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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Artikel

Interview mit Walter Hernández
Moderator des Community-Radios „Vokaribe“ (Kolumbien)

Laura Wägerle | | Artikel drucken
Lesedauer: 13 Minuten

“Mit dem Klang denken”

Quetzal veröffentlicht das im November 2014 von Student_innen der Universität Leipzig gemeinsam mit ihrer Dozentin für Politikwissenschaft und Kommunikation geführte Interview mit Walter Hernández vom Community-Sender Vokaribe in Baranquilla in der kolumbianischen Karibik. 

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Warum machst du dieses Radioprogramm, und was für Musik spielt ihr?

Kolumbien: Radio Communitaria - Logo Vokaribe - Foto: Radio VokaribeDas ist vor allem eine Lebenserfahrung, die ich schon aus meiner Kindheit kenne. Nachdem ich das Abitur gemacht habe, habe ich nach einem geeigneten Studiengang für mich gesucht. Radio habe ich immer gemocht. Für mich waren Musik und Radio immer sehr wichtig. Das ist etwas, dem ich mich widme und was mich zum Schwingen bringt. Mit allem, mit dem ganzen Leben.

Die Musik, die wir spielen, kommt aus dieser Gegend der Welt, der kolumbianischen Karibik. Das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, aus Afrika und der einheimischen indigenen Gemeinschaften, die vor der Ankunft der Europäer schon hier waren, geben ihr viel Kraft.

Gibt es eine Verbindung zwischen der Musik und den Themen, die ihr behandelt?

Ja, gänzlich. Ich erkläre es einmal so: Ich bin zum Studieren nach Baranquilla gegangen und habe dafür das Dorf meiner Eltern, wo ich aufgewachsen bin, verlassen. Als ich angefangen habe, nach meinem Beruf zu suchen, war ich gerade dabei, die Oberstufe zu beenden, kurz vor dem Eintritt in die Uni, und ich liebte Radio. Ich suchte also einen Studiengang, der mit Radio zu tun hatte. Gefunden habe ich „Soziale Kommunikation und Journalismus“. Damals hatte ich mit ein paar Freunden schon eine Hip-Hop oder Rap-Gruppe gegründet. In Barranquilla gab es Leute, die ähnliche über das Radio dachten wie ich, und nicht nur so, wie wir es von früher aus unseren Dörfern kannten. Es war nicht einfach, unsere Gefühle auszudrücken, weil die Funktionslogik des kommerziellen Radios von damals nicht offen für uns war. Der Hip-Hop, wie meine Freunde und ich ihn machten, war damals noch auf einem Außenseiter-Posten, Musik für Verrückte… In den Sendungen des kommerziellen Radios spielten die Musik, die uns gefiel, keine Rolle. Wir fühlten uns ausgeschlossen.

Im Laufe meines Studiums war ich mir jeden Tag mehr und mehr sicher: Wir mussten einen Radiosender erfinden, indem wir allen Hip-Hop und alle anderen Logiken und Ausdrucksweisen, die keinen Platz im kommerziellen Radio fanden, miteinbeziehen konnten. In den Seminaren haben wir viele Autoren wie Antonio Pascuali gelesen. Ich merkte, dass sie über etwas sprachen, das mich interessierte. Sehr schnell habe ich mich mit Leuten zusammengetan, die wie ich über eine andere Art, Radio zu machen, nachdachten.

Habt ihr also ein politisches Programm?

Als ich angefangen habe, Nachforschungen anzustellen, oder Bücher zu lesen, begann ich zu verstehen, dass das, was ich suchte, eine andere Art und Weise war, sich über das Radio auszudrücken und sich mit dem sozialen Wandel zu verbinden. Es gab schon viele verschiedene Namen dafür. Einige nannten es „Freie Radios“ oder „Alternative Radios“ oder „Bürger-Radios“. Aber zu diesem Zeitpunkt, in den 1990er Jahren, war es das Wort „Community Radio“, „Freies Radio“ oder „Alternatives Radio“, das war, was verschiedene Leute auf der Welt verband: In Kanada, Frankreich, Spanien… […]. Für mich war die Verbindung zwischen Radio und Musik vom politischen Standpunkt aus dieser: Es gibt etwas, das gesagt werden möchte, was verändert werden möchte, und deshalb ist seitdem das Radio ein Teil des Fahrzeugs und des Weges, um es zu erreichen oder es zumindest zu versuchen.

War Vokaribe des erste Community-Radio in Kolumbien?

