Die afrokubanische Religion als Alltagspraxis
Es gibt natürlich verschiedene Weisen des Zugangs zur Welt dieser Religionen. Manche Menschen werden beinahe „hineingeboren“, wachsen in einer religiösen Familie oder gar schon als „rituell Initiierte“ auf, aber das ist meist kein hinreichender Grund – fehlt die persönliche Neigung gibt es auch für diese „Privilegierten“ keinerlei Zwang, sich religiös‘ zu betätigen. Freiwilligkeit ist in der kubanischen Volksreligion ein absolutes Prinzip. Wer den Einfluß der Götter und Geister weder fürchtet noch erhofft, hat hier – anders als bei autoritären ,Staats-Religionen‘ wie Christentum, Islam oder Nationalismus – kaum einen Grund, Religion zu praktizieren.
Viele Kubaner haben mir erzählt, daß ihnen zu Anfang v.a. die Musik, die Feste und die Tänze gefallen hätten. Die Trommeln eines bembé, eines Festes für die afrokubanischen Gottheiten, sind kaum zu überhören und ziehen außer den geladenen santeros meist auch Schaulustige und Liebhaber aus der Nachbarschaft an. Auf Kuba gibt es nur sehr wenige regelrechte ,Tempel‘ afrokubanischer Religionen. Von diesen gehen die meisten auf alte cabildos zurück und haben außer dem geräumigen Hof und einem Saal für Zeremonien und Feste mit der Statue des namensgebenden Patrons, einem synkretisierten Heiligen wie Santa Barbara (Changó) oder San Roque (Eleguá), auch zahlreiche normale Wohnräume der (oft sehr weit verzweigten) Familie, die ihn ,unterhält‘. Oder andersherum: Das Haus eines sehr angesehenen und erfolgreichen santero hat manchmal all diese Vorzüge und verwandelt sich damit de facto in einen , Tempel‘.
Meist aber finden die Feste einfach in den Häusern und Wohnungen der santeros statt, die sich von den anderen des Viertels nur dadurch unterscheiden, daß in einem ihrer Räume oder im Wohnzimmer oder im Zimmer des Gläubigen Gottheiten und Geister untergebracht‘ sind und die dadurch zu einem ilé ocha, einem „Haus der Orisha“ werden. Anläßlich eines Festes oder einer wichtigen Zeremonie wird im größten Raum ein „Thron“ (trono) mit prächtigen Stoffen in den Farben der Götter, von denen ihre Wohn-Gefäße umrahmt werden, und eine plaza mit Blumen, Früchten und Süßigkeiten errichtet.
Diese Feste sind öffentlich, d.h. traditionell für jeden, auch jeden Unbekannten, offen und frei zugänglich, ja jeder Besucher hat das Recht auf ein Getränk, und sei es ein Glas Wasser, das meist aus großen, mit Eis gekühlten Kübeln ausgeschenkt wird, sowie auf etwas Essen, das zumeist am Ende des Festes zusammen mit den vor den santos (Orishas) aufgestellten Süßigkeiten ausgeteilt oder den Besuchern in kleinen Pappschachteln mitgegeben wird. Da nicht selten mehr als hundert Personen zu solchen bembés, toques oder güemileres kommen, kann man sich vorstellen, welchen finanziellen Kraftakt sie für einen durchschnittlichen Kubaner darstellen, dessen staatlicher Lohn zwischen 150 und 300 Peso (6-14 €) beträgt. Zusammen mit Hochzeiten und den Feiern zum 15. Geburtstag der Mädchen gehören diese Feste ohne Zweifel zu den prächtigsten, üppigsten und eindrucksvollsten Ereignissen der kubanischen Volkskultur. Wo die bembé-Kultur stark entwickelt ist, gehen viele junge Leute oft wechselweise zum toque und zur Disko, wo man gleichermaßen tanzen und flirten kann, ja manche ziehen sogar den toque vor. Wer immer wieder zu den toques geht, lernt dort Leute kennen, lernt beiläufig die Rhythmen, Lieder und Rituale kennen, sieht die von den Göttern besessenen Tänzer, hört die Kommentare und Gespräche und erfährt so nach und nach mehr auch über die Religion, die religiosos und das Ambiente. Er wird so nach einiger Zeit auf unverbindliche und informelle Weise Teil dieser Welt, bis er sich vielleicht irgendwann weiter auf sie einläßt – etwa auf den Wink eines Orisha hin, von dem er auf einem Fest aus dem Munde seines „Pferdes“, d.h. des von ihm in Trance „gerittenen“ (besessenen) Menschen, direkt angesprochen wird, wobei dieser ,heruntergestiegene Gott‘ oft verborgene Probleme und Konflikte des Kandidaten zur Sprache gebracht, Lösungswege indiziert und damit seine übermenschliche‘ Natur bewiesen hatte.
