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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Cholera, Corona, Cholerona … „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ im Spiegel von Corona

Heidrun Zinecker | | Artikel drucken
Lesedauer: 19 Minuten

Vor 35 Jahren ist Gabriel García Márquez‘ Meisterwerk „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ erschienen. Sein Verkauf stieg in Corona-Zeiten bisher um 183 Prozent in spanischer Sprache und um 621 in englischer, beides im Vergleich zum Vorjahr. Aber warum? Was hat Kolumbiens alte Cholera mit seiner neuen Corona zu tun? Gibt es da etwa ein „magisches Band“, das gar schon García Márquez „erinnert“ hat?

Vorauseilende Magie eines Buches, das nicht zur Gattung des magischen Realismus gehört

Garcia_Marquez_Bild_wiki_CCFreilich, die Cholera ist sehr viel älter als das Buch von García Márquez und als Corona sowieso. Vom Gallenbrechdurchfall soll schon Hippokrates berichtet haben, 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Der Cholera erste von acht Pandemien wird auf 1817 datiert, also rund hundert Jahre bevor uns COVID 19 „gefangen“ nahm. Corona harrt noch eines solchen Œuvres wie das von García Márquez. Aber die Verlage sind schon gewappnet … vor dem, was da so alles kommen mag. Ob unter diesen Autoren ein neuer Gabo ist?

Obwohl der Platz (nicht die Bedeutung), den die Cholera in García Márquez‘ Roman einnimmt, eher gering bemessen ist, beeilt sich heutzutage eine ganze Reihe von Autoren und auch Politikern, die neue mit der alten Seuche in Verbindung zu bringen: „‘Die Liebe in den Zeiten der Cholera‘ verrät seuchenfeste Erkenntnis“, wird uns offenbart. „En los tiempos del Cólera, el Coronavirus (Covid -19) y otros demonios“, beschwört sogar ein wissenschaftlicher Artikel. „En la época de pandemia resurge ‚El amor en los tiempos del cólera‘“ oder „En tiempos del coronavirus ¿cómo no recordar a Gabriel García Márquez y El amor en los tiempos del cólera?“ – lauten entsprechende Titel der Tageslektüre. Und die Vizepräsidentin Nicaraguas, ihrerseits Schriftstellerin, hat vor einiger Zeit sogar politische Demonstrationen unter der Überschrift „El amor en los tiempos de COVID-19“ anberaumt. Masken wurden da übrigens nicht getragen.

Ob Masken auch damals, gegen Cholera, geschützt hätten? Vielleicht. Auch da hätten auf diese Weise möglicherweise Krankheitserreger vor ihrem Eintritt in das fragile Innenleben menschlicher Körper gestoppt werden können. Egal. Cholera + Corona ergibt, wer hat denn da Zweifel … natürlich Cholerona. Gegenwart trifft auch hier auf Vergangenheit. In magischer Vorahnung wird es später einmal eine einzige – hybride – Epidemie gewesen sein – nein, kein Phantasiegespinst, soweit Magie real ist. Nicht nur, dass uns das 35jährige Buch von García Márquez inmitten einer ganz neuen und anderen Epidemie-Welle etwas zu sagen hat – möglicherweise ist es gar selbst schon eine Schrift auch über Corona, also über Cholerona, und wir wissen es nur noch nicht? Auch wenn das Werk von der Literaturwelt nicht mehr dem magischen Realismus zugerechnet wird, reicht die Magie meiner Vorstellung durchaus aus zu glauben, dass das bei Cholerona so sein könnte.

Literaten und Möchte-gern-Literaten über Cholerona und andere Epidemien

Natürlich, manche Autoren und auch manche Möchte-gern-Autoren haben wahrscheinlich längst explizit über Corona geschrieben, etwa, weil sie sich in Quarantäne-ähnlichen Zuständen langweilten und sie irgendetwas tun mussten, um dieser zu trotzen. OdCholera_bacteria_Bild_wiki_CCer weil sie einfach Befürchtungen gern teilen und auf diese Weise verarbeiten … richtig, ihre Befürchtungen darüber, in welch‘ schrecklichen Katastrophen der Weltuntergang ja, schon jetzt aufscheinen mag. Manche aber auch werden solcherart Epidemien, ähnlich wie García Márquez bei der Cholera, „nur“ als Gleichnis oder als düstere Begleitmusik eines letzten Aufschreis des Guten-Schönen-Allerliebsten vor all dem grausamen Chaos in dieser Welt betrachten.