Wir haben in den 1990ern angefangen, aber seit den Achtzigern gab es diesen Prozess, der die sozialen Bewegungen und Organisationen verband, die eine eigene Radiostation hatten. Als wir auf Sendung gingen, gab es diese Station bereits. Wir erkannten, dass bereits vieler solcher Radios existierten, und so begangen wir, uns nach und nach zu vernetzen: auf Veranstaltungen, Treffen… wo wir merkten, dass wir nicht alleine waren. In Kolumbien lernten wir beispielsweise auch die inspirierenden Vorschläge der Asociación Latinoamericana de Educación Radiofónica kennen.

Für uns war das didaktische Material sehr inspirierend, mit dem wir lernten, wie man über Radio spricht. In diesem Moment sprach man über „Volksradops“, aber wir sahen es nicht ein, unser Radio so zu nennen, und fühlten uns dem Begriff „Gemeinschaftsradio“ näher und mehr verbunden. Die offizielle Eintragung unserer Organisation heißt von daher „Verein für Gemeinschaftsradio“. Seine soziale Existenzgrundlage ist mit dieser Form, sich zu benennen, verbunden.

Wie finanziert ihr euch?

Das ist ein Prozess, der direkt mit dem Leben, das uns Möglichkeiten anbietet, und der Risikobereitschaft von unserer Seite zusammenhängt. Oder vielleicht auch eine Kombination aus eigener Initiative und der Überzeugung, dass das hier durchführbar ist. So eröffnen sich Möglichkeiten von Seiten der Institutionen des Staates, von Nichtregierungsorganisationen oder Geldern aus internationaler Zusammenarbeit. Zur Zeit erstellen wir beispielsweise einen Business-Plan, um Fördermittel über die Quotenregelung zu bekommen.

Wichtig ist außerdem der Einsatz der Freiwilligen, also die Personen, die schon nicht mehr da sind, die aber zum gegebenen Zeitpunkt zum Bestehen unseres Senders beigetragen haben.

Wie steht es derzeit um das Community Radio in Kolumbien?

Am Anfang, in den 80er Jahren, gab es eine Boom-Phase. Zu Beginn wurden die Lizenzen an städtische Organisationen aus dem ländlichen oder dem peripheren Raum verteilt. Von den 400 Sendern von damals sind etwa 200 schon wieder geschlossen. Sie haben sich einfach mit ihrem kommunikativen Projekt nicht halten können. Ihre Vision wurde verdunkelt oder sogar abgeschnitten von einem Mangel an Kreativität, um sich am Leben zu erhalten, und zum selben Zeitpunkt konnten sie sich nicht so organisieren, um die Herausforderungen zu meistern, welche die Anforderungen des Staates darstellen. Gleichzeitig wurden viele Radios an Gemeinden der Katholischen Kirche übergeben. Sie sind vom Weg abgekommen oder waren nicht offen genug, um eine breite Beteiligung zu schaffen. Stattdessen wandten sie sich der Missionierung zu, was zur Folge hatte, dass ihre Gemeinwohlorientierung sich praktisch umgekehrt hat.

Heute ist das Community-Radio in Kolumbien immer noch eine Möglichkeit, soziale Entstehungsprozesse zu begleiten. So erreicht es, andere Lebens- und Existenzformen im Land zu schaffen. Die Sender sind weiterhin ein Referenzpunkt für Möglichkeiten. Vor kurzer Zeit haben wir Richtlinien für eine Politik entwickelt, die eine Kultur des Friedens schaffen soll im Rahmen des „Post-Konfliktes“, also der aktuellen Situation um die Auseinandersetzung mit der FARC-Bewegung. Es ist offensichtlich, dass es viele Organisationen gibt, die viel beizutragen haben. Das Radio kann in Kolumbien tatsächlich zur Ausbildung einer Friedenspolitik beitragen. Man spürt eine richtige Aufbruchstimmung.

Welches ist euer Hauptthema?

