Die militärische Intervention der USA in Haiti ist anders verlaufen als vorgesehen. Das Abkommen, das James Carter mit Diktator Raul Cédras schloß, sah keine grundlegenden Änderungen im Lande vor. Die Armee sollte in ihrer Grundfunktion nicht angetastet, sondern lediglich Reformen unterzogen werden. Präsident Aristide sollte zwar zurückkehren, doch er wäre wohl ebenso machtlos geblieben, wie der von ihm ernannte Ministerpräsident Robert Malval, der nicht verhindern konnte, daß die Menschen, die seiner Ernennung am 2. September 1993 zujubelten, vor seinen Augen von den berüchtigten „Attaches“ der Polizei verprügelt wurden.
Aber die Dinge haben sich anders entwickelt: Die Armee, deren Terror eine schreckliche Schleifspur in der haitianischen Geschichte hinterlassen hat, exisitiert nicht mehr. Aufgebaut wurde sie während der ersten US-amerikanischen Besetzung 1919, ihre Elite trainierte in US-Kasernen wie Fort Bragg, deren lateinamerikanische Offiziersabsolventen immer wieder mit den Todesschwadronen auf dem Halbkontinent in Verbindung gebracht werden. Nun, bei ihrer zweiten Intervention, stellten die Amerikaner fest, daß die Nachfolger der von ihnen trainierten Militärs eher eine kriminelle Bande als eine Armee befehligten. Als die Fernsehkameras der Welt vorführten, wie Menschen vor den Augen der landenden GI’s zu Tode geprügelt wurden, weil sie ihnen als Befreiern zujubelten, erschienen Reformen auch den Amerikanern nicht mehr geeignet für diese Armee. Als dann Granaten in einer Menschenmenge direkt neben US-Militärfahrzeugen explodierten, konnten sich auch die Befehlshaber der Intervention den Forderungen Aristides nach ihrer Verringerung von 7000 auf 1500 Mann nicht mehr entziehen. Und als schließlich haitianische Truppen am zweiten Weihnachtstag versuchten, ihr altes Hauptquartier zu besetzen, wurde endlich klar, daß diese Hauptstütze Duvaliers und der „Tonton Macoute“, diese Hüterin der Straflosigkeit, aufgelöst werden mußte, „krazenet“, wie die Haitianer auf kreolisch sagen. Aristide hat die UNO gebeten, im Rahmen ihres Sicherheitsmandates bei der Entwaffnung der Schergen des alten Sytems behilflich zu sein. Dies lehnte die UNO jedoch ab, nachdem schon die US-Truppen daran gescheitert waren.
Die zivilen Schergen des Systems, die „Attaches“, waren schon aus ihren Wohnvierteln und Stützpunkten vertrieben worden, die Bevölkerung selbst schleifte die „Avant-poste“ der Polizei noch in der Nacht der Ankunft Aristides. Die „Attaches“ hatten mit Knüppeln die Macht der „Chefs de section“ gesichert, die die Spitze des von Duvalier aufgebauten Überwachungssystems auf dem Lande darstellten. Auch sie sind von Aristide Mitte November entlasssen worden. 1500 der ehemaligen Armeeangehörigen wurden in die neue Interimspolizei eingegliedert. Diese soll nun die Kriminalität bekämpfen. Damit ergibt sich natürlich ein neues Sicherheitsproblem. Zwei schwere Verbrechen in einer Provinzhauptstadt innerhalb von drei Monaten halten die ganze Umgebung in Atem, denn gewöhnliche Kriminelle kannte man bisher kaum. Doch obwohl immer wieder der Anstieg der „gewöhnlichen“ Kriminalität in Haiti beklagt wird, hat diese keinesfalls solche destabilisierenden Ausmaße wie in El Salvador angenommen, wo nach dem Friedensschluß von 1992 ebenfalls großer Teile der Armee demobilisiert worden waren.
Doch die Intervention hat keinesfalls die zahlreichen Probleme des Landes gelöst, sie hat mit der Rückkehr von Präsident Aristide und der Auflösung des Unterdrückungsapparates lediglich die Voraussetzung für eine demokratische Entwicklung geschaffen. Daß dies die Haitianer nun selbst bewerkstelligen müßten, betonte US-Präsident Clinton bei der Übergabe des Sicherheitsmandats an die UNO-Mission (UNMIH) am 3I. März. Allerdings haben die USA scheinbar auch jetzt nicht vor, mit ihren Ratschlägen hinter dem Berg zu halten. Der Konflikt um die Art der Demokratie, die nun zu errichten sei, wird zwischen ihren Interessenvertretern und denen, die eine gerechtere Verteilung der Ressourcen das Landes anstreben, ausgetragen. Dabei geht es für alle Beteiligten vornehmlich um die Wirtschaftsreform.