Von Literaturwissenschaftlern wissen wir: García Márquez hat es sich zunutze gemacht, dass „Cólera“ im Spanischen auch „Wut“, „Zorn“, ja „Wahn“, mithin „hochkommende Galle“, heißt. Und wenn mit der Cólera die Galle wahrhaftig ausbricht, dann Gnade uns Gott: Durchfall und Erbrechen, so viel und so pausenlos, dass die Haut in Windeseile blau und faltig wird, weil sie kaum noch Körperflüssigkeit hat. Von nun ab dauert der Kampf nur noch Stunden und keine Tage mehr. Corona aber heißt „Krone“. Das klingt eigentlich schöner als Wut und Galle. Sieht man von den kleinen mexikanischen Fläschchen einmal ab, wurde der Name für das Virus, aufgrund seines Aussehens, von der Sonnenkorona übernommen. Nein, „Krone der Krankheit“ wäre zu viel der Ehre.

Lange vor der Cholera und erst recht vor Corona fand bereits eine andere Seuche, die Pest, ihre Literaten. Bei Giovanni Boccaccios Decamerone ist sie zwar lediglich Rahmenhandlung, bei Daniel Defoe aber schon primärer Erzählgegenstand, obwohl der Autor sie selbst gar nicht erlebt haben konnte. „Der liebe Augustin“ widmet ihr ein eigenes Totentanzlied. Karl May lässt gleich zwei seiner Helden an ihr erkranken, die dann aber auch wieder gesundgepflegt werden. Albert Camus wie May auch seinerseits kein Zeuge der Krankheit, siedelt sie in einem Ort der algerischen Küste an und schreibt darüber eine Chronik. Bei ihm ist die Pest das Zentrum einer auf das soziale Bewältigen der Krankheit gerichteten Erzählung: Der Mensch vermag es nicht, von ihr „davonzukommen“, er ist ihr „nackt“ ausgesetzt. War das etwa bei der Cholera anders? Und bei Corona? Kaum. Pestolerona also? Nein, nicht übertreiben mit der Wortschöpferei!

Was die Cholera angeht, die im Übrigen früher auch als „Pest“ bezeichnet wurde, hat Alexander Puschkin eine mit ihr einhergehende Zwangsquarantäne genutzt, um seinem Eugen Onegin literarisches Leben einzuhauchen. Nikolai Gogols „Tote Seelen“ sind ihr „wenigstens“ zum Teil zum Opfer gefallen. Aber es ist García_Márquez_DieLiebe_Bild_CoverScanvon diesen Autoren nur Heinrich Heine, der „direkt“, in einer Reportage, von dieser – im Paris von 1832 präsenten – Seuche „redet“. Im Unterschied zu Puschkin und Gogol, aber genauso wie bei García Márquez findet man bei Heine die Krankheit auch im Titel.

In García Márquez‘ Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ ist die Cholera Kontext, aber mehr noch Gleichnis. Dies in zweifacher Hinsicht: Sie steht für Vergänglichkeit schlechthin, der die Liebe eines alten Paares trotzt, obgleich auch sie ihr einmal anheimfallen wird selbstverständlich nur „vermittelt“, weil und wenn sie den Liebenden geschähe und nicht bereits zuvor … der Liebe. Wäre die Alternative eigentlich tröstlicher? Als das Schiff mit Fermina Daza und Florentino Ariza den Río Magdalena auf und ab schippert, befürchtet der Kapitän „daß nicht so sehr der Tod, sondern das Leben keine Grenzen kennt“ (García Márquez 1990, 487), sodass er dann auch seine Frage nach dem „Wie lange noch (diese Schiffsreise)?“, gleich selbst als rhetorisch an- und zurücknimmt. Und Florentino Ariza, der auf sie schon „53 Jahre, sieben Monate und elf Tage“ vorbereitet ist, antwortet folgerichtig: „Das ganze Leben.“ (Ebd.). Doch ist die Krankheit im Roman gewiss auch Gleichnis für das damalige Kolumbien um den Río Magdalena: für Armut, Elend in einer Höllenqualen auslösenden Hitze mit Moskitostichen. Die Augusthitze zu Coronas und unseren Zeiten wie Breiten lässt da gewisse Assoziationen aufkommen. Von den anderen im Vorvorsatz erwähnten Ingredienzien sind wir aber Gott sei Dank verschont.

