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Der mexikanische Narcocorrido – Teil 1: Definition und Entwicklung

Lisa Rüth | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten
Mexiko - Der mexikanische Narcocorrido (375 Downloads )

Im ersten Band des 1989 erschienenen Werkes Historia de las drogas erläutert der Autor Antonio Escohotado die Etymologie des Wortes narcótico. Es sei auf das altgriechische narkoun zurückzuführen und bedeute „lindern“, „beruhigen“ oder „in Schlaf versetzen“. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei der Begriff in der spanischsprachigen Welt wertfrei und vorwiegend im rein pharmazeutischen Sinne verwendet worden. Erst seit einem knappen Jahrhundert werde der Begriff in erster Linie mit Betäubungsmitteln im juristischen Sinne [1], die betäubende oder aufputschende Wirkungen hervorrufen, in Zusammenhang gebracht. Mit diesem Wandel ging die Behaftung des Begriffs mit einer moralisch negativen Konnotation einher.

Los Tigres del Norte bei Vive Grupero (Foto: Fernando Messino)Das spanische Wort corrido leitet sich ab vom Verb correr für „fließen“ oder „rennen“. Tatsächlich ist eines der Charakteristika des typischen Corridos die klare Erzählstruktur ohne Umschweife. Der Corrido ist ein mexikanisches Volkslied, dessen Erzählcharakter ihn von anderen Volksliedern Mexikos, beispielsweise Décimas und Danzas, denen in der Wissenschaft vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt wird, abgrenzt. Eine ausführliche Definition des Genres findet sich bei Serrano Martínez, der sich dabei u.a. auf den für seine Verdienste um die mexikanische Folklore bekannten Musikwissenschaftler Vicente T. Mendoza stützt:

„…der mexikanische Corrido ist […] ein episch-lyrisch-tragisches Genre […] Auf einfache und verständliche Weise berichtet er über alles, was das Volk tief bewegt: Aufstände, Überfälle, Kämpfe, Katastrophen, Morde, Heldentaten, Geschichten über Banditen, aufsehenerregende Verbrechen, Erschießungen, Liebesgeschichten, Militärputsche, Entgleisungen etc.“ (Serrano Martínez 1973; zit. bei Astorga 1995, S. 92)

Woher kommt der Corrido?

Die Ursprünge des Corridos sind umstritten. Der mexikanische Soziologe Valenzuela verweist auf die Ansätze von Garibay, de Maria y Campos und Colín, die die Ursprünge des Corridos indigenen Völkern, insbesondere der Náhuatl-Poesie, zuschreiben und jeglichen spanischen Einfluss abstreiten. Damit stellen diese Autoren eine Minderheit in der Fachwelt dar, ebenso wie Serrano Martínez, der den Corrido der mestizischen Kultur zuordnet. Die meisten Wissenschaftler scheinen mit Mendoza übereinzustimmen, der die epischen Charakteristika der Corridos als Erbe der spanischen Romanzen interpretiert, die Geschichten aus dem Volk für das Volk erzählten. Auch Simmons und Paredes sehen diese Romanzen als einen der Vorläufer des heutigen Corridos. Hinsichtlich der Entwicklung des Genres vertritt Paredes jedoch, anders als Mendoza und Simmons, die Ansicht, der Corrido habe sich in der Grenzregion Mexiko-USA und nicht nur in Mexiko selbst entwickelt. Da Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich eine auffallend hohe Anzahl Corridos, wie wir sie heute kennen, im Süden Texas’ entstand, erscheint Paredes’ Theorie schlüssig.

Wie stellt sich die Entwicklung vom Corrido zum Narcocorrido dar?

Die in den ersten Corridos behandelten Themen und Motive waren Nachkriegskonflikten (Mexikanisch-Amerikanischer Krieg 1846-1848) zwischen Mexikanern und Siedlern auf der US-Seite, el otro lado, der Grenze entnommen. In einer mehrheitlich aus Analphabeten bestehenden Gesellschaft fungierte der Corrido als Chronik, Zeitung und Interpretation gesellschaftlicher, kultureller und politischer Veränderungen und Ereignisse, ganz gleich ob von regionaler oder nationaler Bedeutung. Bereits in der Frühphase des Corridos (ca. 1850-1890) finden sich zahlreiche heroisierende Werke, beispielsweise über die ruhmreichen Taten des Banditen/ Volkshelden/ Generals Juan Cortina. Während des Porfiriats [2] gewann der Corrido zusehends an Bedeutung: Jedes Ereignis, das für das Volk von Bedeutung war, wurde in einem Corrido verarbeitet und auf den Plazas der Städte und Dörfer besungen und verbreitet. Banditen, die gegen die Diktatur kämpften, wurde der Robin-Hood-Faktor – von den Reichen nehmen und den Armen geben – zuteil. Ihre Taten wurden besungen, und die Rebellen wurden zu den ersten bedeutenden Helden der gesamtmexikanischen Corridokultur.