Private Monopolisten haben das Land so heruntergewirtschaftet, daß der einstige Zuckerexporteur Haiti heute den Zucker aus dem Nachbarland Dominikanische Republik importiert. Der Staat hatte die Konzession für seine Produktionsstätte HASCO an die Familie Mews verpachtet. Die machte sie dicht und begann mit dem profitableren Handel. Die großen Händler in Haiti haben komplette eigene Importlinien mit Geschäften in Miami, Schiffen und sogar Häfen, in denen sie keine Zölle bezahlen. Der staatliche Hafen in Port-au-Prince ist dagegen mit 600 $US pro entladenem Container der teuerste der Region (zum Vergleich USA: $US 160). Die reichsten Familien zahlen nicht einmal ihre Stromgebühren, weil der Computer des staatlichen Stromlieferanten angeblich ihre Adresse nicht hat. Diese unauffindbaren Kunden können nicht zur Kasse gebeten werden, werden aber weiterhin – kostenlos – mit Strom versorgt. Die Monopolisten verteidigen ihre Pfründe mit aller Brutalität: Pater Jean Marie Vincent wurde ermordet, weil er den Export von Kaffee für di e Kleinbauern organisierte. Bei einem Reifenimporteur wurde nach langer Wartezeit im Hafen plötzlich von der Polizei Raus chgift in den Containern gefunden. Ein künstlich herbeigeführter Preissturz führte zum Bankrott von Einsteigern in die Geflügelproduktion, weil eine Familie alles, von der Futterproduktion bis zur Vermarktung, unter Kontrolle hat. Anschließend stiegen die Preise wieder in für viele unbezahlbare Höhen.
In diesem Kontext erscheinen die Bestrebungen der US-Instanzen, der Weltbank und des IWF, die großen Staatsbetriebe der Produktion von Strom, Wasser, Zucker, Mehl und Zement, sowie die Telefongesellschaft und den Hafen zu privatisieren, in einem anderen Licht. Der Regierung Aristides war es in den 7 Monaten ihrer Amtszeit 1991 nicht gelungen, diese Betriebe rentabel zu machen. Sie können nur von ausländischen Konsortien oder von den haitianischen Monopolisten gekauft werden. Der Wert der Firmen ist aufgrund der Embargofolgen nicht eindeutig zu ermitteln. Die US-Instanzen werfen willkürlich Zahlen in die Verhandlungen ein, um die Privatisierung zu beschleunigen. Gleichzeitig besteht dringender Investitionsbedarf; die elementare Versorgung ist seit langem nicht mehr gewährleistet. Es werden aber keine Gelder freigegeben, solange die Regierung der Privatisierung nicht zustimmt.
In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Frage gestellt, wer eigentlich das Land regiere: Aristide oder die US-Strategen. Nach dem schleichenden Tempo zu urteilen, möchte man Gerard Pierre Charles, Chef der Organisation Politique Lavalas zustimmen, der meint: Keiner von beiden. Aristide fehlt der Apparat. Dies wird auf allen Ebenen sichtbar. Auch hohes Engagement kann die benötigte Fachkompetenz in der Verwaltung nicht ersetzen, die den Ministern vielfach fehlt. Die Bemühungen der US-Instanzen, die Entwicklung unter Kontrolle zu bringen, sind durch ihre Unkenntnis der haitianischen Gegebenheiten ebenfalls zum Scheitern verurteilt. So hat zum Beispiel US-AID (United States Assistance in International Development) 15 Angehörige der Abteilung Psychologische Aufklärung der Army eingesetzt, um die Justizreform zu lenken. Doch die Generäle und Obersten sind zwar im Zivilleben Richter, sprechen aber kein Französich, ganz zu schweigen von Kreolisch, der Sprache des Volkes. Ebensowenig sind sie mit dem haitianischen Rechtssystem vertraut, das sich an den Code Napoleon anlehnt. Inzwischen ist geplant, hochdotierte Anwälte aus den USA für ein Jahressalär von 400000 US$ einzufliegen. Doch die wirklichen Probleme wären billiger wirksamer zu lösen. Ein haitianischer Richter verdient keine 50$. Damit bleibt ihm keine Wahl, als Justitia an den meistbietenden zu verkaufen. Schließlich muß er seine Familie ernähren. Viele Richter gehen ansonsten nur nach ihrem Gefühl und nicht nach dem Code penal oder dem Zivilrecht, da sie es ebensowenig kennen. Personen werden angeklagt und ins Gefängnis gesteckt, ohne daß eine Beweiserhebung stattgefunden hat. So sitzen viele unter der Anklage des Diebstahls von drei Hühnern oder einer Ziege monatelang ohne Verfahren im Gefängnis.
