Es gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen“, so der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche. Schopenhauer, ein weiterer deutscher Philosoph, stellte fest: „Die Welt ist meine Vorstellung.“ In anderen, weniger philosophischen Worten: Die Bewertung eines Phänomens obliegt dem subjektiven Empfinden des Einzelnen.
Im subjektiven Empfinden jener, die im Drogenhandel aktiv sind, existiert für gewöhnlich eine klare Abgrenzung zwischen innen und außen, zwischen dem gemeinschaftlichen „Wir” und dem „Rest der Welt”. Nach außen lässt es sich durch die Natur ihres Gewerbes nicht vermeiden, mit sozialen Normen der Gesellschaft, deren Anerkennung sie zu erwerben versuchen, zu brechen. Nach außen halten sie sich auch nicht an die Gesetze ihres Landes im juristischen Sinne. Innerhalb der Subkultur hat sich jedoch ein eigenes Moral- und Wertesystem herausgebildet. Diese strengen Werte- und Moralvorstellungen schlagen sich auch in Narcocorridos nieder.
Loyalität gegenüber den Angehörigen des gleichen Kartells gehört zu den unumstößlichen Grundsätzen, zu den absolut unantastbaren Grundwerten der Narcocultura. Dass dies mit der Zeile
Verrat und Schmuggel/ vertragen sich nicht
bereits in Contrabando y Traición erwähnt wird, zeugt von der tiefen Verwurzelung und der immensen Bedeutung dieses Kodex. Auf ihre Kultur bezogen kann Drogenhändlern ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn attribuiert werden, wie Prädikativa wie hombre de palabra („ein Mann, der sein Wort hält”; aus dem Corrido El Jefazo), hombre de valor („mutiger Mann”; aus dem Corrido El M-1) oder hombre de honor („Ehrenmann”; aus dem Corrido De Sinaloa a California) bezeugen. Obwohl der Held eines Narcocorridos all die eben genannten Eigenschaften vereinen kann, so ist ihm doch stets bewusst, dass nicht jeder in seiner Umgebung ebenso ehrenwert handelt wie er selbst. No crean que soy muy confiado („Glaubt nicht, ich sei leichtgläubig”), singt der Corridista in Lo que sembré allá en la sierra. Die wahre Gefahr geht nicht von der Staatsgewalt oder anderen Kartellen aus, sondern von den eigenen Reihen, wie der Abschnitt No me cuido del gobierno/ me cuido de los traidores aus El Primo bezeugt:
Nicht vor der Regierung/ sondern vor den Verrätern muss man auf der Hut sein.
Das Motiv des soplón, des Verräters, der den Helden der Geschichte gemäß dem Sprichwort El valiente vive hasta que el cobarde quiera („Der Mutige lebt so lange, wie der Feigling es will“) zu Fall bringt, wurde schon früh in der Geschichte des Corridos aufgegriffen. Stammt der Verräter auch oft aus den eigenen Reihen, so finden sich so gut wie keine Fälle von vorsätzlichem Verrat innerhalb einer Familie, denn auch die Loyalität und der Zusammenhalt innerhalb einer Familie gehören zu den Grundsätzen der Narcocultura und werden nicht in Frage gestellt. Im Corrido La Huella del Alacrán kommt es zwar zum Verrat durch ein Familienmitglied, jedoch geschieht dies in jenem Fall nicht freiwillig. Ein seltener Fall von Verrat innerhalb der Familie wurde Ende des Jahres 2008 bekannt, als klar wurde, dass der Sohn von Jesús ‚El Rey‘ Zambada, einem der Köpfe des Sinaloa-Kartells, mit den staatlichen Behörden zusammengearbeitet hatte und unter anderem zur Identifizierung seines Vaters nach dessen Festnahme beigetragen hatte. Ein Jahr später erhängte sich der 22-jährige Jesús Zambada Reyes in einem Haus des Zeugenschutzprogramms der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft Procuraduría General de la Républica (PGR).
Nicht-familiäre Beziehungen basieren in der Regel auf gegenseitigem Nutzen. Solche monetär motivierten Beziehungen sind nicht von Vertrautheit oder gar Vertrauen gekennzeichnet und selten von Dauer, wie die Beispiele aus dem Schmuggelcorrido El Contrabando de El Paso suggerieren:
Von wegen Wort halten/ Freunde, in Wirklichkeit,
Wenn man vor Gericht steht/ vergessen sie die Freundschaft
Mit Recht sage ich euch/ mehr als nur ein paar Kumpels
Sind auf der Straße Freunde/ weil es ihnen nützt
Vielmehr gilt: Soziale Kontakte und persönliche Beziehungen finden ihren Ausdruck fast ausschließlich im gemeinsamen, meist zügel- und maßlosen, Feiern. Der Drogenbaron gibt sich als geselliger und doch gleichzeitig misstrauischer Mensch:
Ich mag es, wenn man mir etwas erzählt/ aber ich glaube nicht alles
Pacas de a Kilo
Der Geltungsdrang der Drogenhändler manifestiert sich auch in der mangelnden Fähigkeit oder dem mangelnden Willen, erreichte Ziele als Erfolg für ein Team oder als Resultat gemeinschaftlicher Zusammenarbeit darzustellen. Der Wunsch, sich zu profilieren, liegt den wohl ältesten Beweggründen für Verrat und dementsprechend auch für Misstrauen zugrunde: Neid und Missgunst. Sie gehen mit jedem Erfolg einher, wie der Erzähler des Corridos El M Grande zu berichten weiß. Sie sind die Hauptbeweggründe, die einen Verrat motivieren:
Sein Neid/ brachte ihn dazu, mich zu verraten