Unser Hauptanliegen ist: innere Stärkung und gleichzeitiges Verbinden mit den Strategien des Klangs. Also über den Klang, den Programmbeiträgen, den klanglichen Ideen zum Klingen bringen. Nicht immer nur über das Radio sprechen, sondern es auch auf die Straße bringen. Hier ist das Programm des Radios entscheidend. Es ist das Gesicht des Radios – wir wollen da Gesicht zeigen und sagen: „Hier sind wir“, „Hallo, wie geht’s dir?“. Zu diesem Zweck haben wir Sendungen entwickelt wie „90 Minuten“ oder „Das Radio auf der Straße“. Das letztere ist eine Sendung, die einmal im Monat im Viertel stattfindet. Mit einer einmonatigen Vorlaufszeit besuchen wir Leute, die zeigen wollen, was sie machen. Im Programm zeigen wir die Entdeckungen, die Vorreiter, die Talente, das Leben, also… wir stellen das Leben, das es im Viertel gibt, in den Mittelpunkt. Wir stellen das Leben im Viertel für einen Tag ins Rampenlicht, damit alle, die mit dem Viertel verbunden sind, sich ausdrücken können und sich gegenseitig treffen und sich miteinander verbinden. Diese Sendung ist ein großartiger Vorwand für uns, um dem Viertel „den Puls zu fühlen“, auf ganz andere Art und Weise, wie es die öffentliche Verwaltung mit ihren Zählungen und Erhebungen macht. Wir wollen tief verbunden sein mit diesem Puls, nach dem die Menschen leben und Veränderungen anstoßen.

Habt ihr noch andere Methoden, um mit der Gemeinschaft in Kontakt zu kommen?

Wir haben nach und nach weitere Medien eingeführt. Zum Beispiel gibt es seit einiger Zeit ein schüchternes Telefon. Ich sage schüchtern; weil wir gerade erst damit angefangen haben. Es bilden sich auch Treffen. Und es gibt drei weitere Sendungen: eines heißt „deine Stimme überall“, andere heißen „Enclave de Radio“ und „Klang der Bürgerradios“. Eine andere Sendung, die der Gemeinschaft etwas sehr Wertvolles beisteuert, ist „Frauen mit Haltung“, und hat mit einem Sinn für Würde und der Schaffung von Beispielen für Weiblichkeit von Seiten der Frauen zu tun. Eine andere heißt „Der Dialog der Bermudas-Inseln“. Hier wird das Thema des Bermuda-Dreiecks ein wenig auf die Schippe genommen. Dazu suche ich in irgendeinem Teil der Welt etwas, das uns zunächst komisch vorkommt, das du gleichzeitig jedoch mit deiner eigenen lokalen Realität in Verbindung setzen kannst. Ich mag das Ergebnis, wozu wir letztendlich immer kommen: Erstens, dass alles miteinander verbunden ist, und zweitens, dass man etwas bekannt machen kann, was die Menschen, weil sie das Viertel nicht verlassen, nicht kennen.

Eine andere Weise, die Gemeinschaften zu erreichen, ist das musikalische Programm der Sendung. Hier liegt der Schwerpunkt darauf, uns wiederzufinden, wiederzuerkennen, und uns zu überraschen mit dem, was wir „die Karibik“ nennen. Von unserem Standpunkt aus ist die Karibik etwas, von dem es nicht nur eine einzige Definition gibt. Durch die Musik rekonstruieren wir diesen Gefühl von karibisch sein, von diesem Teil der Welt zu stammen. Wir sind Gemeinschaften, die mit dem Tanz, der mündlichen Tradition, der Musik und der Umwelt verbunden ist. Wir reden, als würden wir tanzen. Und das verfügt über einen Reichtum, der sich in den Klängen und über die Musik ausdrückt. Und, unserer Erfahrung nach, haben wir gemerkt, dass es einen Rückstand gibt, der durch den Konsum, wie er in den kommerziellen Senders propagiert wird, entsteht. Hier gibt es ein Gefühl von Stagnation und Verfall, wenn man nostalgisch ist, und das kann uns schaden. Denn es ist die permanente Bewegung und das Bewusstsein darüber, was uns hilft, uns lebendiger zu fühlen, und die Wahrnehmung der Veränderung zu verbessern. Fühlen, dass sich die Dingen ändern lassen.

In unserem Sendungsprogramm bestehen wir also darauf, wieder mit Würde das Recht zu bestehen, alles Neue kennen zu lernen, alles, was sich in der afrikanischen Diaspora und in der afrokaribischen Weltabspielt. Also: Was ist die Karibik für uns, von unserem Standpunkt aus gesehen? Und hier kommt ein Schlüsselkonzept auf, nämlich das Wort „Vielfalt“. Es ist eine große Herausforderung, zu lernen, wie man von der Vielfalts ausgehend identifizieren und konstruieren kann, besonders in der Musikauswahl. Mein wichtigstes Anliegen ist es, behilflich zu sein, den Geist beim Denken mit dem Klang über die Musik,neu zu programmieren, also anzubieten, dass alles immer in Bewegung ist. Den es gibt die Meinung, dass man gewisse Musikrichtungen nur in gewissen Gegenden hört. Ich bestehe darauf, diese Stereotypen zu ändern und die Botschaften zu bestärken, die vom Lokalen ausgeht: Raum schaffen für Musiker; für Frauen, Männer und Kinder, die Musik machen.

