Während sich in den Anfängen der Corridokultur der Corridista, der Corrido-Interpret, meist selbst auf der Gitarre begleitete, bilden heute „bandas y grupos norteños“ (aus dem Corrido Las dos Hectáreas) mit Zupf-, Schlag-, vereinzelt auch Blasinstrumenten und dem Akkordeon als vorherrschendem Merkmal den Rahmen, in dem der Corridista den Corrido präsentiert. Der Corrido folgt einer einfachen Melodie im 2/3- oder 3/4-Takt mit Tonika, Dominante und Subdominante und setzt sich aus mehreren Versen mit vier, in der Mehrzahl jedoch sechs Zeilen à acht Silben zusammen. Kehrverse können auftreten, dies ist jedoch nicht die Regel. Während der aus den 1920er Jahren stammende Corrido de narcotráfico El Contrabando de el Paso noch aus zwei Teilen mit je neun bzw. zehn Versen bestand, wurde die Länge moderner Corridos dem gängigen Drei-Minuten-Format der Musikindustrie angepasst. Wie der Klassiker Contrabando y Traición zeigt, dominiert der Endreim, der sowohl in unreiner al auch in reiner Form auftreten kann.
Unreine Form
Sonaron siete balazos
Camelia a Emilio mataba
la policía sólo halló
una pistola tirada
Deutsche Übersetzung
Es ertönten sieben Schüsse
Camelia tötete Emilio
Die Polizei fand nur
eine weggeworfene Pistole
Reine Form
A Los Ángeles llegaron
a Hollywood se pasaron
en un callejón oscuro
las cuatro llantas cambiaron
ahí entregaron la hierba
y ahí tan bien les pagaron
Deutsche Übersetzung
Sie kamen in Los Angeles an
und fuhren weiter nach Hollywood
In einer dunklen Gasse
wechselten sie die vier Reifen
Dort übergaben sie das Gras
und dort wurden sie gut bezahlt
In der Regel folgt der Reim dem Muster ABCBDB, wobei der letzte Reim, gleichzeitig die letzte Silbe, eines Verses während der Interpretation des Corridos für gewöhnlich besonders betont und in die Länge gezogen wird. Es liegt auf der Hand, dass die Wortwahl durch die Reimform beeinflusst wird. Auch die Verwendung der Tempora muss sich dem Ziel des Reims beugen, wie die Verwendung des Imperfekts „Camelia a Emilio mataba“ anstelle des bei allen anderen Verben dieser Strophe verwendeten Indefinidos (mató) zeigt.
Die chronologische Progression ist das entscheidende Merkmal eines jeden Corridos. Daneben gibt es eine Reihe weiterer struktureller Elemente, die den Corrido charakterisieren, jedoch nicht obligatorisch sind. Nach McDowell (1972) sind dies
• eine Einleitung oder Begrüßung des Publikums, ggf. mit der Bitte um Aufmerksamkeit,
• die Vorstellung der Protagonisten und deren Herkunft, teilweise auch unter Angabe des Zeitpunktes des Geschehens,
• die Berichterstattung über das Ereignis bzw. die Ereignisse,
• die Verabschiedung des Protagonisten,
• die Verabschiedung des Corridistas.
Duvalier fügt noch den Punkt der Botschaft bzw. der Warnung hinzu, ein Punkt, den auch Edberg bei McDowells Definition vermisst. Nur in seltenen Fällen werden all diese Elemente in einem Corrido bedient. La Reina del Sur von den Tigres del Norte vereint jedoch ausreichend viele dieser Charakteristika, um in gekürzter Fassung als veranschaulichendes Beispiel zu dienen.
Einleitung / Begrüßung
Ich singe jetzt einen Corrido
hört gut zu, meine Freunde
Für die Königin des Südens
berühmte [Drogen-]Händlerin
Vorstellung des Protagonisten
Geboren dort in Sinaloa
die Tante [Frau] Teresa Mendoza
[…]
Epifano Vargas sprach
Teresa, du fliehst Berichterstattung
Ich habe einen Freund in Spanien
er kann dort auf dich warten
Er schuldet mir einige Gefallen
und muss dir helfen
[…]
Verabschiedung des Protagonisten
Eines Tages verschwand
Teresa, la Mexicana [die Mexikanerin]
Manche sagen, sie sei im Gefängnis
andere, sie lebe in Italien
In Kalifornien oder Miami
in den Vereinigten Staaten
Worin unterscheiden sich kommerzielle Narcocorridos und Auftragsarbeiten?