Soweit die Hitze und die Liebe. Aber was ist mit der Cholera in García Márquez‘ Roman?

García Márquez‘ Sujet entwickelt sich am Ende der zweiten und zu Beginn der dritten weltweiten Cholera-Welle, zwischen 1849 und 1951. (Serpa Flórez 1992, 97; vgl. auch Sotomayor Tribin 1998, S. 78). Die Erreger in Kolumbien seien damals zum einen aus dem panamaischen Hafen Colón nach Kolumbien bzw. Nueva Granada gelangt, zum anderen über ein Dampfschiff aus New Orleans, das es im Zuge des Goldrausches bis nach Kalifornien schaffen wollte, und, in genau derselben Zeit, auch über einen Dampfer aus New York. In Cartagena habe damals die Krankheit ein Viertel der Bevölkerung dahingerafft und sich dann von der Karibikküste über den Río Magdalena ausgebreitet, von einer Flusshafenstadt zur nächsten, von Barranquilla über Honda nach Ambalena, um schon wenig später, über einen Mauleselweg, bis nach Bogotá weitergetragen zu werden.

Im Romantext können wir lesen, dass das Flussschiff mit Fermina und Florentino 1824 zur ersten Fahrt geflaggt wurde, doch das Liebespaar sei erst „ein gutes Jahrhundert später“ an Bord gegangen, also um die 1930er Jahre. Das bedeutet nicht nur, dass das Schiff da schon mächtig alt gewesen sein muss, es bedeutet auch, dass für das Werk des Gabriel García Rio_Magdalena_Bild_wiki_CCMárquez‘, der als erstes von insgesamt elf Kindern 1927 zur Welt gekommen war und für den Roman als „Reporter“ die Liebesgeschichte seiner eigenen Eltern erfragt haben will, der letztgenannte Zeitpunkt schlüssiger zu sein scheint als der von Serpa Flórez behauptete. Immerhin hat – so wie Florentino im Roman – auch Gabos Vater das Herz seiner späteren Frau über Poeme und Serenaden gewonnen. Mehr noch, für die Zeit um 1930, in der sich die Romanhandlung entfaltet, wurde in der Medizingeschichte gar keine Cholera-Pandemie-Welle registriert, erst recht nicht für Lateinamerika und schon gar nicht für Kolumbien (vgl. González Valdés/Casanova Moreno/Pérez Labrador 2011, S. 3). Und so darf wohl angenommen werden, dass der geniale Autor etwas „zusammengeschnitten“ haben wird: die ihm und im nationalen Bewusstsein noch immer lebendige Erinnerung an die dritte Cholera-Welle und die Liebesgeschichte seiner Eltern, die erst rund 70 Jahre später stattgefunden haben kann.

Das Schiff, der Fluss und die Cholera-Leichen „drumherum“

Wie dem auch sei: Das Flussschiff im Roman, das das Paar bestiegen hat, heißt bezeichnenderweise „Fidelidad“ (Treue), wurde aber von Florentino „Nueva Fidelidad“ getauft. „Neue Treue“ also, die Fermina und Florentino für ihre Liebe, insoweit sie sich auf dem Schiff abspielte, nicht im Geringsten bezweifelt haben mögen. Aber „Neue Treue“ trifft es auch deshalb gut, weil es die beiden mit ihr in ihren alten Beziehungen nicht gar so ernstgenommen haben. Von Florentino erfährt man das direkt und immer wieder, von Fermina weiß man nur, dass sie auf die entsprechende Frage des Priesters im Beichtstuhl nicht antworten wollte.