Als kreativste Schaffensperiode kann die Zeit der mexikanischen Revolution (1910-1920) betrachtet werden, während derer sich der Corrido als geeignetstes Mittel manifestierte, den aktuellen Geschehnissen Ausdruck zu verleihen und sie zu verarbeiten. Los Tucanes de Tijuana bei Vive Grupero 2010 (Foto: Fernando Messino)Dem Corrido wurde und wird nicht nur die Funktion eines Mediums zur Nachrichtenübermittelung zuteil, im Gegenteil, er verarbeitet bereits bekannte Ereignisse und ist, auf die bäuerlichen und ärmeren Bevölkerungsschichten bezogen, auch ein Medium zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls. Durch die Verarbeitung bekannter Motive und Themen, wie Konflikte mit den USA, der wohlhabenden Oberschicht oder der Regierung, trägt der Corrido zur Bildung und Stärkung des Nationalbewusstseins, Nationalstolzes, aber auch zu Bewusstsein und Stolz auf die eigene Herkunft, die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht und einer sozialen Gruppe bei. Die vielfältigen Funktionen und die zentrale Stellung des Corridos in der bäuerlichen, ärmlichen Bevölkerung nach der Revolution waren auch der regierenden Oberschicht bekannt. Aus diesem Grund versuchte das Bildungsministerium, den Corrido für politische Zwecke zu instrumentalisieren und ließ eigene Propagandacorridos mit regierungsfreundlichem Inhalt komponieren, denen in der Erforschung des Genres jedoch wenig Beachtung geschenkt wird.

In den 1920 und 1930er Jahren motivierte die US-amerikanische Prohibition und das damit aufblühende Gewerbe des Alkoholschmuggels eine damit verbundene neue Corridogattung – die Schmuggelcorridos Corridos de contrabando. Corridos wie Los Tequileros, El Contrabande de El Paso, oder El Corrido de los Bootleggers enthalten bereits einige jener Charakteristika, die auch für die späteren Corridos de narcotráfico, die sich nicht mit illegalen Handel von Alkohol, sondern von Betäubungsmitteln auseinandersetzen, typisch sein sollten, wie

1. eine Warnung:

Ich sage meinen Freunden
sie sollen es ruhig probieren
Sie sollen ruhig schmuggeln
mal sehen, wo sie landen

El Contrabando de El Paso

oder 2. eine Rechtfertigung:

Ich habe nachgedacht, meine Herren
Es gibt keine Arbeit mehr
Ich musste mein Glück versuchen
wenn der Herr es mir gewährt

El Corrido de los Bootleggers

So lange es Cantinas gibt
wird es so weitergehen
Denn der Arme ist im Gefängnis
und der Reiche vergnügt sich

El Corrido de los Bootleggers

Etwa um die gleiche Zeit wurde mit dem Titel Por Morfina y Cocaína von Manuel Valdez auch der erste Corrido vertont, der sich mit dem Schmuggel nicht von Alkohol, sondern anderer Drogen auseinandersetzte. Auch hier finden sich explizite Warnungen, wie auch in den Corridos mit Bezug auf den Drogenhandel El Contrabandista und Carga Blanca, einem der beliebtesten Corridos, der seit seiner Erstveröffentlichung in den 1940er Jahren mehrmals vertont wurde, u.a. von den Tigres del Norte und dem im Jahr 2006 erschossenen „Gallo del Oro“ (Goldener Hahn) Valentín Elizalde:

Nur wer verlebt hat
einige Zeit im Gefängnis
Weiß, was Leiden heißt
und Herzschmerz