Dazu noch einige Scheinchen/ die der Staat ihm zahlte
El Dedo
Doch spätestens seit Contrabando y Traición ist die Eifersucht auch in Narcocorridos ein starkes Motiv:
Als er nach Sinaloa zurückkehrte/ setzt er ein Kopfgeld auf den Verräter aus
Und war überrascht als/ als sie ihm sagten
Dass eine seiner Frauen/ den Verrat begangen hatte […]
Bevor sie starb, sagte sie ihm/ Ich habe es getan, weil ich dich liebe
Ich wusste, dass es eine andere gab/ und hielt es vor Eifersucht nicht aus
Ich wollte dich lieber tot sehen/ als in den Armen einer anderen
Jesús Amado
Von potentiellen Verrätern umgeben …
Denn überall lauern Verräter/ die nur auf den richtigen Zeitpunkt warten
Sie tun so, als wären sie Freunde/ und fallen dir in den Rücken
El Dedo
… vertraut der Drogenhändler in erster Linie auf sich selbst:
Ich verlasse mich auf mich selbst/ nicht auf andere
El Aguilillo
Sachgegenstände wie das Sturmgewehr, welches in diversen Corridos personifiziert wird, werden zum loyalen Begleiter:
Die Frau ist mein Delirium/ die Kalaschnikow mein Kumpel
De Sinaloa a California
[Die Kalaschnikow] ist mein treuer Kumpel
El Hijo de la Sierra
Verlässlich wie die Kalaschnikow sollen auch jene Menschen sein, die den Drogenhändler umgeben. In diesem Ambiente, das nur auf gegenseitigem Nutzen basiert, ist die Unsicherheit ein ständiger Begleiter. Dieses Element greift El Pariente auf:
Die Herrscher/ mögen mich sehr
Vielleicht, weil ich immer verlässlich war/ Das hat mir geholfen
Ich frage mich, wenn ich eines Tages versage/ was wird mit mir geschehen?
Die Unsicherheit wird durch die Tatsache, dass sich das Prinzip der Loyalität innerhalb der Gruppe nur auf die in der Hierarchie höher gestellten Personen bezieht, noch verstärkt. Loyalität kann nicht von Ranghöheren eingefordert werden, doch die Loyalität den Anführern gegenüber muss vollkommen außer Frage stehen.
Definiert man Verbrechen wie der französische Soziologe Durkheim als Verletzung von Kollektivgefühlen, kann auch ohne Rechtsgrundlage im juristischen Sinne eine Nichtbeachtung der innerhalb einer Subkultur wie der Narcocultura herrschenden Konventionen als Verbrechen interpretiert werden. Nach innen muss dieser Verstoß gegen soziale und kulturelle Normen sanktioniert werden, auch wenn jene, die diese Sanktionen ausüben, sich nach außen hin jeglicher Sanktionen erwehren. Betrug und Verrat am Anführer können somit nicht vergeben werden, sondern werden schwer bestraft, in der Regel mit dem Tod:
Denn der Herr vergibt nicht/ Täuscht euch nur nicht
El M-1
Einige Schüsse waren zu hören/ Camelia war sofort tot
Verrat und Schmuggel/ beenden viele Leben
Ya Encontraron a Camelia
(Fortsetzung von Contrabando y Traición)
Ich weiß, dass das Gesetz mich verfolgt/ wegen der Verräter
Denkt daran, dass der Verräter/ nicht lange genug lebt, um davon zu berichten
Lo que sembré allá en la sierra
Sein Blut gerät in Wallung/ wenn ihm jemand krumm kommt
Sofort erteilt er den Befehl/ dem Verräter den Hals umzudrehen
Ich mag keine Verräter/ und will, dass ihr das versteht
El Jefe X
Denn jemand meines Vertrauens/ hat mich an das Gesetz verraten
Diese Schwuchtel soll bloß aufpassen/ wenn meine Leute ihn in die
Finger kriegen
El Dedo
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Literatur:
Astorga, Luis (1995): Mitología del „Narcotraficante“ en México. México, D. F.: Plaza y Valdés.
Astorga, Luis (1997): Los corridos de traficantes de drogas en México y Colombia. UNAM. Instituto de Investigaciones Sociales.
Balog, Andreas (2006): Soziale Phänomene: Identität, Aufbau und Erklärung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
De la Garza, María Luisa (2008): Pero me gusta lo bueno – Una lectura ética de los corridos que hablan del narcotráfico y de los narcotraficantes. México, D.F.: Porrúa.
Blancas Madrigal, Daniel (2009): „Fue suicidio, dictamina la PGR.” In: La Crónica de Hoy, 22.11.2009: http://www.cronica.com.mx/nota.php?id_nota=470813
Eguiarte Bendímez, Enrique (2000): „El corrido mexicano: Elementos literarios y culturales“ In: Rilce – Revista de filología hispánica, Nr. 16.1. Pamplona.
Manzo Robledo, Francisco (2007): Del romance español al narcocorrido mexicano. México, D.F.: Libros para todos.
Simonett, Helena (2001): Mexican Musical Life across Borders. Middletown: Wesleyan University Press.
Simonett, Helena (2004): „Subcultura musical: el narcocorrido comercial y el narcocorrido por encargo.“ In: Caravelle: cahiers du monde hispanique et luso-brésilien, Nr. 82, 2004.
Valenzuela Arce, José Manuel (2002): Jefe de Jefes – Corridos y Narcocultura en México. México, D.F.: Plaza y Janés.
Valenzuela Arce, José Manuel (2007): „Consumo y narcocultura“ In: El Universal, 02.01.2007: http://www.eluniversal.com.mx/editoriales/36392.html
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Bildquelle: [1] Greg Robbins, bearb. gt [2] Greg Robbins [3] Neil Dorgan, bearb. gt