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Der Parteitag der "Strömungen" – Einheit des FSLN contra Selbsterneuerung?

Anita Gómez | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Für zwanzig Uhr am Abend des 22. Mai 1994 war die Verkündung des Namens des neuen Generalsekretärs der FSLN angesetzt. Doch es sollte noch eine lange, heiße Sitzungsnacht dieses ersten außerordentlichen Parteitages der FSLN geben, bis sein letztes Rätsel Auflösung fand… Drei Tage und Nächte hatte der congreso getagt (oder auch „genachtet“), und von den ursprünglich 488 anwesenden Delegierten waren es am Ende 447, die dem moralischen Appell des Parteitagspräsidenten Tomas Borge gefolgt waren, ihre einst in den Bergen gestählte Ausdauer auch im Sitzungsmarathon unter Beweis zu stellen. Doch spannend genug war der Parteitagskrimi ja … „Por la Unidad Sandinista“ – so lautete nicht nur das offizielle Motto, ,es drückte wohl auch die tatsächliche Befindlichkeit der Delegierten aus. Niemand hatte wirklich damit gerechnet, daß sich die Frente auf ihrer Tagung im Kongreßzentrum „Olof Palme“ spalten würde. Zumindest diese Mindesthoffnung ist auch nicht enttäuscht worden. Im Vorfeld des Parteitages, im Februar, hatten sich mit der Veröffentlichung zweier unterschiedlicher programmatischer Dokumente zwei „Strömungen“ in der FSLN nunmehr endgültig konstituiert: Unter der Überschrift „Für einen Sandinismus, der zu den Mehrheiten zurückkehrt“ fanden sich unter Führung des EX- Vizepräsidenten Nikaraguas, Sergio Ramirez, jene zusammen, die später als „Erneuerer“ oder auch als „Sozialdemokraten“ bezeichnet wurden. Dagegen entschieden sich die „Puristen“, „Orthodoxen“, „Pikinesen“ (nach dem Ort ihres Treffens Pikin Guerrero) oder auch die „demokratischen Linken“ – wie sie sich selbst nannten – um Daniel Ortega, ihrem Dokument den Titel „Für die revolutionäre Einheit der FSLN“ zu geben, ohne sich damit jedoch ausdrücklich als Gegenströmung zu verstehen.

Der Leser/die Leserin wird in den Dokumenten keine explizite Polemik der Gruppierungen gegeneinander feststellen, wohl aber entscheidende Unterschiede in der Diktion: Zunächst optieren beide „Strömungen“ gegen den Neoliberalismus der Regierung Chamorro und für Beziehungen des gegenseitigen Respekts mit den USA, beide schließen die Methode des bewaffneten Kampfes für die Zukunft ausdrücklich aus und beide streben den Wahlsieg der FSLN 1996 an, indem sie auf das Volk zugehen wollen. Doch scheint die Position der „Erneuerer“ von einem stärkeren Bewußtsein für die innere Krise der Frente und einer härteren Kritik gegenüber dem Vertikalismus in ihr zu zeugen. Das Wort „Sozialismus“ kommt in ihrem Dokument nicht vor.

Wenige Wochen vor dem Parteitag lancierte das Mitglied der Nationaldirektion der FSLN, Henry Ruiz, das Projekt „sin corriente“ (Ohne Strömung), das vermittelnd zwischen den „Strömungen“ wirken sollte. Ruiz, der während der Revolution den Decknamen „Modesto“ (der Bescheidene) trug, schien dafür der geeignete Mann. Doch schon vor dem Parteitag ist klar, daß sich Anhänger von Sergio Ramirez (unter ihnen Dora Maria Tellez, Luis Carrion, Herty Lewites und William Ramirez) nun um Henry Ruiz scharen werden, um ihre Gegnerschaft zu Ortega und den sandinistischen Linken auszudrücken. Damit hatten sich de facto die drei „Strömungen“ auf wieder nur zwei reduziert, die beide ihren Kandidaten für den neuen Generalsekretär ins Rennen schickten. Daniel oder Modesto – auf diese Kurzformel war also das Dilemma des Parteitages zu bringen.

