Im Gegensatz EU vielen anderen sind Sie der Meinung, daß die Landung von Kolumbus in Amerika nicht nur eine Eroberung und Zerstörung der Neuen durch die Alte Welt, sondern auch die Begegnung zweier Kulturen war. Verharmlosen Sie damit nicht das millionenfache Leid und die tatsächliche Zerstörung indianischer Kulturen?
Wie Sie wissen, wurde mir diese Frage schon oft gestellt. Ich bin aber gerne bereit, mich hier noch einmal über den langen Prozeß der Begegnung zweier Welten zu äußern. Ich möchte an dieser Stelle nicht darauf eingehen, wie wir zu unserem Standpunkt kamen, als es um die Koordinierung der „Mexikanischen Kommission der Begegnung zweier Welten“ ging, doch möchten wir die einheimischen Völker und Kulturen berücksichtigen, in dem, was Zusammenstoß, Konfrontation und Tragödie bedeuteten. Dabei sehen wir auch die Folgen dieser Konfrontation: den Dialog, die Rassenvermischung. Zweifelsohne sind wir ein Resultat dieses Prozesses. Wir können uns nicht über diese Realität hinwegsetzen. Wir werden dieses Datum nicht feierlich begehen, wir werden der Opfer dieser Begegnung gedenken. Ich kann des Todes meiner Eltern gedenken, aber ich werde ihn nicht feiern. Gedenken heißt, etwas in Erinnerung rufen, um es zu analysieren. Darüber habe ich schon oft geschrieben.
Wie waren die Reaktionen in der UNESCO auf ihre Initiative?
Während meiner Anwesenheit in der UNESCO habe ich ermöglicht, daß diese Auffassung zu einer globalen Konzeption wurde. Die mexikanische Delegation stellte diese Denkweise vor, um die UNESCO zur Teilnahme an der Gedenkfeier zu bewegen. Dieser Vorschlag wurde erst dem Exekutivrat, danach der Generalkonferenz vorgebracht, und in beiden Fällen einstimmig bestätigt. Am Anfang gab es verschiedene Gruppen, z.B. Vertreter aus Afrika, die sich nicht für unser Anliegen interessierten. Im Gegenteil, sie lehnten dieses Datum ab, weil es den Beginn einer neuen Proliferation der Sklaverei bedeutete. Wir erklärten ihnen, daß wir nichts feiern, sondern daß wir die Sklaverei, auch die gegenwärtig getarnte Sklaverei, analysieren und mit ihnen zusammen und anderen Fachleuten die Bedeutung der Afrikaner in der Neuen Welt diskutieren würden. Danach waren sie sehr interessiert.
Welche Folgen ergaben sich aus dieser Diskussion?
In diesem Jahr wird eine von der UNESCO unterstützte Versammlung „Afro-Amerika“ stattfinden. Ihr Ziel ist es abzuschätzen, welche Bedeutung der Präsenz Afrikas in der Neuen Welt zukommt. Ohne deren Berücksichtigung kann man die USA und Brasilien z.B. nicht verstehen. Auch in Mexiko gibt es, obwohl eine Vermischung der Rassen stattgefunden hat, Spuren eines tiefgreifenden afrikanischen Einflusses. Davon zeugen beispielsweise viele Ortsnamen. Mocambo, Mandinga, Yanga sind Worte aus dem Afrikanischen. Die UNESCO hat einstimmig beschlossen, ein Programm, das diese Ansichten beinhaltet, zu erstellen. Wir verstehen „Begegnung“ als Konfrontation, als Zusammenstoß, aber auch als Annäherung und Dialog. Von zwei Welten zu sprechen, heißt, sich auf zwei Erdhalbkugeln zu beziehen und nicht wie einige Leute fälschlich noch sagen: „Amerika und Europa“. Die Alte Welt besteht aus der anderen Erdhalbkugel: Europa, Asien und Afrika.
Gib es andere Initiativen zu diesem Thema?
Die UNESCO hat ein anderes Programm, „Amerindia 92“, in Angriff genommen. In verschiedenen Ländern fanden dazu Konferenzen statt: in KANADA, GUATEMALA, CHILE. In Mexiko gab es letztes Jahr eine in Chiapas. Im Juli dieses Jahres wird in Oaxaca getagt. An diesen Treffen nehmen Indianer und andere Vertreter unterschiedlicher Gruppen teil und stellen ihre Probleme und Ansichten dar. Es wird über den Zusammenstoß der beiden Kulturen und dessen Auswirkungen diskutiert, wobei aber auch die Gegenwart und Zukunft nicht außer Acht gelassen werden. Manche mögen sich fragen, was nutzt das alles? Die letzte Versammlung, die wir vergangenen Juni in San Cristobal las Casas (Chiapas) veranstalteten, brachte als abschließendes Ergebnis die Amerindia-Erklärung. Da gab es Vertreter von Kanada bis Argentinien, aus Chile, Mexiko und selbstverständlich auch aus Peru und Brasilien. Anwesend waren auch bekannte Anthropologen wie Darcy Ribeiro, Luis Lumbreras aus Peru, Guillermo Buenfil etc.
Worum ging es bei dieser Erklärung?