Ein sehr häufiger Fall ist, daß ein Kubaner in eine schwere Notlage gerät, in der kein ,konventioneller‘ Weg zu helfen scheint. Das kann z.B. eine schwere Krankheit sein, ein Gerichtsverfahren, dessen Ausgang man fürchtet, ein Konflikt, in dem die Durchsetzung der eigenen Position sehr schwierig erscheint, etwa weil der Kontrahent ein Vorgesetzter oder eine sonst wie ,mächtige‘ Person ist. Es kann aber auch eine heftige und unglückliche Liebe oder intensives Verlangen sein, die subjektiv eine Notlage herstellen. In solchen Fällen wendet sich der Geplagte – oft sogar dann, wenn er die in der Umgebung latente Religion vorher kaum beachtet oder ernst genommen hatte – an einen bekannten Spezialisten – espiritista, palero, santero oder babalao – und bittet ihn um Hilfe bei der Lösung des Problems. Geschieht das ,in aller Form‘, nennt man es eine „Konsultation“ (consulta). Dabei läßt sich der Klient bzw. Patient vom ,Spezialisten‘ wie von einem Arzt „ansehen“ (verse), um eine Diagnose erstellt und eine Therapie verordnet zu bekommen.
Die Wohnungen besonders erfolgreicher und bekannter paleros, santeros oder babalaos erinnern übrigens oft tatsächlich an Arztpraxen, da hier nicht selten eine größere Schar von ,Patienten‘ den Empfangsraum in ein Wartezimmer verwandelt. Interessanterweise scheint es auf Kuba kaum Feindschaft und Konkurrenz zwischen „Schulmedizinern“ und santeros zu geben. Vielmehr ergänzen sich ihre Angebote, ja sie „überweisen“ sich u.U. gegenseitig Klienten. Während es bei den religiösen consultas noch recht verständlich und ,für unsereins‘ vernünftig erscheint, daß nicht nur vor bestimmten, konkreten gesundheitlichen Gefahren gewarnt und des öfteren auch ein Arztbesuch empfohlen wird, so ist es doch für „Westler“ sicherlich bemerkenswert, daß Schulmediziner nicht nur z.T. selber lo afrocubano praktizieren (was eine große Zahl rituell-magischer Heilpraktiken, aber auch sog. „Kräutermedizin“ einschließt), sondern in einigen Fällen sogar als Laien an ,spirituelle Spezialisten‘ weiter verweisen. So wurde meiner kubanischen Freundin Y. vor vielen Jahren, als sie von einer langen und schweren Krise gebeutelt wurde, von einem Psychiater (!) gesagt: „Was du hast, ist keine Krankheit. Du hast einen Totengeist.“ Sie ging zu dem empfohlenen babalao, um Genaueres zu erfahren – und begann auf seine Anleitung hin, sich an das Leben mit diesem Wesen zu gewöhnen, ihren Frieden mit ihm zu schließen, ja selbst von seiner Nähe und seinen Möglichkeiten zu profitieren. Wie sie mir sagt (und wie man sehen kann) ist sie heute mit den Ergebnissen mehr als zufrieden.
In der Interaktion zwischen dem ,Patienten‘ und dem ,Spezialisten‘ ist letzterer für gewöhnlich v.a. der Partner mit der größeren „spirituellen Kompetenz“. Das schließt hellseherische‘ Fähigkeiten (clarividencia) oder einen anderen Zugang zu ,höheren Quellen des Bewußtseins‘, d.h. Kontakt mit ,Geistwesen‘ (espiritus) und/oder Gottheiten ein, sowie das Wissen um magische und rituelle Techniken. Als ein solcher Spezialist analysiert er meist mit Hilfe dieser Quellen das Problem seines Klienten, wobei Geistwesen und Gottheiten entweder durch ein menschliches Medium (oft ihn selbst) kommunizieren oder über verschiedene Adivinationsmittel, ,Orakel‘, zu Rate gezogen werden. Die wichtigsten Orakelsysteme der Regla Ocha heißen biagüe, dilogún und Ifá, Spiritisten benutzen meist gewöhnliche Spielkarten (spanisches Blatt).