Das Schiff tuckert also über den Río Magdalena, vorbei an Calamar, Barranca Vieja und Zambrano bis La Dorada. Kaum ist es an diesem Ort vorbeigefahren, wird das Liebespaar „vom widerlichen Gestank der Toten geweckt, die dem Meer entgegentrieben. Es gab zwar keine Kriege mehr und keine Pest (Pest steht auch hier für Cholera H.Z.), doch sah man immer noch die aufgedunsenen Leihen vorbeitreiben“ (García Márquez 1990, S. 471). Der Kapitän hatte „Anweisung“, dem Paar zu sagen, „dass es sich um zufällig Ertrunkene“ handele.

Magangué_Bild_wiki_CC_Uribe-Silva_Auch der Autor, also Gabo und zwar als junger Mann, der da gerade sein Studium abgebrochen hatte, riskierte es zusammen mit seiner Mutter, eine solche Flussfahrt zu unternehmen, allerdings, anders als seine Romanhelden, nicht in der luxuriösen Präsidentensuite eines Flussdampfers, sondern auf einem klapprigen Motorschiff. Hier gab es nur stickige Kabinen mit jeweils zwei Feldbetten, erinnert sich der reisende Autor später, die schon von „armseligen Hürchen“ belegt waren, sodass ihm samt Mutter nur zwei Eisenstühle im Mittelgang blieben, die sie „überfallartig“ besetzten. „Die blutgierigen Moskitos, die Hitze, schwer und übelriechend vom Schlamm der Kanäle, den das Boot auf seiner Fahrt aufwirbelte, das Gewühl der schlaflosen Passagiere, denen es in ihrer Haut nicht wohl war, alles schien aufgeboten, um auch das abgehärtetste Gemüt aus dem Gleichgewicht zu bringen“, schreibt darüber García Márquez in seinen Memoiren (2002 , S. 14). Er, der zu dieser Zeit ausgesehen haben soll wie ein Bettler, musste zwar nicht betteln. Seine Eltern kritisierten in zwar für seine vermeintliche Lebensuntüchtigkeit, aber sie liebten ihn ja auch, doch im Unterschied zu Fermina und Florentina wird ihm auf dem Schiff sicherlich kein Champagner und Räucherlachs gereicht worden sein.

Magangué: Achte Cholera-Welle trifft auf erste Corona-Welle

Auch ich habe schon einmal auf den Río Magdalena geschaut, wenn auch nur vom Ufer aus, etwa sechzig Jahre später als das altverliebte Paar, aber vielleicht noch mit Gabo zusammen, wenn auch ganz sicher von einem anderen Ufer aus, und, ja, auch ich in einer Cholera-Welle, einer späteren wiewohl, der achten an der Zahl – der die Kolumbien 1991 erreichte. Das war in Magangué, an jenem Ort, der im Buch noch als Dorf beschrieben wird, in dem der Flussdampfer mit Fermina und Florentino Holz für den Rest der Reise lud. Ich selbst fuhr 1991 mit dem Bus dorthin und erlebte diesen Ort schon als eine Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnern. Allein, die Höllenhitze, in der die Konturen des Ortes geradezu „wegflimmerten“, die Finger anschwollen und der Schweiß in Bächen an den Beinen herablief, das grau-lehmige, leicht stinkende Flussbett, auf dem die Moskitos surrten … all das zeigte sich mir nicht viel anders als in García Márquez‘ Roman beschrieben. O.k., Leichen sah ich keine auf dem Fluss treiben …. aber den dortigen Fisch habe auch ich verschmäht. Heute, so heißt es, sei der mächtige Strom an manchen Stellen nur noch ein dünner Faden, sodass die Flussanwohner schon längst kein Wasser mehr aus ihm trinken und auch keinen seiner Fische kosten. „Caca“ werde nur noch „pur“ „genossen“, sagt man.

