Eine kritische Bücherschau zum 210. Jahrestag der Unabhängigkeit
Als der Westteil der Insel Hispaniola am 1. Januar 1804 unter dem Namen „Haiti“ seine Unabhängigkeit erklärte, war die neue Republik neben den Vereinigten Staaten das einzige Land der westlichen Hemisphäre, das sich vom Kolonialjoch europäischer Imperien hatte befreien können. Auch wenn es den ehemaligen Sklaven gelungen war, die von Napoleon Bonaparte entsandten Truppen in die Flucht zu schlagen, so war ihr weiteres Schicksal dennoch höchst ungewiss. Heute wissen wir, dass die nordamerikanische (USA) und die karibische Unabhängigkeitsrevolution (Haiti) in Spanisch-Amerika ihre erfolgreiche Fortsetzung fanden. Deren anerkannter Führer, der in Caracas gebürtige Libertador Simón Bolívar, war im Januar 1816 sogar vom damaligen Präsidenten Haitis, Alexandre Pétion, empfangen worden. Zu einem Zeitpunkt, als Spanien seine amerikanischen Kolonien weitgehend zurückerobert hatte, stellte ein farbiges Staatsoberhaupt dem weißen Kreolen alles Nötige – Waffen, Soldaten, Schiffe, Verpflegung – zur Verfügung, damit dieser seinen Kampf fortsetzen konnte.
Haiti selbst konnte seine politische Selbständigkeit unter den veränderten Bedingungen zwar wahren, geriet aber ökonomisch in einem Abwärtsstrudel und wurde dann von 1915 bis 1934 durch die USA besetzt. Heute ist Haiti das ärmste Land des Doppelkontinents und bekannt dafür, dass Naturkatastrophen dort besonders viele Opfer fordern. Hinzu kommt seine chronische politische Instabilität. Hans Christoph Buch hat seiner 2010 erschienenen Publikation über Haiti, die in der Hauptsache eine Textcollage über die politischen und militärischen Kämpfe von 1791 bis 1803 beinhaltet, den bezeichnenden Titel „Nachruf auf einen gescheiterten Staat“ gegeben. Es ist ebenso bezeichnend, dass dieser Staat nur dann unsere kurzzeitige Aufmerksamkeit findet, wenn er von solchen Katastrophen wie dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 heimgesucht wird. Eine gewisse Ausnahme stellte der 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Haitis dar. Das runde Jubiläum von 2004 bot mehr Anlass als sonst, sich tiefer und intensiver mit der Inselrepublik zu beschäftigen. Seitdem sind wieder zehn Jahre ins Land gegangen, so dass eine erneute Betrachtung mit der haitianischen Revolution sinnvoll erscheint.
Haiti und die Abschaffung der Sklaverei
Meine eigene, etwas intensivere Annährung an die haitianische Revolution geht auf das Jahr 1984 zurück. Damals publizierte der DDR-Verlag „Neues Leben“ die deutsche Übersetzung des bekannten Werkes von C. L. R. James „The Black Jacobins“, welches 1938 in London erstmals verlegt worden war. Dieser Klassiker schildert nicht nur das Wirken von Toussaint L’Overture, der Zentralfigur der haitianischen Revolution, auf sehr einprägsame Weise. James‘ Verdienst besteht hauptsächlich darin, dass er diese Befreiungstat als das würdigt, was sie war: Die einzig siegreiche Sklavenrevolution der Weltgeschichte. Nicht nur in dieser Hinsicht haben die „Schwarzen Jakobiner“ die antikolonialen Revolutionen im Norden und Süden des amerikanischen Kontinents überflügelt. Mit der radikalen Zerschlagung der Sklavenordnung haben sie zugleich eine tiefgreifende soziale Revolution in Gang gesetzt, während die Euroamerikaner sich mit dem politischen Akt der Unabhängigkeit von ihren Mutterländern zufrieden gaben.