Por Morfina y Cocaína

Lasst die krummen Geschäfte
Ihr seht ja, was passiert ist

Cargo Blanca

Auf die Zeit des Schmuggelcorridos folgte in den 1950er und 1960er Jahren ein abruptes Ende der Popularität des Corridos. Ramírez-Pimienta bringt dies mit dem mexikanischen Wirtschaftswunder in dieser Zeit in Zusammenhang. So wie die Wirtschaftskrise der 1980er und 90er Jahre viele capos in den Augen der Bevölkerung zu Helden gemacht habe, sei es durchaus möglich, dass die Jahre relativer sozialer und wirtschaftlicher Stabilität genau den gegenteiligen Effekt mit sich brachten. Der mexikanische Narcocorrido - Los Tigres del Norte (Foto: Fernando Messino)>>Es sei zwar nicht auszuschließen, dass Mitte des vergangenen Jahrhunderts Corridos komponiert und aufgenommen wurden, doch blieben sie nicht im kollektiven Gedächtnis verankert. Da die Wiedergeburt des Corridos in den 1970er Jahren und die seither andauernde und wachsende Popularität mit politisch und sozial instabilen Zeiten für die mexikanische Gesellschaft zusammenfällt, ist Ramírez-Pimientas eben erwähnte These nicht von der Hand zu weisen. Als Pioniere des neuen Corridos gelten die Mitglieder der erfolgreichen Gruppe Los Tigres del Norte und ihr 1970 erschienener, von Ángel González komponierter Corrido Contrabando y Traición – ein Klassiker des Genres. Die 1970er Jahre zählen zu den Blütezeiten des mexikanischen Drogenhandels, und das Publikum lechzte nach neuen, abenteuerlichen Schmuggelgeschichten. Contrabando y Traición war nicht der erste Corrido de narcotráfico, doch seine frische, neue Art grenzte ihn von anderen Corridos ab und setzte neue Maßstäbe in der Corridokultur:

Sie fuhren aus San Isidro raus
Sie kamen aus Tijuana
Die Reifen des Wagens
waren voller Marihuana
Es waren Emilio Varela
und Camelia, la Tejana [3]

Sie fuhren durch San Clemente
die Einwanderungsbehörde hielt sie an
Er verlangte ihre Papiere
und fragte: Woher kommen Sie?
Sie war aus San Antonio
eine leidenschaftliche Frau

Wenn eine Frau einen Mann liebt
kann sie ihr Leben für ihn geben
Doch Vorsicht ist geboten
wenn sich diese Frau verletzt fühlt
Verrat und Schmuggel
vertragen sich nicht

Sie kamen in Los Angeles an
und fuhren weiter nach Hollywood
In einer dunklen Gasse
wechselten sie die vier Reifen
Dort übergaben sie das Gras
und dort wurden sie gut bezahlt

Emilio sagt zu Camelia
Heute trennen sich unsere Wege
Mit deinem Anteil
kannst du ein neues Leben beginnen
Ich gehe nach San Francisco
mit meiner Herzensdame

Es ertönten sieben Schüsse
Camelia tötete Emilio
Die Polizei fand nur
eine weggeworfene Pistole
Von dem Geld oder von Camelia
hat man nie wieder etwas gehört

Eine Vorreiterin auf dem Gebiet der Corridoforschung ist Herrera-Sobek, die 1979 in ihrem Artikel “The Theme of Drug Smuggling in the Mexican Corrido” nach ausführlicher korpusbasierter Analyse von bis zur Mitte der 1970er Jahre entstandenen Corridos wie Carga Blanca, El Contrabando de El Paso, La Banda del Carro Rojo und Contrabando y Traición zu dem Ergebnis kam, dass der Corridista eindeutig Stellung bezieht: gegen Schmuggeln, insbesondere gegen Drogenhandel. Diese moralische Grundhaltung wird in den Corridos jener Zeit implizit oder explizit zum Ausdruck gebracht. In einer 2004 erschienenen Arbeit konnte Ramírez-Pimienta jedoch einen Wandel in den durch die Corridos vermittelten Werten feststellen. Der Drogenhandel wird nicht mehr verurteilt, sondern er wird vielmehr als eine fast patriotische Aktivität angesehen, beispielsweise im Corrido Las Divisas von den Huracanes del Norte, welcher den positiven Einfluss des Drogenhandels auf die mexikanische Wirtschaft hervorhebt. Diese Corridos stehen nicht mehr in der Tradition des Schmuggelcorridos und beschäftigen sich außer mit dem (illegalen) Handel nun auch mit den Händlern, den Konsumenten und der gesamten mexikanischen Drogenkultur. Dieser Wechsel markiert den Schritt vom Corrido de Narcotráfico zum Narcocorrido.