Das Biagüe-Orakel ist allgemein bekannt als los cocos, 4 Stückchen gleichmäßig zugeschnittenen Kokos-Fleisches, die aus Kniehöhe auf den Boden geworfen werden, wobei je nachdem, wie viele der Stückchen ,mit dem Gesicht‘, d.h. der hellen Seite, nach unten bzw. nach oben fallen, fünf verschiedene Zeichen entstehen. Mit ihm werden im Allgemeinen einfache Ja/Nein-Fragen beantwortet, die sich im Alltag der Gläubigen, v.a. aber vor und nach Ritualen stellen. Zum Teil werden auch die beim Fallen entstehenden geometrischen Figuren in die Deutung einbezogen, die etwa darüber Auskunft geben können, welche Gottheit gerade ,spricht‘.
Das zweite, schon wesentlich komplexere Orakel ist das dilogün (von yoruba: merindilogún, „sechzehn“) oder alltagssprachlich los caracoles („die Muscheln“). Das dilogün arbeitet mit einem Satz aus 16 Kauri-Muscheln, die in einer Kombination von je zwei Würfen ein System aus 16×16 Zeichen (óddun) bilden. Während hier bei jedem Zeichen verschiedene Orisha (Gottheiten) ,sprechen‘, wendet sich das dritte, das Ifá-Orakel, direkt an den Orisha der Weissagung, Orúnmila oder Orula, der als Kenner von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft par excellence gilt, als der große Ratgeber und göttliche Beauftragte‘ in Sachen ,Optimierung und Harmonisierung des Schicksals‘.
Die Metaphysik der Yoruba geht davon aus, daß dem Leben und den Möglichkeiten eines jeden Menschen individuell verschiedene Grenzen gesetzt sind, die bei seiner Geburt bereits feststehen und die er nicht zu überschreiten versuchen sollte – Selbstüberschätzung und Anmaßung, der Einsatz von Magie oder Gewalt, um ein Niveau jenseits des Vorbestimmten und daher Angemessenen zu erreichen, rächen sich nämlich irgendwann und führen nach dem erzwungenen Höhenflug zum Sturz. Dadurch verhindern sie die Entfaltung des vollen Potentials des jeweiligen Menschen. Gerade diese volle Entfaltung des Potentials – zu seinem persönlichen Nutzen und dem der anderen – ist aber das eigentliche Ziel allen religiösen Handelns. Dabei ist ein „Aufstieg“ nach westlichem Verständnis nur eine Möglichkeit gelingenden Lebens. Ein angesehener santero, oltibatá, tambolero (Trommler), cantante (Vorsänger auf den Festen) oder einfach ein rechtschaffender, von seinen Mitmenschen respektierter und geehrter Mensch zu sein, ist genauso gut, wenn der Mensch dadurch seine ,Bestimmung‘ erfüllt und nicht deutlich hinter seinen Möglichkeilen zurück bleibt. Gesundheit, Kinder und familiäre Harmonie, innere Ruhe und Ausgeglichenheit, ein Leben ohne drückende materielle, soziale oder psychische Not sind die grundlegenden Ideale, die sich im Bild der Harmonie mit sich selbst und der Umwelt kristallisieren. Dem Erreichen und Stabilisieren dieser individuellen Harmonie gilt erklärtermaßen die Arbeit der santeros und babalaos – während man den paleros öfter nachsagt, sie würden ihre , Arbeiten‘ auch gern zum Schaden anderer ausführen.
