Pläne, Projekte und Behörden, wobei sie auf die verschiedensten Anregungen reagiert. Zu diesen zählten:

  • vermessene Ambitionen auf eine kontinentale Führungsposition,
  • die Bedürfnisse und Probleme, die das Erschöpfen der einstigen Demokratisierungsprogramme erzeugt hatten,
  • die Entscheidung, die Wirtschaft vom Erdöl unabhängig zu machen und auf die Basis eines ausgebauten Schwerindustriesektors zu stellen,
  • verschiedene „Einfälle“ einflussreicher Persönlichkeiten,
  • mehr oder weniger gelungene Programme, die Öleinkünfte auszuschütten (Bsp.: das Stipendienprogramm von Mariscal de Ayacucho) oder zurückzulegen (Bsp.: der Investitionsfonds von Venezuela).

Alle diese resultierten in eine Ausweitung der öffentlichen Ausgaben und des Staatsapparates, insbesondere der dezentralisierten Verwaltung. Gleichzeitig allerdings nahm die ideologische und programmatische Beherrschung der Vorgänge laufend ab.

Hier begann sich bereits ein kritischer Wesenszug der venezolanischen Demokratie abzuzeichnen, der sich seitdem nur noch verschärft hat: ein Schwinden der Führungs- und Regierungsfähigkeit der Parteien und ihrer Führer. Auch das abnehmende Vermögen, dem Land einen politischen Kurs zu geben, war eine Folge der Vervielfältigung der Entscheidungsmöglichkeiten und somit letztlich Folge der plötzlichen Finanzmacht des Staates. Zusammenfassend kann man also feststellen, dass der Staat in einen Prozess der Desorganisation eintrat und die Demokratie von dem Weg abkam, den sie einmal beschriften hatte.

Im freien Fall

Während der Regierung von Luis Herrera (1979-1984) hielt diese Tendenz an und verstärkte sich noch. Verschärfend kam während der zweiten Hälfte seiner Amtszeit hinzu, dass sich eine Abnahme des Realeinkommens und eine zunehmende Verarmung abzeichnete, in die wir seitdem immer weiter abrutschen. Einzelne wirtschaftspolitische Entscheidungen werden sicherlich zur Verschlimmerung beigetragen haben, so wie die eigenartige währungspolitische Richtungsgebung des damaligen Zentralbankpräsidenten, doch die Ursachen für den politischen Verfall und die wirtschaftliche Verarmung liegen tiefer als sie an konkreten politischen Fehlentscheidungen festzumachen wären. Es war das ganze Wirtschafts- und Sozialmodell, das nie korrigiert wurde, wenn es vonnöten war, sondern einfach sich selbst überlassen wurde und langsam zu verrotten begann.

Die Regierung von Lusinchi (1984-1989) markiert den Schlussabschnitt des abnehmenden Zyklusses. Geschickte Maßnahmen zu Beginn der Amtsperiode erlaubten den Kurs fortzuführen als ob nichts geschehen würde. Doch abgesehen von diesen anfänglichen Eingriffen, z.B. zur Wechselkursregulierung mussten die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Strukturanpassungsmaßnahmen in bestimmten Sektoren von den betroffenen Institutionen oder Personen auf eigene Faust und nach eigenem Vermögen durchgeführt werden. Das Ergebnis dieser Untätigkeit ist, dass die Regierung Lusinchi, die sich am Ende ihres Mandates eines hohen Beliebtheitsgrades erfreut, das Land in einem unhaltbaren ökonomischen Zustand und in einer Situation völliger politischer Rückständigkeit übergibt, die sie jedoch bis zum letzten Moment verhüllen konnte.

Die politischen Parteien verloren währenddessen immer weiter an Führungsvermögen und öffentlichem Rückhalt. Noch in den Wahlen von 1988 schafften sie es, 80% der Wahlbevölkerung zu den Wahlurnen zu rufen, doch von da an stieg die Nichtwählerrate sprunghaft auf 50-60% der Wählerschaft, von der sie bisher nicht wieder heruntergekommen ist. In dem analytischen Modell, was wir bis hierhin entwickelt haben, ist dies der Ausdruck eines doppelten Prozesses: dem Niedergang der Führungsqualitäten der Parteien und ihrer Führungsspitzen einerseits, und andererseits dem Festhalten dieser Parteien an einem überholten Führungsschema des Landes, ohne dass aus ihrer Mitte überzeugende Vorschläge zur Erneuerung oder Umgestaltung gekommen wären.

Der erste Versuch der Transition

An diesem Punkt des abnehmenden Pfades angelangt, gewinnt 1988 Carlos Andrés Pérez die Wahlen, die ihn zum zweiten Mal zum Präsidenten erheben. Es beginnt eine Übergangsphase zu einer neuen Etappe der Demokratie. Die Züge dieser Transitionsphase sind zwar noch zu definieren, wirtschaftlich weist sie aber bereits in eine neue Richtung: gen einer Wirtschaft, die unabhängiger ist von Staatsausgaben und Staatsintervention, von Subventionen und Protektion, die international wettbewerbsfähiger ist und die mehr von Marktimpulsen gelenkt wird als von Regierungsentscheidungen. Auch politisch erhält die Transitionsphase eine ähnliche Richtung, die sich in einer verstärkten Dezentralisierung des Staates und in Parteiorganisationen äußert, die weniger in das soziale Leben eingreifen und ihre Posten vermehrt nach Regeln des Verdienstes statt durch Patronage (Meritokratie) vergeben.