„Haiti ist ein einmaliger Fall in den Amerikas: eine vollständige Revolution, die eine totale Umwälzung des sozialen, politischen, intellektuellen und wirtschaftlichen Lebens bewirkte. Im Sozialen wurde die niedrigste Schicht der Gesellschaft – die Sklaven – zu freien und unabhängigen Bürgern. Politisch schufen diese neuen Bürger den zweiten unabhängigen Staat in den Amerikas und den ersten unabhängigen nichteuropäischen Staat, der von jedwedem der universellen europäischen Imperien abgeschnitten war. Das haitianische Modell der Staatsbildung stärkte den xenophobischen Schrecken im Herzen aller Weißen von Boston bis Buenos Aires …“. [1]
Die Unabhängigkeit war für die um ihre Freiheit kämpfenden Sklaven eher notwendiges Erfordernis am Ende eines langen und opfervollen Weges als angestrebtes Ziel. Notwendig deshalb, weil das bonapartistische Frankreich 1802 die Sklaverei wieder einführen wollte und zu diesem Zweck 40.000 seiner besten Truppen nach Saint-Domingue, so der koloniale Name des späteren Haiti, entsandte. Auch die mit Frankreich rivalisierenden europäischen Kolonialimperien wollten nichts weniger als eine Sklavenbefreiung, erst recht nicht, wenn die Sklaven sich bereits selbst befreit hatten.
Das haitianische Beispiel zeitigte sowohl kurz- als auch mittelfristig seine durchschlagenden Wirkungen: Die Briten stellten 1808 und die Franzosen zehn Jahre später ihren Sklavenhandel ein. Ein Verbot der Sklaverei als Institution folgte jeweils ca. 30 Jahre später (Großbritannien zwischen 1834 und 1838; Frankreich im europäischen Revolutionsjahr 1848). Die USA brauchten dafür einen blutigen, fünf Jahre währenden Bürgerkrieg. Dort erfolgte die Sklavenemanzipation erst 1863. Brasilien, das sich 1822 von Portugal unabhängig und zum Kaiserreich erklärt hatte, hob die Sklaverei gar erst 1888 auf. Spanien war diesen Schritt zuvor in seinen karibischen Kolonien – in Puerto Rico 1873 und in Kuba 1886 – gegangen. Die Historiker debattieren noch immer darüber, welcher der drei infrage kommenden Faktoren – Niedergang der Plantagenökonomie, Abolitionsbewegung, Haiti und seine Folgen – den Ausschlag bei der Abschaffung der Sklaverei durch die europäischen Mächte und die lateinamerikanischen Staaten gegeben hat. Zwar können sowohl der These, dass mit dem Aufschwung der industriellen Revolution in Großbritannien effektivere Formen der Mehrwertproduktion die Sklavenarbeit schrittweise überflüssig machten, als auch dem Verweis auf die Dauer und Breitenwirkung der Abolitionsbewegungen eine gewisse Plausibilität nicht abgesprochen werden. Dennoch dürfte dem revolutionären Akt der Selbstbefreiung der Sklaven von Saint-Domingue das größte Gewicht zukommen.
Die Verfasser von „Schwarzes Amerika“ (2008), in dem alle drei Faktoren ausführlich diskutiert werden, wichten diese in folgender Weise: Der von Eric Williams 1944 in „Capitalism and Slavery“ vertretenen These, dass die sklavenbasierte Plantagenökonomie seit der Unabhängigkeit der USA in einem „unaufhaltsamen Niedergang“ begriffen gewesen sei und dass deshalb weniger die „religiös-moralisch motivierten Abolitionisten“ als vielmehr die Vertreter der „wirtschaftsliberal orientierten britischen Industrien“ die Abschaffung der Sklaverei bewirkt hätten, erteilen sie mit Verweis auf neuere Forschungsergebnisse eine Absage (Schwarzes Amerika, S. 78ff). Stattdessen stellen sie die zentrale Bedeutung der Kritik der Sklaverei durch die Abolitionisten heraus (S. 161ff). In Bezug auf den Ansatz der slave agency, der die aktive und eigenständige Rolle der Sklaven im Prozess der Sklavenbefreiung betont, kommen die Verfasser von „Schwarzes Amerika“ – nachdem sie noch einmal selbst auf die haitianische Revolution verwiesen hatten (zuvor ausführlicher S. 155-160) – zu folgendem Schluss:
„Aber dennoch waren es nicht in erster Linie die Sklaven, die den Wandel herbeiführten, den wir mit den Begiffen ‚Abolition‘ und ‚Emanzipation‘ bezeichnen. … So bedeutsam aber auch die Sklaven für die politische Durchsetzungvon Abolition und ‚Sklavenemanzipation‘ (…) waren, (…), so wenig waren Sklaven in der Lage, das System in seinen Grundfesten zu erschüttern, solange es sich auf einen weitreichenden Konsens herrschender Elite (…) stützen konnte“ (S. 164).