Die US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin Helena Simonett unterteilt den Narcocorrido in zwei Kategorien. Zum einen nennt sie den kommerziellen, für die Öffentlichkeit und den Verkauf bestimmten Narcocorrido comercial und zum anderen den auf die Wünsche eines Kunden mit Verbindungen zum Drogenhandel zugeschnittenen Narcocorrido privado/por encargo, der für das Privatvergnügen und nicht für die breite Masse bestimmt ist. Solche Auftragsarbeiten waren ursprünglich nur in einschlägigen Clubs zu hören oder fanden sich auf selbst zusammengestellten Samplern auf dem Schwarzmarkt. Seit den 1990er Jahren wurden jedoch auch große Plattenfirmen wie Capitol Records (EMI Latin) auf diese Arbeiten, die durch ihre vermeintliche Exklusivität attraktiv erscheinen, aufmerksam, weshalb einzelne dieser Werke entgegen ihrer ursprünglichen Bestimmung veröffentlicht wurden.
Kommerzielle Narcocorridos
Kommerzielle Narcocorridos (narcocorridos comerciales) werden von professionellen Komponisten angefertigt. Mit dem Komponisten interpretiert ein Außenseiter Geschehnisse, über die in den Medien bereits berichtet wurde. Anstelle einer realen Person werden Stereotype beschrieben, die sich an dem Vorbild des großzügigen Banditen orientieren. Tatsächlich finden sich in kommerziellen Corridos selten die Namen real existierender Personen und wenige genaue Ortsangaben. Die Annahmen Simonetts werden auch durch eine Aussage der Tigres del Norte in einem Interview aus dem Jahre 1996 gestützt: “Wir betreiben Marktforschung, um herauszufinden, was die Leute diesbezüglich [bzgl. eines Themas] fühlen, wir verwenden Worte, die das Publikum versteht […] wir versuchen, die Geschichten komplett wahrheitsgetreu darzustellen.”
Alternativ entspringt die Geschichte der Narcocorridos gänzlich der Vorstellungskraft des Komponisten, wie im Falle des bekannten Contrabando y Traición. Gleichwohl der Journalist César Güemes die wahren Helden, die als Inspiration für diesen Corrido gedient haben sollen, ausfindig gemacht haben will, bestätigt der Komponist des Stückes die Fiktionalität der Geschichte, die bereits von Enrique Franco, ebenfalls Komponist für Los Tigres del Norte, unterstellt worden war. Franco bezog sich dabei auf die Textstelle „die Reifen des Wagens / waren voller Marihuana.“
“Weißt du, was an Marihuana in die Reifen eines Autos passt? Das hätte nicht mal für den Sprit gereicht.” Die sowohl bei Interpreten, als auch bei Komponisten beliebte Behauptung, „en ellos [los narcocorridos] se canta la pura verdad“ (aus dem Corrido Jefe de Jefes), in den Narcocorridos sänge man die reine Wahrheit, ist im Hinblick auf diese Aussagen und unter Berücksichtigung der Maßeinheit des Erfolgs in der Plattenindustrie, nämlich die Verkaufszahlen, nicht haltbar. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass aus der Tatsache, dass die in den kommerziellen Narcocorridos wiedergegebenen Ereignisse nicht auf konkreten Begebenheiten basieren, nicht zu folgern ist, Narcocorridos hätten keinerlei Bezug zur Realität.
Auftragsarbeiten
Im Gegensatz zum medial geprägten Bild der Narcocultura, das sich in kommerziellen Corridos (narcocorridos privados/ por encargo) widerspiegelt, verarbeitet der Komponist eines für den privaten Gebrauch bestimmten Corridos Informationen, die er aus erster Hand direkt von seinem Auftraggeber erhält. Die Motive, die hinter einem solchen Auftrag stehen können, sind vielfältig. Der Corrido als Statussymbol wird von der betreffenden Person meist selbst in Auftrag gegeben. Aber auch Verwandte oder enge Vertraute können einen Corrido in Auftrag geben, beispielsweise als Hommage an einen Verstorbenen:
Er, der sich diesen Corrido wünscht
er mit dem geheimen Code
Ich weiß, dass ihr sehr gute Freunde
und unzertrennlich wart
Er lässt mich ausrichten
dass dein Tod gerächt wurde
Chango Ávilez
Im Gegensatz zu kommerziellen Corridos sind Erzähler und Held der Geschichte durch Verwendungen der ersten bzw. dritten Person Singular deutlich voneinander getrennt:
Ich werde nicht von Tragödien sprechen
auch nicht von berühmten Verstorbenen
Den Corrido widme ich
einem guten Geschäftsmann
Der ihn live hören will
damit er sich stolz fühlen kann
Joaquín Santana
Diese privaten Corridos glorifizieren den Drogenbaron und präsentieren ihn als ehrenwerten, großzügigen, kompetenten, intelligenten und mutigen, bei Freunden beliebten und von Frauen begehrten, heimatverbundenen Mann:
Das Dorf Los Vasitos
liegt ihm sehr am Herzen […]
An die Colonia Sinaloa
erinnert er sich immer
dort ist er aufgewachsen
und lernte, was Ehre ist
Wence Carillo
Er hat gut Freunde
denn er ist respektvoll
Oft spielt eine Kapelle für ihn
oder diese Musikgruppe
die Frauen umschwärmen ihn
denn er ist ein besonderer Mann
Amador García
Live-Darbietungen nordmexikanischer Volksmusik sind ein fester Bestandteil größerer Festivitäten im Drogenmilieu. Aufgrund der engen Kontakte zwischen Komponist, Interpret und Auftraggeber gewähren private Corridos dem Rezipienten einen einmaligen Blick in die Selbstwahrnehmung der Drogenhändler. Der Komponist und der Auftraggeber verkehren in der Regel in den gleichen gesellschaftlichen Kreisen und teilen ähnliche Werte und Moralvorstellungen, was zu einem Grundton von Normalität in diesen Corridos entscheidend beiträgt.