Störungen im ,Gleichgewicht des Lebens‘, die zu einer inneren Disharmonie führen, die wiederum äußeres Unglück anzieht, werden einerseits auf Fehlverhalten der Person und andererseits auf den negativen Einfluß spiritueller Mächte zurückgeführt. Das gilt auch für Krankheiten, Unfälle und ,vorzeitigen Tod‘ – denn während nach dieser Auffassung der ,Tod zum vorherbestimmten Zeitpunkt‘ als unabänderlich und natürlich gilt, ist der vorzeitige Tod‘ immer ein Unglück. Verursacher des Unglücks (osóbbo) können ,dunkle‘ Geistwesen sein, die, von ihrer eigenen Not getrieben, Menschen peinigen, an die sie sich u.U. heften, bis man sie vertreibt oder ihren Wünschen und Bedürfhissen Genüge getan wird (eine weltweit verbreitete Vorstellung). Sie können aber auch von mißgünstigen Personen , gekauft‘ und geschickt worden sein, um gezielt Schaden anzurichten (eine beliebte ,Arbeit‘ der ngangas), wobei es nicht immer ,den Richtigen‘ treffen muß: Besonders Menschen mit einem ,schwachen spirituelle Schutz‘, übergroßer Sensibilität und Empfänglichkeit oder auch Kinder werden oft von solchen Übeln getroffen, die ursprünglich gegen andere (meist in ihre Nähe) gerichtet waren.
Unglück kann von zornigen oder mißgünstigen Gottheiten u.a. herkommen, die man z.B. durch das Brechen eines Tabus (sei es aus Unwissen, Unglaube, Nachlässigkeit oder Mißachtung), durch Nicht-Einhalten von Versprechen, durch Spott oder persönliches bzw. soziales Fehlverhalten verärgert hat. Sie können einem Menschen aber auch das Leben schwer machen, um ihn auf diese Weise ,zu sich zu rufen‘: die Krise, die möglicherweise erst seinen Stolz, seine Ignoranz und seine Ablehnung zerbrechen muß, bevor er sich endlich seinen Peinigern zuwendet, zwingt ihn, spirituellen Beistand zu suchen – und endet nicht selten mit der Initiation dieses Menschen, der von der Gottheit ,auserwählt‘ war und sich dagegen wehrte (ebenfalls ein weit verbreitetes Motiv) oder dessen problematische ,Grundausstattung‘ die brachiale Kraft der Gottheit verlangte, um in einem ,spirituellen Durchbruch‘ sein durch innere Kämpfe und äußere Abwege und Konflikte gelähmtes Potential freizusetzen.
Man verliert bei allem Glauben an magisch-rituelle Praktiken allerdings nie den Realitätssinn und weiß zwischen solchen Bereichen zu unterscheiden, wo v.a. man selbst handeln muß, und denen, wo man das Geschehen besser dem Wirken der verbündeten ,Mächte‘ überläßt. Am wirksamsten ist ohnehin meist eine Mischung aus beidem. Und es gilt als ausgemacht, daß alle dargebrachten materiellen Opfer nichts nützen, wenn man sich nicht an die erhaltenen Ratschläge, Weisungen und Verbote hält, also nicht bereit ist, ,psychische Opfer‘ zu bringen, d.h. ,innere Disziplin‘ zu halten: Die patakines (gleichnishafte Geschichten) erzählen anschaulich und zur Genüge vom Schicksal derjenigen, die es nicht tun. Die Götter leben hier ihren ,Menschenkindern‘ die Potentiale, die Möglichkeiten des Lebens im Guten wie im Schlechten, vor: Sie sind die Modelle, ,Archetypen‘, an deren Beispiel man sich orientieren kann. Obwohl jeder im Leben mit anderen Voraussetzungen anfängt, ist er dennoch für den Ausgang der Geschichte wesentlich selbst verantwortlich, denn schließlich kann man zwischen ,dunklen‘ und ,lichten‘ Möglichkeiten wählen.
Die afrokubanische Religion ist auch in anderer Hinsicht ebenso pragmatisch wie ihre afrikanische ,Mutter‘: Geglaubt und gemacht wird, was funktioniert. Warum sollte man viel Geld und Zeit in etwas stecken, was keine Resultate bringt? „Lo que no sirve, no sirvio.“ Die Religion als solche wird ebenso wie ihre einzelnen ,Spezialisten‘ an ihrer Wirkung gemessen. Hat die ,magische Intervention‘ für einen Klienten Erfolg gehabt, d.h. wenn er das erhoffte Ziel erreicht oder eine Verbesserung wahrnimmt und auf die Wirkung des trabajo (magische Handlung) zurückführt, so wird er in vielen Fällen bei späteren Problemen zu seinem Retter zurückkommen, und zwar um so wahrscheinlicher, je größer seine Notlage war. So kann sich eine Beziehung entwickeln, die bis zur förmlichen Aufnahme des Klienten in die religiöse Familie, d.h. die religiöse Gemeinschaft seines , Wohltäters‘ führen kann, der damit zu seinem padrino wird (bzw. madrina wenn es sich, was sehr häufig ist, um eine Frau handelt). Padrino heißt wörtlich „Pate“, das gleiche Wort, was für den Taufpaten des katholischen Ritus gebraucht wird. Er ist aber viel mehr, so etwas wie Arzt, Psychologe, Schamane, Beschützer, spiritueller Führer, Meister, Lehrer (indisch: guru), Lebensberater und Vater (bzw. Mutter) zugleich. Er ist nun der ,zweite Vater‘ seines ahijado, sein ,Vater in der Religion‘, und oft ein besserer als der natürliche, denn den konnte man sich nicht aussuchen und der mußte auch keine Rücksicht nehmen. Im Wort ahijado steckt die Bedeutung „an Kindes statt angenommen“, und das bedeutet ein hohes Maß an Verantwortung.