Zwischen Vorbild und Dämonisierung
Geht man nun der Frage nach, wer oder was diesen Elitenkonsens aufgebrochen haben könnte, so kommt man an der haitianischen Revolution nicht vorbei. Sie stellt gewissermaßen das Epizentrum jenes Prozesses dar, der das System der neuzeitlichen Massensklaverei zum Einsturz brachte. Zugunsten dieser Position können mindestens vier Argumente geltend gemacht werden.
Erstens die real-historische Bedeutung der Revolution in Haiti selbst: Als 1789 in Frankreich die Revolution ausbrach, war Saint-Domingue die ertragreichste Kolonie der westlichen Hemisphäre. Zwei Drittel des französischen Kolonialhandels, der sich insgesamt auf 600 Millionen Franc belief und damit über dem britischen Kolonialhandel von 450 Millionen lag, entfielen allein auf Saint-Domingue. Der Anbau bzw. die Produktion von Zucker, Kaffee, Baumwolle und Indigo durch afrikanische Sklaven bildete die materielle Grundlage des ungeheuren Reichtums, den Plantagenbesitzer, Kolonialhändler und Aristokraten anhäufen konnten. Zwischen 1764 und 1791 wuchs die Zahl der Sklaven von 206.000 auf 480.000 an. Im Jahr 1791, das den Ausbruch der haitianischen Revolution markiert, umfasste die weiße Bevölkerung 40.000 Menschen, die Zahl der Farbigen (Mulatten) und freien Schwarzen lag mit 30.000 etwas niedriger. Bezogen auf alle großen karibischen Sklavenkolonien (in Saint-Domingue, Martinique, Jamaika, Barbados, Kuba und Puerto lag die Zahl der Sklaven Ende 18. Jahrhunderts bei insgesamt 820.000) dürfte der Anteil der Sklaven, die allein im Westteil Hispaniolas lebten, damals 60 Prozent überschritten haben. Der Verlust der bedeutendsten Sklavenkolonie sowie der Fakt, dass sich weit mehr als die Hälfte der karibischen Sklaven aus eigener Kraft befreien konnten, hat das gesamte Sklavensystem bis in die Grundfesten erschüttert.
Zweitens die Beispielwirkung, die die haitianische Revolution für nachfolgende Sklavenaufstände hatte: So erhoben sich 1823 in der britischen Kolonie Demerara-Essequibo auf über 50 Plantagen 12.000 von insgesamt 77.000 Sklaven. In den USA kam es im August 1831 unter der Führung von Nat Turner zum Aufstand. Die Sklavenrebellion von 1831 auf Jamaika schockte die dortige Pflanzerelite derart, dass sie Zuflucht zum Ethnozid nahm. Auch die Sklavenrebellion von Salvador da Bahia 1835 in Brasilien zählt zu den großen Aufständen, die den amerikanischen Doppelkontinent erschütterten (siehe dazu: Schwarzes Amerika, S. 153ff; Schwarze Karibik, S. 179). Auch wenn diese Aufstände den Erfolg der haitianischen Revolution nicht wiederholen konnten, stellen sie dennoch unübersehbare Zeichen der zunehmenden Schwächung des Sklavensystems dar. Das unabhängige Haiti war Fanal, abschreckendes Beispiel und Menetekel zugleich. Die Sklaven erkannten darin das Fanal ihrer künftigen Freiheit, den Reformern (Abolitionisten) war es Mahnung und Antrieb nicht zuletzt deshalb, um einem zweiten Haiti zuvorzukommen, und den Sklavenhaltern galt Haiti als Menetekel für den worst case.