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Anmerkungen:
[1] Die medizinische Definition dieses Begriffs bezieht sich ausschließlich auf Substanzen mit betäubender und schmerzlindernder Wirkung. In diesem Artikel wird »Betäubungsmittel« lediglich im juristischen Sinne verwendet.
[2] Als Porfiriat bezeichnet man die Entwicklungsdiktatur unter dem Präsidenten und General Porfirio Díaz von 1876 bis 1880 und von 1884 bis 1911, gegen die sich die Bevölkerung mit dem Beginn der mexikanischen Revolution 1910 auflehnte.
[3] Die Texanerin.

Literatur:
Astorga, Luis (1995): Mitología del “Narcotraficante” en México. México, D. F.: Plaza y Valdés.
Hernández, Guillermo (2005): „En busca del autor de ‚El contrabando de El Paso‘.“ In: Aztlan: Journal of Chicano Studies, Nr. 30: http://www.chicano.ucla.edu/center/events/documents/hernandezarticle.pdf
Herrera-Sobek, María (1979): „The theme of drug smuggling in the Mexican corrido.“ In: Revista Chicano Riqueña, Nr. 4/1979. Gary.
Herrera-Sobek, María (1993): Northward bound – the Mexican Immigrant Experience in Ballad and Song. Bloomington [u.a.]: Indiana University Press.
Paredes, Américo (1988): With his pistol in his hand – A Border Ballad and Its Hero. Austin: University of Texas Press.
Paredes, Américo (2001): A Texas-Mexican Cancionero – Folksongs of the Lower Border. Mit einem Vorwort von Manuel Peña. Austin: University of Texas Press.
Ramírez-Pimienta, Juan Carlos (2004): Del corrido de narcotráfico al narcocorrido: Orígenes y desarrollo del canto a los traficantes. In: Studies in Latin American Popular Culture. Special issue on border culture, Nr. 23, 2005.
Retamales, Jaime (o. A.): Globalización del Narcotráfico, Narcocultura y Narcocorrido. University of Illinois: http://www.class.uh.edu/MCL/faculty/zimmerman/lacasa/Estudios%20Culturales%20Articles/Jaime%20Retamales.pdf
Simonett, Helena (2001): Mexican Musical Life across Borders. Middletown: Wesleyan University Press.
Valenzuela Arce, José Manuel (2002): Jefe de Jefes – Corridos y Narcocultura en México. México, D.F.: Plaza y Janés.
Wald, Elijah (2001): Narcocorrido – A Journey into the Music of Drugs, Guns and Guerrillas. New York: HarperCollins.

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Bildquelle: Fernando Messino

1 Kommentar

  1. jan z. volens sagt:

    Der Corrido stammt musikalisch von der Polka von Boehmen, welche im 19ten Jahrhundert der weltweite populaere Tanz wurde. Nach 1844 kamen tausende von deutschen Siedlern in die Gegend noerdlich von San Antonio/Texas (damals Republic of Texas – von 1836 bis 1845, von 1821 bis 1835 Tejas/Mexico, zuvor Tejas/Nueva Espana.) Die deutschen Siedler brachten die Polkamusik und die Instrumente – auch das Akordeon. Die Tejanos (Mestizen) adoptierten die Polkamusik der Deutschen (die Beziehungen waren gut!). Seitdem ist das die Musik der Tejanos – sehe alles und Videos under „CONJUNTO TEJANO“! Dann adoptierten die Mexicanos im Norden diese Musik – und das wurde der Corrido. (Der Staatstanz von Tamaulipas Staat is „Polka tamaulipeca“) Eine Blasorchesterversion der Polka, welche auch von der spanischen Militaermusik beinflusst wurde – ist die „Banda“ form – sehe das Video der beruehmtesten Banda „Banda del Recodo“ auch „Banda de Cruz Lizarraga del Recodo“ – am Besten das youtube video „TE PRESUMO“. Der narco-corrido wie leider alle die jetzige populaere Musik in Mexiko is eine Degenerierung. Aber noch gibt es weltklasse Musica. Sehe youtube Videos „MARIACHI VARGAS BIKINA“ (Version mit den Philharmonikern), und „PLACIDO DOMINGO ARMANDO MANZANERO MIA“. Armando Manzanero, ein Maya-Indianer hat ueber 400 Kompositionen geschaffen – auch schon von Placido Domingo, Sinatra, Presley und vielen anderen gesungen…

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