Nun hat auch hier, in Magangué, längst Corona die Cholera abgelöst. Die Überlebenden der achten Cholera-Welle mögen aber noch beide Krankheiten vergleichen können: Mit einem Mal sind nun die Atemwege der Ort des Bösen und nicht mehr der Verdauungstrakt. Doch auch das Herz scheitert das eine um’s andere Mal … an beiden Krankheiten … ganz so wie es das zuweilen auch bei unerfüllter Liebe tut. Mit oder an Corona sind in Magangué inzwischen (die Zahl ist von Juni 2020) 1.167 Menschen verstorben. Hochgerechnet auf eine Million wären das 9.412 Tote. (http://www.magangue-bolivar.gov.co/noticias/reporte-de-casos-positivos-de-coronavirus-en-magangue) Der entsprechende kolumbianische Wert beträgt 186. Magangué hat also dessen 50faches zu ertragen. Das Territorium um den Río Magdalena im Norden gehört zu den in Kolumbien am meisten von Corona betroffenen Gebieten.

reporte_magangue_Bild_magangue-bolivar.gov.coZwar dürfen in Kolumbien die Menschen heutzutage nur zu lebensnotwendigen Besorgungen ihr Haus verlassen (über 60jährige dürfen das gar nicht), und zum Einkaufen ist ihnen das nur einmal in zwei Wochen erlaubt, wobei die letzte Nummer im Personalausweis entscheidet, ob jemand in den Supermarkt eingelassen wird oder nicht. Doch wie sollen die die geforderte „soziale Distanz“ wahren, die mit ihrer vielköpfigen Familie in einem einzigen, glühend heißen Raum unter einem Wellblechdach hausen und selbstverständlich alles tun, um in das verheißungsvolle, wenngleich lebensgefährliche Draußen zu entfliehen? Und davon gibt es viele Menschen in Magangué. Sehr viele. Das wiederum erinnert mich an die stickigen Kabinen auf dem Motorschiff, das Gabo nutzte. Und die Toten? Die von Corona, meine ich: Rituell-magische Totenwachen für Corona-Tote sind im heutigen Kolumbien verboten, sodass der Eine oder Andere das Krankenhaus meidet, weil er einen würdigen Tod dem schnellen Entsorgen vorzieht. Wie war das eigentlich bei der von García Márquez erinnerten Cholera? Konnte man sich damals schon in „richtigen“ Krankenhäusern „richtig“ heilen lassen? Und heute, wie ist es da?

Mit der Liebe in die Quarantäne! Oder mit der Seuche? Oder mit der Liebe in die Seuche?

Ich frage mich auch, ob Fermina und Florentino in ihrem Liebesglück überhaupt bemerkt haben, dass auf dem Fluss, auf dem sie schipperten, Cholera-Leichen schwammen, oder gar darüber nachgedacht, dass sie ihr Glück inmitten einer solchen Tragödie genießen? Im Roman habe ich dazu nichts gefunden. Die Liebe ist darin wohl doch so magisch, dass sie die – andere – Realität ver-schwimmen lässt. Für García Márquez‘ Darstellung indes konnte es wohl nichts Besseres geben als diesen Kontrast, oder ist es nicht doch eher Ähnlichkeit? Zwischen dem totes Fleisch gewordenen Schrecken einer unersättlichen Krankheit, nun auf der Flussoberfläche, und der – ja, auch der fleischlich ­– nicht minder unersättlichen Liebe des alten Paares in der Präsidentensuite. Aber, auch hier: „Es war unvermeidbar: Der Geruch von bitteren Mandeln ließ (…) stets an das Schicksal verhinderter Liebe denken“ (García Márquez 1990, S. 7), lautet der erste Satz dieses ungewöhnlichen Liebesromans und damit auch der über die Liebe in den Zeiten der Cholera. Dr. Urbino war es, der das roch, und er fand, dem seltsamen Geruch nachgehend, gleich zu Beginn der Geschichte … eine Leiche. Doch hier war Zyanid die Todesursache, weder Cholera noch Corona, auch nicht die Liebe, denn die blieb ja bis zuletzt „verhindert“.