So ist es auch diese stark personalisierte Konstellation, die den Sitzungen im „Olof“ das Gepräge gibt: Der Parteitag geht nicht von einer inhaltlichen Analyse der nationalen und inneren Situation in der FSLN aus, wie man es eigentlich erwartet hätte, er „stürzt“ sich vielmehr auf die Statutendiskussion. Alle wissen, daß damit die Weichen für spätere Personalentscheidungen gestellt werden. Zufall oder nicht, erst am Nachmittag des letzten Versammlungstages wird mit der Diskussion zur Präzisierung des Parteiprogramms begonnen. Die von den Delegierten mehrfach zur Rede über ihr politisches Verhältnis zueinander aufgeforderten Hauptprotagonisten der drei „Strömungen“, Ortega, Ruiz und Ramirez, schweigen. Als die Emotionen zu eskalieren drohen, nimmt Tomas Borge, der beeindruckend souveräne Versammlungsleiter, eine „Auszeit“, um dem Forum dann mitzuteilen, daß er mit den „Dreien“ gesprochen und ihr Bekenntnis zur Einheit der FSLN eingeholt habe.

Borge ist es auch, der gewissermaßen in persona für den ersten Abstimmungshöhepunkt steht: Der Vorschlag, die Funktion des Präsidenten der FSLN einzuführen und diese an die Person des letzten noch lebenden Gründungsmitgliedes Borge zu binden, findet genau so viele Befürworter wie Gegner – jeweils 189. Borge vermeidet eine zweite (peinliche) Wahlrunde, indem er von vornherein von einer solchen Funktion zurücktritt. Das Abstimmungsergebnis läßt offen, ob die Vorbehalte gegen die Funktion eines Präsidenten der FSLN als solcher, gegen die Person Borges, oder gar gegen die „demokratische Linke“ insgesamt, zu der Borge ohne Zweifel gehört, gerichtet sind. Die Presse wertet am nächsten Morgen die Abstimmung prompt als „die schlimmste Niederlage Borges in seiner Laufbahn“ und wird sich in den Morgenstunden des 23. Mai wundern müssen, als bekannt wird, daß derselbe Borge bei der Wahl der Mitglieder der Nationaldirektion mit 335 Stimmen die höchste Stimmenzahl erreicht. Schritt für Schritt nimmt die weitere Diskussion um das Statut die spätere Entscheidung zwischen den beiden Kandidaturen um den Posten des Generalsekretärs vorweg: Der Antrag, die „Strömungen“ statutarisch zu definieren, wird unter Verweis auf den allgemeineren Passus über die Möglichkeit freier Meinungsäußerung abgelehnt. Der Vorschlag, die „Dirección Nacional“ in „Consejo Nacional“ umzubenennen, findet ebensowenig mehrheitliche Zustimmung. Als Henry Ruiz nicht erreichen kann, daß die Anzahl der Mitglieder der Nationaldirektion von neun auf 21 (man einigt sich statt dessen auf 15) erhöht wird und schließlich der vielumstrittene Begriff „vanguardia“ (Avantgarde) als Bezeichnung für die FSLN Eingang in das Programm findet, ist klar, wie die Gewichte hängen.

Bei der Abstimmung über die Kandidaten der nationalen Liste für die Asamblea Sandinista erreicht Daniel Ortega vor Tomas Borge die höchste Stimmenzahl. Ortegas Kontrahent Henry Ruiz rangiert auf dem achten Platz. (Die auf der Liste der Territorien aufgestellte Gloria Baez erreicht allerdings eine noch höhere Stimmenzahl als beide nationale Spitzenkandidaten.)