Zum vollwertigen Mitglied der religiösen Familie wird der Neuling (aleyo) aber erst durch die mit strengen Regeln und langwierigen, komplexen Ritualen verbundene Initiation (iyaworaje) in die Regla Ocha. Sie dauert insgesamt ein Jahr, beginnt mit dem rituellen ,Tod‘ des Initianten und seiner ,Wiedergeburt‘ in eine neue, veränderte Seinsweise. Als äußeres Zeichen werden ihm u.a. die Haare geschoren, er wird wie ein Säugling behandelt: von seinen neuen ,Eltern‘ und Verwandten gewaschen (mit omiero, einem magischen Kräutersud), gekleidet in acho funfun, Kleidung in weiß, die Farbe die er – so das möglich ist – ein Jahr lang ausschließlich tragen wird. Und er wird wie ein Kleinkind, auf dem Boden sitzend, gefüttert. Er darf den Initiationsraum (kub. cuarto de santo oder yor. igbodu) drei Wochen lang nicht verlassen, denn er gilt als besonders anfällig für gefährliche Einflüsse und Energien, wie es Kleinkinder eben sind. Auch in den folgenden Monaten sollte er sich dem starken Sonnenlicht des Mittags, der Kühle der Nacht oder Energien gefährlicher Orte‘ nicht aussetzen – eine erste Disziplin-Übung.
Von nun an hat er eine ,spirituelle Lineage‘ (Abstammungsgemeinschaft), die über „Großväter“ und „Großmütter“ bis zu einer Gründerfigur zurück reicht. Wenn er später selbst Rituale durchführt, wird er zuallererst seine ,religiösen Ahnen‘ anrufen, ihnen Ehre erweisen und sie um Erlaubnis und Mitwirkung bitten. Diese moyuba genannte Zeremonie schließt mit den Worten ariku babawa, kinkamache Odubi („unsere unsterblichen Väter, ich grüße die wissenden Alten, Odubi“). Während in Afrika mit den oriki idile, den Preis-Versen des Clans, in den gleichen Personen sowohl die religiösen als auch die leiblichen Ahnen verehrt werden, da sich die Zugehörigkeit zum Klan-Orisha, ja sogar die persönlichen Tabus in väterlicher Linie vererben, werden in der kubanischen moyugbación zunächst die toten Mitglieder der religiösen Familie und dann die egun (Toten) der biologischen Familie genannt. Die Vorstellung der Kontinuität und Gemeinschaft zwischen Toten und Lebenden bekommt hier also durch das Auseinanderfallen von Familie und Kultgemeinschaft eine neue Wendung.