Der Schwerpunkt der zweiten Regierung Pérez liegt auf der Überführung der Wirtschaft in eine deregulierte Marktwirtschaft. Ein drastisches, wenn auch unvollständiges, Programm makroökonomischer Strukturanpassungen wird vorgenommen, außerdem wird sich um die Wiedererlangung der ursprünglichen Wirtschaftsindikatoren bemüht, und es werden Reformen in Gang gesetzt wie sie im vorigen Abschnitt erwähnt sind. Ein ganzes Bündel komplexer und verkappter Umstände behindern diesen Versuch allerdings:

  • schweres Versagen in der politischen Führung durch den Präsidenten Pérez,
  • Probleme mit der Verwaltungsmoral,
  • technokratische Überheblichkeit,
  • Gerüchte über die engste Umgebung des Präsidenten,
  • Reformblockaden von seiten der politischen und sozialen Organisationen, deren Reaktionen nicht vorhergesehen wurden,
  • angestaute Unzufriedenheit bei Teilen des Militärs,
  • eine verfehlte Öffentlichkeitsarbeit der Regierung.

Der versuchte Staatsstreich vom 4. Februar 1992 macht das Experiment schließlich vollends zunichte und löst eine politische Krise aus, die die Regierung lahmt.

Der zweite Versuch der Transition

So bricht dieser Versuch der Transition also ab, nur noch in Erwartung auf die nächsten Wahlen im Dezember 1993 und auf das, was sie bringen könnten. Daraus folgt die zweite Regierung von Rafael Caldera. Die Mission, die er sich und seiner Regierung auferlegt, ist eine soziale und politische Stabilisierung der Demokratie, die er kurz vor dem Untergang sieht. Er betrachtet es nicht als seine Aufgabe, eine neuen Zukunftskurs zu entwerfen, sondern lediglich den bevorstehenden völligen Zusammenbruch aufzuhalten. Es wird sich zeigen, was daraus wird. Es ist dieses Ziel, welches die Politik der jetzigen Regierung bestimmt. Alle ihre Handlungen waren bisher danach ausgerichtet, wie wirksam sie nach Urteil des Präsidenten dem obersten Ziel der politischen und sozialen Stabilisierung dienen. In den ersten zwei Jahren war seine politischer Führung von detailversessener und kurzfristig angelegter Planung, von Manövern und Gegenmanövern geprägt. Der auf solch eine zusammenhangslose Wirtschaftspolitik folgende wirtschaftliche und soziale Verfall brachte schließlich genau das Ziel in Gefahr, das eigentlich durch diese Politik erreicht werden sollte. Sich dessen bewusst werdend, verabschiedete Präsident Caldera wirtschaftliche Korrekturmaßnahmen, die er dem Land im April 1996 ankündigte.

Die noch anstehende Aufgabe: Vollendung und Neustart

Zur Zeit erfährt die venezolanische Gesellschaft die Auswirkungen dieser Korrekturmaßnahmen, die sich vor allem auf den makroökonomischen Bereich beziehen. Was immer auch ihre Folgeerscheinungen sein mögen, mag man sie nun als vorteilhaft ansehen oder mag man annehmen, dass sie von tiefergreifenden Reformen gefolgt werden, so steht doch weiterhin die Aufgabe aus, diese Transitionsphase der Demokratie hinter sich zu lassen und gemeinsam den neuen Kurs des Landes zu entscheiden.

Nachdem sie den kompletten Bogen des ersten Zyklusses beschrieben hat, befindet sich die venezolanische Demokratie 1996 voll in der Aufbauphase. Die jüngsten Maßnahmen sind darauf bedacht, wenn alles gut geht, die Transition glücklich zu vollenden und in ein vorteilhafteres Gesamtpanorama einzufügen. Doch sie lösen nicht das Problem, das ihr als einer in Transition begriffener Demokratie innewohnt, nämlich den Weg zu bestimmen, den Venezuela als Gesellschaft einschlagen möchte.

Dies ist weder eine Aufgabe für die politische Führung noch für die Technokraten, und weder eine Frage der Regierens noch des Managements. Sie ist nicht mittels kluger Kabinettsentscheidungen lösbar, auch dann nicht, wenn diese vom zuständigen Beamten in diese Richtung ausgelegt werden. Es handelt sich um eine politische Aufgabe par excellence: eine Zukunftsidee in der ganzen Gesellschaft zu verbreiten, die von der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung als wertsetzend und richtungsweisend angesehen wird.

Übers. a. d. Spanischen: Folke Kayser

* Jurist, Prof. am Institut für Politische Studien der Universidad Central de Venezuela.

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