Drittens die Doppelwirkung Haitis auf Spanisch-Amerika: Als Bolívar 1815 mit haitianischer Hilfe den dritten und diesmal erfolgreichen Anlauf zur Erlangung der Unabhängigkeit Spanisch-Amerikas startete, musste er seinem Förderer Pétion versprechen, den dort lebenden Sklaven die Freiheit zu gewähren, was der Libertador ein Jahr später per Dekret auch in die Tat umsetzte. Dahinter stand aber auch ein gerütteltes Maß an strategischem Kalkül. Mit seiner „Rassenstrategie“ (Rehrmann, S. 91ff) verfolgte Bolívar ein doppeltes Ziel. Zum einen hatte er begriffen, dass er den Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier, der in weiten Teilen zugleich ein Bürgerkrieg innerhalb der kreolischen Oberschicht war, nur gewinnen konnte, wenn er die pardos, so die damalige Bezeichnung für die nicht-weiße, zumeist afrika-stämmige Bevölkerungsmehrheit, auf seine Seite ziehen konnten. Eigentlich hatten es ihm die Spanier sogar schon vorgemacht. Um genügend Soldaten rekrutieren zu können, scheuten sie nicht vor einer gezielten Freilassung der Sklaven zurück. Wie groß die militärische Bedeutung der Rekrutierung freigelassener Sklaven für den Erfolg in den spanisch-amerikanischen Unabhängigkeitskriegen war, belegen folgende Angaben: „In Argentinien standen zwischen 1815 und 1818 4000 bis 5000 Sklaven in den Reihen der Unabhängigkeitsstreitkräfte. Als San Martín 1817 von Argentinien aus Chile einnahm, wurde die Hälfte der Streitkräfte von Schwarzen gestellt. Etwa 5000 Sklaven kämpften zwischen 1819 und 1821 auf Seiten Bolívars, und auch in Ecuador stellten die Sklaven etwa ein Drittel der Rekruten“ (Schwarzes Amerika, S. 207).
Zum anderen wollte Bolívar mit seiner „Rassenstrategie“ einen „guerra de razas“ (Rassenkrieg) nach haitianischem Muster verhindern. Indem er den Sklaven die persönliche Freiheit gab, wurden sie wie andere Teile der sozialen Unterschichten zur Rekrutierungsmasse im Kampf um ein „kreolisches Vaterland“ (patria del criollo). Zugleich konnte er auf diese Weise einer „haitianischen Wende“ des Unabhängigkeitskrieges den Riegel vorschieben. Haiti hatte damit eine doppelte Wirkung auf Spanisch-Amerika: In den nunmehr unabhängigen Republiken beförderte sein Beispiel direkt die Abschaffung der Sklaverei (auch wenn sich diese teilweise bis in die 1850er Jahre hinzog), gleichzeitig konnte die kreolische Führungsschicht einen Rassenkrieg á la Haiti vermeiden.
Viertens Haiti als Angst- und Abschreckungsfaktor: Die sozial-revolutionär erkämpfte Unabhängigkeit Haitis löste eine Schockwelle aus, die die Nutznießer des kolonialen Sklaverei-Plantagen-Komplexes zutiefst erschreckte und verunsicherte. Mit Verweis auf Haiti konnten nunmehr alle, die aus moralischer Entrüstung, politischer Weitsicht oder ökonomischem Kalkül für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, diese mit weitaus größerer Plausibilität und Empathie einfordern, als es zuvor möglich schien. Wie groß die Furcht vor dem haitianischen Beispiel war, zeigen die verbissenen Anstrengung Frankreichs, Großbritanniens und Spaniens, die Emanzipationsbewegung der Sklaven für die eigenen Zwecke zu kanalisieren, sie einzudämmen oder mit brutaler Gewalt zu ersticken. Als die europäischen Kolonialmächte und euroamerikanische Elite der unabhängig gewordenen Staaten erkennen mussten, dass die Unabhängigkeit des schwarzen Haitis sich nicht mehr rückgängig machen ließ, versuchten sie es mittels Embargo, Nichtanerkennung und Ausgrenzung zu isolieren. Eine andere Variante stellte die Implementierung und Zementierung wirtschaftlicher Abhängigkeit dar. Haiti war der einzige Staat, der nicht zur pan-amerikanischen Konferenz 1826 in Panama eingeladen worden war. Die USA verhängten von 1806 bis 1810 ein Embargo gegen den jungen Staat und verweigerten ihm die Anerkennung bis 1863. Bis in die 1840er Jahre hinein durften haitianische Schiffe keine Häfen in den britischen Kolonien anlaufen. Die französische Anerkennung 1825 musste sich Haiti mit exorbitanten Reparationen in Höhe von 150 Millionen Francs erkaufen, die die Inselrepublik wirtschaftlich bis ins Mark trafen.