Kolumbien: Radio Communitaria Vokaribe - Foto: Radio VokaribeGibt es einen gewissen Typen Mensch, der im Community-Radio arbeitet?

Das sind Leute, die vor allem wahnsinnig neugierig sind, weil sie spüren, dass sie der Welt etwas zu sagen haben. Ich meine, das sind Menschen, die spüren und wissen, dass sie etwas zur Verbesserung ihrer Welt beisteuern können. Das wäre ein Charakteristikum. Es kommen hier nicht sehr viele Leute her, die nur einen Ego-Trip machen wollen. Im Grunde ist es wohl ein Mensch, der im Kollektiv denken will. Der sich im Kollektiv erschaffen und im Kollektiv sein will. Ich glaube, das ist es, was das Community Radio besonders macht, und man merkt es, wenn jemand Interessiertes kommt.

Diese Gegend hier nennt sich der Südwesten der Stadt, der Südwestn von Baranquilla. Er trägt diesen Namen, weil es jemanden gab, der ihm diesen Namen geben wollte. Es gibt Leute, die meinen, dass es hier Gegend gibt, in denen man Angst haben muss, wo die Infrastruktur noch unviollständig ist und es nicht alles gibt, was man für ein gutes Leben in der Stadt zu brauchen meint. Trotzdem hat diese Gegend viel Kraft; sie ist der Ort des Geschmackes. Die Leute, die hier wohnen, verkauft Waren auf dem Markt. Es gibt ein Gemeinschaftsgefühl im Stadtteil. Die Leute gehen auf die Straße und unterhalten sich viel miteinander. Es gibt eine gemeinsame Vebindung. Umgekehrt gibt es in anderen Stadtteilen ein Gebäude, in dem die Menschen leben, in ihren Häusern ein- und ausgehen, und sehr wenige unterhalten sich miteinander.

Dieser Art des Zusammenlebens inspiriert mich sehr, denn sie schließt niemanden aus und niemand schließt sich aus. Sie zeigt vielmehr, dass wir verbunden sein können, ohne uns dabei beschweren zu müssen, oder ohne kleine politische Absichten zu hegen. Es ist schon richtig, dass in diesem Viertel Korruption sehr präsent ist: Es gibt Wahlbetrug, wenn es um die Versorgung von Grundbedürfnissen geht, wie Wasser, Strom… Und dennoch, Vokaribe zählt vor allem auf die Gemeinschaft. Was wir in dieser Gegend erreichen können hat sehr großes Potential. Wir müssen auf dem Laufenden bleiben

Gibt es Leute bei Vokaribe, die vom Radio leben können?

Nein, zur Zeit haben wir nicht die Mittel, um vom Radio leben zu können. Und gleichzeitig könnte ich nicht ohne das Radio leben. Das Radio nährt mich, um weiter über die Art und Weise nachdenken zu können, wie ich es gestalte. Über die Musik erhalte ich diese Mittel. Und gleichzeitig ist es ein ganz schöner Packen, die Erfahrung zu machen, ständig nach Möglichkeiten zu suchen, die nicht nur für mich sein werden und sind, sondern für unser ganzes Team hier. Indem man es tut, schafft man es. Und wir sind schon dabei, es zu schaffen, Stück für Stück.

Was hast du für eine Vision für die nächsten drei Jahre?

Dass dieser Sender zu einer Anlaufstelle für die Leute entwickelt. Dass er sich zu einer Anlaufstelle entwickelt, für Leute , die Klänge suchen, die uns inspirieren und uns mit anderen Städten und Lebenserfahrungen verbinden. Und dabei geht es nicht einmal nur um die Musik, sondern auch um Lebenserfahrungen, die später dabei helfen, Lebens- und Existenzweisen in dieser Gegend hier entstehen zu lassen. Vokaribe soll eine Anlaufstelle für qualitativ hochwertige Kultur sein, ein Mittel, das die Menschen als Referenz für die Informationssuche zur Verfügung haben, für Informationen, die sie als Gemeinschaft interessieren. Und gleichzeitig sollen die Menschen sich inspiriert fühlen, wenn sie unsere Inhalte genießen. Dass es ihnen gefällt. Dass sie stolz sind auf ihr Radio.

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Übersetzung aus dem Spanischen: Laura Wägerle

Bildquellen: [1], [2] Vokaribe

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