Die Cholera-Symptome sollen übrigens ­– anfangs, so würde ich gern hinzufügen ­– denen der Liebe ähnlich sein: Genau wie sie können die Liebes-Schmetterlinge das eine oder andere Mageninnenleben ganz schön durcheinanderbringen. Und, allerspätestens, bei unerwiderter Liebe hat der Verliebte womöglich Koliken wie ein Cholera-Kranker. Cholera soll ja inzwischen heilbar sein, das Liebesleid unglücklich Verliebter aber nicht. Für dieses gibt es nicht einmal eine Medizin. Gegen Corona wird es ganz bestimmt einmal eine Medizin geben … allein für Liebeskummer steht eine solche tröstliche Nachricht wohl nicht zu erwarten. Ach so, wären für die Corona-Zeit nicht „Hundert Jahre Einsamkeit“ besser als gelebte Liebe wie „in den Zeiten der Cholera“?

Der Kapitän der „Nueva Fidelidad“ geht damit anders, umgekehrt, um: Er antwortet den bewaffneten Patrouillen, als diese sich seinem Schiff nähern, er habe drei Cholera-Fälle an Bord. Dann hisst er – das geschieht bei La Dorada – die gelbe Flagge der neuen „Pest“. Der Patrouillen-Kommandant schickt daraufhin das Schiff in Quarantäne. Eine derartige Isolation ist freilich das wahre Paradies für die „eingeschlossenen“ Liebenden: Von niemandem können sie nun gestört werden. Doch vor meinen Augen verschwimmt dieses wunderbare Bild mit dem eines Kreuzfahrtschiffes, dem es heute – war das nicht in Japan? – im Hafen anzulegen, nicht erlaubt ist: Denn an Bord ist ein einziger … Corona-Kranker, ein Superspreader. Mit ihm und gleichzeitig getrennt von ihm sind auf diesem nun Schiff auch tausende Gesunde, ihrerseits isoliert von ihm, dem Spreader, und auch von der gesunden Welt da draußen. Gewiss, auch das Draußen kann längst schon infiziert sein. Hört nun, angesichts der vom Spreader ausgehenden Gefahr, zwischen den Anderen auf dem Schiff die Liebe auf oder vollendet sie sich vielmehr gerade hier und gerade deshalb, mithin wegen der Isolation … so wie bei Fermina und Forentino … und, oh je, doch nicht etwa gar im doppelten Sinne des Wortes?! Da haben wir es: Die Quarantäne der Seuche an der Küste Japans versus die Quarantäne der Liebe vor der Seuche auf dem Río Magdalena, ihrerseits wiederum als Seuche … camoufliert … damit man sie nicht störe. Cholerona zwar in beiden Kontexten, doch jeweils anders, aus anderen Gründen, „quarantänisiert“, ob eingekapselt oder ausgekapselt.

Gibt es eine „a priori-Erinnerung“ an eine – hybride – Epidemie?

So tuckert und tuckert denn das kolumbianische Dampfschiff ohne Ende hin und her, weil ja auch die Liebe kein Ende kennt. Nein, die wirkliche Liebe wirklich nicht! Und wenn wir genau hinschauen auf den hitzeumflorten und schlammgebeutelten Río Magdalena … dann tuckert das Schiff noch heute. Denn eine solche Liebe wie die von Fermina und Florentino … endet nie. Cholerona sei Dank, wenn sie Liebende in ihrer Liebe einkapselt. Cholerona sei verflucht, wenn sie Liebende wegen Krankheit eines Einzigen trennt. Hatte der Spreader von Japan eigentlich eine Liebe auf dem Schiff oder auch an Land?