Debatten über den historischen Ort der haitianischen Revolution
In Anlehnung an „Explosion in der Kathedrale“ des kubanischen Schriftstellers Alejo Carpentier [2] ließe sich die Bedeutung der haitianischen Revolution metaphorisch als „Explosion im Herzen des Ungeheuers“ beschreiben. Zwar sollte es noch bis 1888 dauern, ehe Brasilien als letztes Land der westlichen Hemisphäre die Sklaverei abschaffte. Im Rückblick wird jedoch klar, dass der entscheidende Impuls für den Niedergang und das Ende des westlichen Plantagen-Sklaverei-Komplexes von der siegreichen Revolution in Haiti ausging. Trotz oder besser: wegen dieser Bedeutung wurde Haiti nach 1804 nicht nur als Paria-Staat behandelt, sondern es wurde auch versucht, das Bild seines revolutionären Befreiungsaktes nachträglich zu retuschieren. Mit dieser Methode wollten die weißen Eliten dessen Ausstrahlung kleinreden und umdeuten.
Die Positionierung gegenüber der haitianischen Revolution im 19. Jahrhundert findet ihre Fortsetzung im aktuellen Widerstreit der Meinungen über den Platz der „schwarzen Jakobiner“ in der Geschichte. Mit Verweis auf den Klassiker von C. L.R. James sehen die einen in Haiti den Vorkämpfer der Entkolonialisierung, der Abschaffung der Skalverei und des „schwarzen Internationalismus. Die haitianische Revolution wird als eine der bedeutendsten Revolutionen der westlichen Welt gewürdigt, in der sich die Sklaven selbst befreit und eine neue Nation ohne Sklaverei begründet haben. Auf der Gegenseite findet sich ein Sammelsurium aus Schweigen, Herunterspielen, tradierten Clichés sowie Betonen der negativen Aspekte der haitianischen Revolution.[3] So hat eine Untersuchung von 1998 ergeben, dass in den USA nur sechs von 21 relevanten Lehr- und Studienbüchern die Revolution in Haiti thematisieren.[4]
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick in relevante Bücher, die im deutschsprachigen Raum erschienen sind. Legt man das DDR-Standard-Werk „Revolutionen der Neuzeit 1500-1917“ von 1982 zugrunde, in dem immerhin 23 Fälle analysiert werden, Haiti dabei jedoch nicht vorkommt, dann spielte der karibische Ausnahmefall in der Revolutionsgeschichtsschreibung der DDR keine große Rolle. Aber auch in jüngeren Publikationen wie „Die großen Revolutionen der Welt“ von Jürgen Nautz (Wiesbaden 2008) oder „Große Revolutionen der Geschichte. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart“ mit Peter Wende als Herausgeber (München 2000) fehlt Haiti.
In Standardwerken zu Lateinamerika und seinen Unabhängigkeitsrevolutionen wird der haitianische Revolution hingegen ihr legitimer Platz zumeist eingeräumt. Sowohl in der „Kleinen Geschichte Lateinamerikas“ von Hans-Joachim König (Stuttgart 2006) als auch im „Handbuch der Geschichte Lateinamerikas“ wird diese – allerdings in unterschiedlicher Weise – thematisiert: König widmet ihr eine eigenes Kapitel von zehn Seiten. Gert Oostindie, der verantwortliche Autor des Abschnitts über die Karibik 1760-1820 im Band 2 (1992) des „Handbuches“, würdigt den „Werdegang des französischen St. Domingue“ zwar als „herausragende Ausnahme in der Geschichte der Region“ (S. 361), widmet dann aber dem Zeitraum zwischen 1791 und 1804 lediglich zwei Seiten (362-364). Stefan Rinke, der sich in seinem Buch „Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760-1830“ explizit den lateinamerikanischen Unabhängigkeitsrevolutionen zuwendet, behandelt den haitianischen Fall exponiert: Das entsprechende Kapitel „Das Vorzeichen: Die Revolution von Haiti, 1789-1804“ ist eines von sechs und umfasst mit ca. 50 von 400 Seiten ein Achtel des Gesamtumfangs. Aber auch in seinen Wertungen und Interpretationen kann er jenem „Haitian Turn“ zugerechnet werden, den Celucien Joseph einfordert und kommen sieht (vgl. FN 2).