Die in Auftragsarbeiten und kommerziellen Narcocorridos behandelten Motive und das durch beide Kategorien vermittelte Weltbild stimmen miteinander überein. Es ist deshalb dieser Aspekt der Normalität und Vertrautheit, der die Auftragsarbeit von einem kommerziellen Narcocorrido unterscheidet.
Literatur:
Edberg, Mark Cameron (2001): El narcotraficante: narcocorridos and the construction of a cultural persona on the U.S.-Mexico border. Austin: University of Texas Press.
Hernández, Guillermo (2000): „El corrido ayer y hoy.“ In: Valenzuela Arce, José Manuel [Hrsg.] (2000): Entre la magia y la historia: tradiciones, mitos y leyendas de la frontera. México, D.F.: Plaza y Valdés.
Hernández, Guillermo (2005): „En busca del autor de ‚El contrabando de El Paso‘.“
In: Aztlan: Journal of Chicano Studies, Nr. 30: http://www.chicano.ucla.edu/center/events/documents/hernandezarticle.pdf
Herrera-Sobek, María (1993): Northward bound – the Mexican Immigrant Experience in Ballad and Song. Bloomington [u.a.]: Indiana University Press.
Massard, Noemïe (2005): „El narcocorrido mexicano: Expresión de una sociedad en
crisis.“ In: La Siega, Nr. 2, Februar 2005: http://www.lasiega.org/entrega2/entrega2_9.pdf
Ramírez-Pimienta, Juan Carlos (2004): „Del corrido de narcotráfico al narcocorrido: Orígenes y desarrollo del canto a los traficantes.“ In: Studies in Latin American Popular Culture. Special issue on border culture, Nr. 23, 2005.
Simonett, Helena (2001): Mexican Musical Life across Borders. Middletown: Wesleyan University Press.
Simonett, Helena (2004): „Subcultura musical: el narcocorrido comercial y el narcocorrido por encargo.“ In: Caravelle: cahiers du monde hispanique et lusobresilien, Nr. 82, 2004.
Valenzuela Arce, José Manuel (2002): Jefe de Jefes – Corridos y Narcocultura en Mexico. México, D.F.: Plaza y Janés.
Wald, Elijah (2001): Narcocorrido – A Journey into the Music of Drugs, Guns and
Guerrillas. New York: HarperCollins.
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Bildquellen: [1] Paul Lowry; [2] Quetzal-Redaktion, tp
Die „Goldene Epoche“ der Musik in Mexiko war zwischen 1940 und 1967. Um diese Epoche zu „verstehen“ und die Qualitaet der Kuenstler zu hoeren, kann man viele youtube Videos unter ihren Namen studieren: JAVIER SOLIS, JOSE ALFREDO JIMENEZ, PEDRO VARGAS, AGUSTIN LARA, ARMANDO MANZANERO (als Komponist noch heute aktiv ). MARIACHI VARGAS und BANDA DEL RECODO – waren schon damals beruehmt und sind heute noch in ihrer Musikform fuehrend. VINCENTE FERNANDEZ erschien erst spaeter aber hat die Qualitaet fortgesetzt. Zwei klassische mexikanische Komponisten welche Europa seit dieser Zeit das philharmonische Publikum in Europa erobert haben sind ARTURO MARQUEZ (Danzon No. 2), und JUAN PABLO MONCAYO (Huapango).