Ja, García Márquez‘ hat das mit Corona vorausgesehen. Weil er bereits mit der Cholera auch Cholerona schon antizipierte. Daran habe ich keinerlei Zweifel ­– da sich die Liebe und der Tod, egal bei welcher Krankheit, zueinander immer gleich verhalten. So wie es mit der Liebe bei der Cholera war, wird es mit der Liebe bei Corona sein. So gesehen ist García Márquez‘ Buch eines für die Ewigkeit. Des Autors Magie macht selbst das möglich: sich „a priori zu erinnern“. A posteriori wäre es ja Wissen. Wissen aber ist viel zu langweilig und gehört weder in diesen noch in seinen Text. Erst das Fabulieren macht das „Erinnern der Zukunft“ möglich! Ganz bestimmt! Auch jenseits des „magischen Realismus‘“!García_Márquez_Leben_Bild_CoverScan

Epigraph statt Epitaph

„Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen“, schreibt Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez (2002, S. 7) in seinen Memoiren. Das „Erinnern in die Zukunft“ gehört dazu. García Márquez muss es gewusst haben: Wenn wir uns an vorheriges Leben nicht erinnerten, weil wir es nicht erzählten, würde es uns schlechter gehen als bei jeder Krankheit: Denn dann hätte unser Leben gar nicht stattgefunden, und noch weniger wüssten wir um seine Endlichkeit. Wenn wir uns aber nicht auch an künftiges Leben erinnern und auch davon nicht erzählen könnten, hätten wir keine Vorstellung davon, wie Liebe den Tod besiegt. Wir hätten also keine Utopie.

Und ja! Das Motto von García Márquez‘ Autobiographie ist ein Epigraph, kein Epitaph! Das gibt Hoffnung … nicht nur als vorauseilende Magie!

 

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Literatur:

En la época de pandemia resurge „El amor en los tiempos del cólera“. In: https://www.eluniverso.com/entretenimiento/2020/05/03/nota/7830621/amor-tiempos-colera-gabriel-garcia-marquez-ventas-disparan (Zugriff 31.07.2020).

García Márquez, Gabriel (1990): Die Liebe in den Zeiten der Cholera. Berlin/Weimar (Aufbau-Verlag).

García Márquez, Gabriel (2002): Leben, um davon zu erzählen. Köln (Kiepenheuer & Witsch).

González Valdés, Laura Margarita/Casanova Moreno, María de la C./Pérez Labrador, Joaquín (2011): Cólera: historia y actualidad. In: Revista de Ciencias Médicas de Pinar del Río, Vol. 15, No. 4, ohne Seitenzahlen).

Göttin der Zerstörung (2020). In: Spiegel. Edition. Das Beste aus Spiegel Geschichte, No. 2, 78 – 79.

http://www.magangue-bolivar.gov.co/noticias/reporte-de-casos-positivos-de-coronavirus-en-magangue (Zugriff: 31.07.2020).

Naranco, Rafael del (o.J.): En tiempos del coronavirus ¿cómo no recordar a Gabriel García Márquez y El amor en los tiempos del cólera? In: Alnavío, https://alnavio.com/noticia/20767/libros/en-tiempos-del-coronavirus-como-no-recordar-a-gabriel-garcia-marquez-y-el-amor-en-los-tiempos-del-colera.html (Zugriff 31.07.2020).

Papasquiaro, Mario Santiago (2020): En los tiempos del Cólera, el Coronavirus (Covid -19) y otros demonios. In: Revista Colombiana de Ortopedía y Traumatología, Vol. 34, No. 1, 1 – 4.

Schülke, Sophia: Die Liebe in den Zeiten der Cholera‘ verrät seuchenfeste Erkenntnis. In: https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saar-kultur/die-liebe-in-den-zeiten-der-cholera-verraet-seuchenfeste-erkenntnis_aid-49678631 (Zugriff 31.07.2002).

Serpa Flórez, Fernando (1992): Historia del Cólera en Colombia. In: Biomédica. No. 3 – 4, 95 – 101.

Sotomayor Tribín, Hugo Armando (1998): Historia geopolítica de las enfermidades en Colombia. In: Maguare, No. 13, 73 – 84.

 

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Bildquellen: [1,2,4]wiki_CC; [3,7] CoverScans; [5]wiki_CC_Uribe-Silva; [6]magangue-bolivar.gov.co

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