„Die haitianische Revolution war in der Tat ein Wendepunkt der Geschichte. Wie die Hiroshima-Bombe konnte ihre Bedeutung rational erklärt oder verdrängt, aber nie wirklich vergessen werden, denn sie zeigte jeder Sklaven haltenden Gesellschaft der Neuen Welt ihr mögliches Schicksal auf.“ Dieses Zitat stammt zwar aus der Feder von David Brion Davis (Inhuman Bondage: The Rise and Fall of Slavery in the New World, Oxford 2006, S. 158), gibt aber sehr gut die Position von Rinke wieder, der Davis‘ Einschätzung teilt und ihn deshalb in seiner Zusammenfassung zur haitianischen Revolution zitiert (dort S. 115).
Was zählt?
Ausgehend von der Bedeutung und dem Verlauf der haitianischen Revolution eröffnen sich verschieden Möglichkeiten ihrer Verortung in der Geschichte: Als einzige siegreiche Sklavenrevolution stellt sie aus globalgeschichtlicher Perspektive das Epizentrum der Sklavenemanzipation dar. In dieser Eigenschaft verkörpert sie einen Universalismus von Gleichheit und Freiheit, der jenseits jeder euro-zentristischen Vereinahmung liegt. Aus der Perspektive der „atlantischen Revolutionen“ ist sie Schnittpunkt, Bindeglied und Zuspitzung höchst unterschiedlicher Konflikte und Prozesse. „Der Kernkonflikt war der Krieg der Sklaven gegen ihre Herren und der kolonialen ‚Objekte‘ gegen den Kolonialismus Frankreichs (und Europas). Es war eine soziale Revolution äußerst gewaltsamer Form…“ (Schwarze Karibik, S. 161). Daneben nennt Rinke noch die Konflikte über den Status der freien Schwarzen, über die Stellung der Insel innerhalb des französischen Kolonialreichs sowie über den Besitz der Insel zwischen den miteinander verfeindeten Mächten England, Frankreich und Spanien (Rinke, S. 114/ 115). Er hebt ferner die Stellung der haitianischen Revolution als „Bindeglied zwischen den US-amerikanischen, französischen und lateinamerikanischen Revolutionsprozessen“ (S. 115) hervor. Aus lateinamerikanischer Perspektive stellt sich dann allerdings die Frage, ob Haiti für die Unabhängigkeit Lateinamerikas mehr als „nur“ ein „Vorzeichen“ war. Wenn der Leipziger Historiker Hans Bach in seinem Nachwort zu „Explosion in der Kathedrale“ Haiti „zum ersten unabhängigen Staat Lateiamerikas“ (dort S. 436) erklärt, dann verweist dies immerhin auf die lateinamerikanische Identität der Inselrepublik, die heute unbestritten ist.
Michael Zeuske stellt einen weiteren Aspekt der historischen Ortsbestimmung heraus: „Der Krieg der Sklavenguerillas und schließlich -armeen gegen ihre Herren, deren Milizen und europäische Kolonialtruppen war zugleich eine ethnische Revolution welthistorischen Ausmaßes. Ethnisch war sie insofern, als die Revolution eben ein völlig neues Ethnos hervorbrachte: Die circa 200.000 bis 250.000 überlebenden Ex-Sklaven aus vielen Gebieten Afrikas bildete das Volk der ‚Haitianer‘. Eine revolutionäre Traditionsbeschaffung par excellence“ (Die schwarze Karibik, S. 161).