Die Initiation wird aber auch in anderer Hinsicht als eine „zweite Geburt“ verstanden, nämlich als Geburt in eine veränderte Existenz als ein „neuer Mensch“. Er muß sich von nun an klare individuelle Regeln und Tabus halten, um in Harmonie mit den Orishas, sich selbst, den anderen santeros und den Mitmenschen im Allgemeinen zu leben. Er hat nun einen direkteren, sozusagen privilegierten Zugang zu ,spirituellen Mächten‘ und muß mit dieser enger gewordenen Beziehung verantwortungsvoll umgehen. Die santos (Orishas), die von nun an unter einem Dach mit ihm ,wohnen‘, sind im Grunde sehr sensible und auch gefährliche Mitbewohner: es gibt viele Dinge, die ihnen mißfallen, und die man daher in ihrer Nähe nicht tun sollte, etwa pfeifen, wo ein Elegua zu Hause ist (und das ist nicht nur bei Initiierten der Fall), fluchen wo ein Obatala ist oder Sex haben im Zimmer, in dem ein Olokun zugegen ist. Und nicht nur der sanlero selbst, sondern auch die anderen müssen sich an diese Regeln halten, wollen sie nicht den folgenschweren Zorn der Gottheit auf die Bewohner ziehen. Es gehört auch dazu, daß diese spirituellen ,Herrscher‘ des Hauses, die sie effektiv werden, von jedem ins Prozedere Eingeweihtem gleich nach dem Hausherren mit den ihnen zugehörendcn ,Instrumenten‘ und einigen Sätzen begrüßt werden, die Formeln und Bitten um Segen vereinen, wobei kleine Geschenke und Aufmerksamkeiten an ihre Adresse mit ebenso großem Wohlwollen aufgenommen werden, wie es bei Menschen der Fall wäre. Das gilt auch, wenn der initiierte santero Rituale in anderen ile ocha oder casas de santo besucht. Das sollte er möglichst häufig tun, denn so lernt er am besten und schnellsten ,die Geheimnisse der Religion‘, für aleyos (Außenstehende, Uneingeweihte) verbotene, unzugängliche Kenntnisse über Zusammenhänge und Rituale, die ,mächtig‘ und prekär zugleich sind, die ihm bis dahin verschlossen waren. Später wird er dieses Wissen brauchen, um selbst an Anderen und für Andere trabajos, ,magische‘ Rituale durchzuführen, die erst durch seine Weihung, seine intensive Verbindung mit der Gottheit, den guten Zustand (ire) seiner regelmäßig ,gereinigten‘ Aura und seines soliden spirituell-rituellen Know-how wirklich wirksam und erfolgreich werden können.
Die besondere spirituelle Kraft, positiv zu wirken und Dinge zu bewegen (ache), fließt dem Initiierten durch die intensive und harmonische Nähe mit seinem Orisha zu. Voraussetzungen dafür sind die Initiation, ,Krönung‘ oder ,Hochzeit‘ mit diesem Orisha, dessen ,Braut‘ (yoruba: iyawo) der Initiant ist, und zu dessen ,legitimen Kind‘ er wird, und die Aufrechterhaltung des guten und engen Verhältnisses, das er während dieses Jahres durch all die aufwendigen Regeln aufbauen und ,erlernen‘ soll. Danach kommt es, wie in jeder Beziehung, auf seine fortgesetzte Sorgfalt und Aufmerksamkeit an. Diese Gottheit wird ihn von nun an leiten und begleiten, beschützen und unterstützen, aber auch Dinge von ihm fordern, die er nicht verweigern darf- um ihn zu seinem eigenen Wohl zu drängen oder um seinen Gehorsam, seine Loyalität und ,Kindestreue‘ zu prüfen. Man geht davon aus, daß der olorisha (,Besitzer‘ des Orisha) mit der Zeit seinen göttlichen Partner besser kennen- und mit ihm umzugehen lernt. So ihm das gelingt, er die Anforderungen des Orisha erfüllt, indem er Tabus und Regeln hält, die Weisungen befolgt, regelmäßig den Kontakt sucht und sein ache in gebührendem Maße mit Gaben (Blumen, Trankopfer, Früchte, Speisen und zu gegebener Zeit auch Tiere, deren ,feinstoffliche Essenz‘ von den Geistwesen aufgenommen wird) ernährt, wird der mächtige Energiestrom, den der Orisha verkörpert, sein Leben verändern und ihm Erfolg in all seinen Unternehmungen geben. Wichtig ist dabei die ,Wesensähnlichkeit“ des Gläubigen und seines persönlichen Orisha, der als sein Beschützer (angel de la guarda, ,Schutzengel‘) oder ,Haupt‘ (yoruba: eleda) gilt, der „in seinem Kopf (ori) installiert“ wird.
Man sagt, daß in den meisten Fällen der Charakter des ,Menschenkindes‘ dem seines Orisha ähnele – und die wichtigsten Orishas haben ein so ausgeprägtes Wesen, daß man sie leicht erkennt. Jeder von ihnen verfügt über spezifische Fähigkeiten und Kräfte (ache), Energien und Wirkungsbereiche, in denen er sich ,manifestiert‘.
Eine Übersicht über die wichtigsten Orishas unter www.quelzal-leipzig.de