Trotz dieser Probleme sind die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen, Mißhandlungen und Folter, als gewöhnliche Praxis in den Gefängnissen beendet, wie Menschenrechtsbeobachter der UNO versichern.
Sehr viel Hoffnung für die Lösung vieler Probleme setzen die Menschen in die Parlamentswahlen am 4. Juni. Man hofft auf eine solide parlamentarische Mehrheit, um die notwendigen Gesetze beschließen zu können. Nach den Erfahrungen der Duvalier-Dikatur räumt die Verfassung von 1987 der Legislative sehr viel Macht ein. Vor allem drei Parteien bzw. Bewegungen stehen für „Changement“, für Veränderung:
KONAKOM ist Mitglied der Sozialistischen Internationale. Sie ist vor allem in Port-au-Prince aktiv und hat die Unterstützung zahlreicher Organisationen. Als sie 1994 jedoch den Rücktritt Aristides im Exil forderte, um aus der Sackgasse in den Verhandlungen herauszukommen, hat sie viele Sympathien der Bevölkerung verloren.
KID ist die Partei des ehemaligen Bürgermeisters von Port-au-Prince, Evans Paul, der vor allem im Ausland viel Sympathie hat. Im Lande fehlt ihm jedoch die entscheidende Unterstützung von weiteren Organisationen.
Diese hat dagegen die Organisation Politique Lavalas, OPL, vor allem unter den Volksorganisationen auf dem Lande in den Departments Plateau Central und Nord-Ouest. Das Symbol dieser Koalition ist der Runde Tisch, an dem sich alle Sektoren der Gesellschaft treffen sollen; wie es Aristide gegenüber dem damaligen US-Botschafter ausdrückte: niemand unter dem Tisch, niemand ausgeschlossen, alle um den Tisch versammelt. Die OPL hat auch die Unterstützung vieler Intellektueller und von Teilen der zahlenmäßig allerdings kleinen Mittelschicht. Viele Beobachter gehen davon aus, daß die OPL die Wahlen gewinnen kann.
Einige sind allerdings besorgt wegen der Verschlechterung der Lage der Bevölkerung. Die wachsende Kriminalität schafft eine Unsicherheit im Lande, die auch den Transport gefährdet, und so die Lebenshaltungskosten noch weiter in die Höhe treibt. „Aba laviché“ steht an vielen Hauswänden, „Nieder mit den hohen Lebenshaltungskosten“. Die Internationale Migrationsorganisation (OIM) versucht durch sogenanntes community or-ganizing im ganzen Land, Aristide zu verunglimpfen. Sie redet der Bevölkerung ein, Aristide sei in der Lage, die Probleme schneller zu lösen. Gleichzeitig gibt sie Wahlempfehlungen für Parteien, die ihn nicht unterstützen. Beobachter sind deshalb besorgt über diese Einflußnahme der OIM, doch andere sind von der Sensibilität der Bevölkerung überzeugt. Die Menschen stellen den Kandidaten vor allem eine Frage: Was hast Du während der Cedras-Diktatur gemacht? Damit dürfte das Schicksal vieler Kandidaturen feststehen. Der Ausgang der Wahlen ist aber noch längst nicht entschieden. Auf den Nachfolger Aristides wartet eine schier endlose Reihe ungelöster Probleme, die eigentlich einer Sofortlösung bedürfen: der Aufbau der Polizei, die Justizreform, die Gesundheitsreform, Aufforstung und die Einfürung von ökologischen Wirtschaftsformen. Aus diesem Blickwinkel kann man leicht zu einer negativen Bilanz der bisherigen Regierungszeit Aristides kommen. Doch mit der Auflösung der parasitären Armee hat Haiti zum ersten Mal seit 200 Jahren die Chance, die fortdauernde Unterdrückung und Ausbeutung zu bekämpfen.
(H.R. arbeitet bei der Christlichen Initiative Romero in Münster. Seit Dezember 1994 ist er zum zweiten Mal im Auftrag der UNO als Menschenrechtsbeobachter tätig. Seine erste derartige Mission führte ihn nach El Salvador).