Die vielfältigen Richtungen und Möglichkeiten zur historischen Ortsbestimmung der haitianischen Revolution verweisen zugleich auf eine Reihe von Schwierigkeiten bei ihrer Analyse. Zum ersten sind hier die zahlreichen Wechselwirkungen und Überscheidungen zwischen verschiedenen Konflikten, Akteuren, Revolutionen, Kriegen etc. zu beachten. Besonders die Interaktionen von Klasse-Rasse-Nation erschweren die Arbeit des Historikers. Die sich daraus entwickelnde Dynamik und „Verknäulung“ der Ereignisse macht eine zweite Schwierigkeit aus. Ein drittes Aspekt sind die Kosten und Folgen des Gesamtprozesses, in dem sich Revolution, Konterrevolution und Kriege mischten und überschnitten. Er „kostete die Hälfte der Einwohner das Leben; die Bevölkerungszahlen fielen von circa 520.000 (1789) auf circa 240.000 (1804). Von 1791 bis 1804, vor allem von 1802 bis 1804, gab es etwa 40.000 Tote auf französicher Seite, auf britischer Seite rund 80.000 Kriegsopfer“ (Schwarze Karibik, S. 162).
Wie schwierig eine klare Positionsbestimmung bezüglich der haitianischen Revolution ist, zeigt sich in der Nicht-Kongruenz ihrer historischen Bedeutung und ihres Hauptergebnisses: Ersteres bezieht sich auf die globale Signalwirkung gegenüber der atlantischen Sklaverei, gegenüber dem europäischen Kolonialismus und gegenüber der schwarzen Karibik (ebenda). Derselbe Autor kommt auf S. 180 zu folgendem Schluss: „Das Hauptergebnis der Revolution für die ehemaligen Sklaven auf Haiti (kursiv hervorgehoben v. P.G.) war aber nicht der neue Staat und auch nicht die Verfassung. Die Hauptergebnisse waren Freiheit und Land.“ Es bleibt das Fazit, dass die eigentliche, der Bedeutung des Themas endlich gerecht werdende Beschäftigung mit der haitianischen Revolution gerade erst begonnen hat. Der „Haitian Turn“ eröffnet ein weites und spannendes Feld historischer Forschung und Debatte. Freuen wir uns darauf!
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[1] Knight, Franklin W.: The Haitian Revolution, in: The American Historical Review, vol. 105 (Feb. 2000), No.1, S. 104/ 105. Übersetzung aus: Schwarze Karibik, S. 167.
[2] „Explosion in der Kathedrale“ ist der Titel der deutschen Übersetzung, die 1964 im Insel Verlag (Frankfurt am Main) und zwei Jahre später auch im DDR-Verlag „Volk und Welt“ erschien. Der spanische Originaltitel des 1962 publizierten Werkes ist „El siglo de las luces“ und behandelt die revolutionären Umbrüche in der Karibik im Gefolge der französischen Revolution.
[3] Vgl. zu beiden Positionen das Essay von Celucien L. Joseph. Ders.: „The Haitian Turn“: An Appraisal of recent Literary and Historiographical Works on the Haitian Revolution, in: The Journal of Pan African Studies, vol. 5 (September 2012), No.6, S. 37-55. Zu den zeitgenössischen Reaktionen auf die Ereignisse in Saint-Domingue vgl. Schwarze Karibik, S. 163-180.
[4] Vgl. Peguereo, Valentina: Teaching the Haitian Revolution in Western and Modern World History, in: History Teacher, vol 32, (Nov. 1998) 1, S. 39. Dort sind in Fußnote 14 alle 21 Bände aufgeführt.
Literatur:
- Bernecker, Walther: Kleine Geschichte Haitis. Frankfurt a.M. 1996
- Buch, Hans Christoph: Haiti – Nachruf auf einen gescheiterten Staat. Berlin 2010
- Gliech, Oliver: Saint-Domingue und die Französische Revolution. Das Ende der weißen Herrschaft in einer karibischen Plantagenwirtschaft. 2011
- James, C. L. R.: Die schwarzen Jakobiner. Toussaint L’Ouverture und die San-Domingo-Revolution. Berlin 1984
- Meissner, Jochen/ Mücke, Ulrich/ Weber, Klaus: Schwarzes Amerika. Eine Geschichte der Sklaverei. München 2008
- Rehrmann, Norbert: Simón Bolívar. Die Lebensgeschichte des Mannes, der Lateinamrika befreite. Berlin 2009
- Rinke, Stefan: Revolutionen in Lateinamrika. Wege in die Unabhängigkeit 1760-1830. München 2010
- Zeuske, Michael: Schwarze Karibik. Sklaven, Sklavereikultur und Emanzipation. Zürich
Bildquellen: Public Domain.