Ebenso an achter Stelle ist Ruiz auch im Abstimmungsverfahren über die zukünftigen 15 Mitglieder der Nationaldirektion zu finden. Hier stehen Borge und Ortega an der Spitze. Die Überraschung wird allerdings spätestens dann perfekt, als sich herausstellt, daß Sergio Ramirez, der Hauptprotagonist der „Erneuerer“, es nicht einmal geschafft hat, in die Nationaldirektion gewählt zu werden. Es ist kein gutes Zeichen, wenn daraufhin ihre Anhänger, als der alte und neue Generalsekretär Daniel Ortega in den späten Morgenstunden des 23. Mai sein Schlußwort hält, den Saal verlassen. Als Chef der FSLN-Fraktion im Parlament und als Mitglied der Asamblea Sandinista wird Sergio Ramirez um eine enge Kooperation mit der Leitung nicht herumkommen.

Das hier zu ziehende Resümee des in Nikaragua insgesamt vielbeachteten Parteitages ist ambivalent, Enttäuschung und Hoffnung halten sich die Waage:

Einerseits blieb die Einheit der FSLN, die unverzichtbar ist, um den Wahlkampf 1996 mit Chancen aufzunehmen, zumindest auf dem Parteitag gewahrt. Andererseits kann sich der Beobachter nicht des Eindrucks erwehren, daß zu vieles verschwiegen, unter den Teppich gekehrt oder in der Lobby entschieden wurde. Einerseits beeindruckten die politische Reife, die Konzentration und die Transparenz der Diskussion unter der auf dem Parteitag vertretenen Basis, andererseits durften die „Chefs“ schweigen und wurden heiße Eisen wie die „piñata“ kaum angefaßt. Einerseits war der Wille der Basis zur Einheit das „Markenzeichen“ des Parteitages, andererseits ist die Entscheidung darüber vertagt, ob personelle Kontinuität an der Spitze (dabei ist jedoch zu beachten, daß 55% der Asamblea Sandinista neugewählt sind) demokratische Erneuerung ausschließt.

Immerhin hat auch Ortega tiefgreifende Veränderungen in der FSLN gefordert. Bleibt die Frage, ob die Verfechter einer Demokratie der Wahlen mit den Befürwortern der Demokratisierung des Eigentums, die Vertreter eines eher nationalen Projekts mit denen, die ein Projekt des Volkes favorisieren, bzw. diejenigen, welche die Macht ersehnen, die von der Revolution träumen, nicht doch zu einem pluralistischen und kreativen Projekt zusammenzuführen sind.

Erste im Statut fixierte Demokratisierungsfortschritte innerhalb der Frente hat auch der Parteitag selbst erbracht: Eine Frauenquote von 30% für alle FSLN-Organe wurde festgelegt und eine l0prozentige Quotierung für Jugendliche für die nächsten Wahlen avisiert. Damit ist die Chance für eine Frauenquote von 50% zunächst zerronnen, doch der Fortschritt ist unleugbar. Die FSLN ist nicht mehr, wie einst in den Bergen, eine Partei der muchachos (Jungen). Drei Mitglieder der Nationalleitung kommen nunmehr von der Atlantikküste, die seit der sandinistischen Regierung das „Sorgenkind“ und somit der Prüfstein für die Erneuerung der FSLN-Politik ist. Es war durchaus symptomatisch, daß mit Shafiq Handal der Generalkoordinator der salvadorianischen FMLN auf dem Parteitag der FSLN einziger ausländischer Redner war; FSLN und FMLN eint nun die gemeinsame Schwierigkeit, nach einer Wahlniederlage als stärkste Oppositionskraft im Sinne der friedlichen Fortführung eines von ihnen ursprünglich mit revolutionärer Intention in Gang gesetzten gesellschaftlichen Wandels zu agieren. Einheit und demokratische Selbsterneuerung der Frente sind dafür die unerläßliche Bedingung.

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