Der Dialog war fruchtbar. In der Erklärung wurde das Recht auf die uralten Lebensräume bekräftigt, das Recht auf die Bewahrung der eigenen Identität, der Kultur, der Landessprache; das Recht darauf, neue Wege zu gehen, um eine Öffnung für die moderne Technologie, eine effektive Beteiligung an diesem Prozeß zu erreichen. Sie beinhaltet außerdem die Bekräftigung, daß die indianischen Völker die ursprünglichen Völker der Neuen Welt sind. Vielleicht werden sie mich fragen, was kommt nach alldem? Diese Erklärung wurde dem Präsidenten Saunas de Gortari überreicht. Er bot formell an, diese den iberoamerikanischen Präsidenten auf ihrem Treffen in Guadalajara vorzustellen. Die Erklärung der Präsidenten in Guadalajara beinhaltet danach zwei Abschnitte, in denen sie die Verpflichtung eingehen, die Indianer zu schützen, ihre uralten Rechte auf das Land sowie die indianische Identität und Sprache zu respektieren. Ein spürbarer Gewinn ist es, daß der Präsident Saunas den Abgeordneten- und Senatorenkammern eine Modifizierung der Verfassung vorgeschlagen hat. Diese wurde, soweit ich weiß, genehmigt. Darin ist nun verankert, daß die Sprachen der einheimischen Völker unseres Landes – insgesamt über fünfzig -gleichberechtigt neben dem Spanischen akzeptiert sind. Das bedeutet, daß sie in jedem Bereich der Gesellschaft den gleichen Wert besitzen wie das Spanische, daß sie in jeder Situation benutzt werden können, auch auf juristischem Gebiet. Es gibt außerdem die Möglichkeit, Unterricht in der Heimatsprache zu erhalten, wenn man dies wünscht. Auch können andere Rechte, die sich von der offiziellen Anerkennung der Sprachen, der eigenen Identität, der Weltanschauung und der traditionellen religiösen Praxis ableiten, durchgesetzt werden. Ich denke, daß das ist ein wichtiger Schritt ist. „Amerindia ’92“, das Fünfte Jahrhundert, eröffnet uns die Möglichkeit, die Probleme von heute und morgen anzufassen, das zu tun, was wirklich wichtig ist.
Wie beteiligen sich andere Länder, die nicht so unmittelbar mit dem Ereignis 1492 verknüpft sind, an der Diskussion?
Die UNESCO hat ein weiteres Programm: „Kettenbegegnung“ heißt es und soll an eine Art Kettenreaktion erinnern. Es sollen damit der Moment und die Folgen der Verwicklung anderer Länder, die ursprünglich an dieser Begegnung zweier Welten nicht beteiligt waren und sich ähnlich wie bei einer Kettenreaktion nach und nach eingeschaltet haben, analysiert und eingeschätzt werden. Wann kamen z. B. die Deutschen, die Polen, die Russen, die Skandinavier, die Perser, die Argelier, die Afrikaner, die Chinesen, die Japaner nach Amerika? Ich versichere Ihnen, daß diese Fragen großes Interesse hervorgerufen haben. Die Japaner sagten: In Colóns Vorstellung, der in Cipango ankommen wollte, waren wir von Anfang an einbezogen. Aber wann waren sie tatsächlich in den Austausch von Lebensmitteln, Arzneimitteln, Tieren und sogar von Technologien einbezogen?
Verschiedene Länder, unter anderem Frankreich, haben Gedenkkommissionen gegründet. Die französische Nationalkommission heißt: „De la Recontre des deux Mondes“. Ähnliches gibt es in Japan, Polen, Rußland und verschiedenen Staaten Lateinamerikas. Indem die Idee von „Begegnung“ aufs stärkste verallgemeinert wird, berücksichtigt man die Indianer als Hauptdarsteller bei diesem Zusammenstoß der Kulturen, der Tragödie, dem Drama; und später auch im Austausch und in der Annäherung. Daß es so war, können wir nicht leugnen. Wenn es tragische Seiten gegeben hat, gibt es sie heute noch. Darum denken wir über die Aktualität dieser Ereignisse nach.
Aus diesen Reflexionen, Konferenzen, Publikationen, Dialogen und Erklärungen werden sich andere ableiten, die unser Schicksal als amerikanische Völker, das Schicksal der 40 Millionen Indianer, beeinflussen werden. Für mich ist es unvorstellbar, daß vor fünfhundert Jahren die eine Hälfte der Menschheit auf einer Hemisphäre nicht wußte, daß es eine andere Hälfte auf der anderen Hemisphäre gab. Sie werden nicht als Einzelereignisse, sondern in einem wirklich universalen Rahmen wirken. Es würde unvorstellbar sein, daß sich eine internationale Organisation wie die UNESCO, in der 164 Länder vertreten sind, von dem Phänomen, daß die Globalisierung der Menschheit gekennzeichnet hat, abwenden würde.
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Dr. Miguel Leßon-Portilla ist der Vertreter Mexikos in der UNESCO. Er ist einer der bekanntesten Verfechter der umstrittenen These von der „Begegnung zweier Kulturen“, mit der er sich allgemein vertretenen Auffassungen über die Geschichte Lateinamerikas entgegensetzt. Folgender Beitrag ist ein Auszug aus einem umfangreichen Interview, das er der mexikanischen Universitätszeitschrift der UNAM gab.