Radio Blau: Heute Nachmittag waren die Musiker von TOHIL aus El Salvador zu Gast hier bei Radio Blau. Sie geben zwei Konzerte: heute Abend um 21 Uhr im NochBesserLeben und morgen um 19.30 Uhr in der Nathanaelkirche in Lindenau. Wir sprachen mit ihnen über Musik, über Politik, über die Lage in El Salvador und über die beiden Konzerte, die heute und morgen stattfinden. Bei beiden ist der Eintritt frei. Freundlicherweise übersetzte Ulrike von der Mittelamerika-Initiative Leipzig e.V. (…) Bei mir zu Gast sind Vladimir und Balduino von der Gruppe, und meine ersten Fragen sind: Warum und seit wann gibt es TOHIL? Und welche Inhalte wollt ihr mit eurer Musik rüberbringen?
TOHIL: Die Gruppe gründet sich Ende der 80er Jahre während des Bürgerkriegs an einem Jesuitenkolleg in San Salvador. Ausgelöst durch den Mord an den sechs Jesuiten 1989 in San Salvador gründet sich diese Gruppe mit besonders politischen Inhalten und macht seitdem politische Musik. Die Gruppe beginnt dann mit Auftritten, als die Mitglieder an der Nationalen Universität studierten – all das immer mit der politischen und ideologischen Rückendeckung der Lutherischen Kirche El Salvadors und ihrem Bischof Medardo Gómez.
Radio Blau: El Salvador ist äußerst religiös geprägt. Das spiegelt sich auch in der Musik wider. Meine nächste Frage ist, ob sich dies auch in den Inhalten eurer Musik wiederfindet und ob auch die Ideen der Befreiungstheologie Einzug fanden in die Texte von TOHIL?
TOHIL: Ja, die Nähe zur Lutherischen Kirche ist auch in den Texten und der Musik von TOHIL zu spüren. Wir stimmen mit ihr in der sozialen Botschaft überein, die natürlich auch nicht zuletzt von der Befreiungstheologie herkommt. Die Lutherische Kirche in El Salvador steht an der Seite derjenigen, die am meisten soziale Bedürfnisse haben. Das bezieht sich nicht nur auf die ökonomischen Aspekte, sondern auch auf Bildung, geistlich, die Gesundheit usw. , also alle Dimensionen menschlichen Lebens. Und so wie die Kirche an der Seite der Bedürftigen und Armen steht, so tut es auch die Band TOHIL. (…) Wir haben große Vorbilder in der salvadorianischen Kirche: einmal der 1980 ermordete Erzbischof Romero und die bereits erwähnten 1989 erschossenen Jesuiten. Außerdem und noch am Leben, aber auch seit mehr als 20 Jahren ein wichtiger Kämpfer für die Armen in seinem Land: der lutherische Bischof Medardo Gómez.
Radio Blau: 1992 endete der Bürgerkrieg in El Salvador. Wie beurteilt ihr die Lage heute? Das Militärregime ist zwar nicht mehr an der Macht, dafür aber die rechtskonservative ARENA. Wie hat sich die Lage der Bevölkerung geändert?
TOHIL: 1992 werden zwar mit den Friedensverträgen die 13 Jahre des Bürgerkriegs sowie 50 Jahre Militärdiktatur beendet, gleichzeitig beginnen 1992 allerdings auch die Jahre der „falschen“ Demokratie. Aus dem salvadorianischen Alltag verbannt werden alle repressiven Kräfte (Nationalgarde etc.), gleichzeitig etabliert sich jedoch eine Augenwischerdemokratie, die sich einzig und allein durch die Abhaltung von Wahlen auszeichnet. Zeichen für die Augenwischerdemokratie sind mehrere Kriterien: Erstens ist zu nennen, daß die Freihandelsabkommen mit den USA gegen den Willen der ganz großen Mehrheit der Bevölkerung unterzeichnet wurden. Hinzu kommen repressive Gesetze, es gibt Antiterrorgesetze, durch die Leute festgehalten und festgenommen werden können, die schlicht und ergreifend freie Meinungsäußerung auf den Straßen ausüben. Und der dritte Punkt: Auch gegen die ganz große Mehrheit der Bevölkerung wurde der US-Dollar als nationale Währung in El Salvador eingeführt. Wenn man versucht zusammenzufassen, was sich in den vergangenen Jahren seit den Friedensverträgen geändert hat, kann man feststellen: Das Land ist noch ärmer als damals, die Bevölkerung ist noch unzufriedener – das zeigt sich an der sehr sehr hohen Abwanderungsrate, täglich verlassen 700 Männer und inzwischen auch sehr sehr viele Frauen das Land in Richtung USA – und als dritte Komponente: Das Land erlebt heute noch mehr Gewalt und täglich mehr Todesopfer als während des Bürgerkriegs. Im kommenden Frühjahr 2009 werden Wahlen stattfinden, mit unserer großen Hoffnung auf den Sieg der Opposition. Die rechtskonservative ARENA benutzt für ihren Wahlkampf unglaubliche Argumente, wie z.B. daß der Wahlsieg der Linken die Machtergreifung der Kommunisten bedeutet, die Kinder fressen, die alle enteignen und die Einstellung der Geldflüsse aus den USA provozieren werden. Es wird angeblich eine Kommunistenherrschaft geben. Damit wird der Bevölkerung im Vorfeld der Wahlen Angst gemacht.
Radio Blau: El Salvador ist reich an natürlichen Bodenschätzen wie Kaffee, Zucker und Baumwolle. Hat das Land etwas von diesem Reichtum oder wird dieser hauptsächlich von amerikanischen Konzernen bzw. von den mit den USA verbündeten Konzernen ausgenutzt?
TOHIL: El Salvador ist ein sehr kleines Land. Sein ertragreicher Boden ist in den Händen von ganz wenigen reichen Großgrundbesitzern, so daß auch die Gewinne der Exporte von Agrargütern wie Zucker, Kaffee und Baumwolle auf den ausländischen Konten dieser Großgrundbesitzer verbleiben, während die einfache Bevölkerung El Salvadors keinen Nutzen davon hat. Deshalb ist momentan und bereits seit einigen Jahren unsere wichtigste Ressource unsere Arbeitskraft, also unsere menschlichen Hände, die wir zu Hunderttausenden ins Ausland, v.a. in die USA exportieren. Diese illegalen Arbeiter in den USA schicken jeden Monat Geldzahlungen an ihre Familien in El Salvador, und genau davon leben die allermeisten armen und Mittelschichtsfamilien. Ich betone noch einmal, daß El Salvador nicht mehr wie früher ein Agrarland ist. Noch vor 20 Jahren hat die Landwirtschaft den wichtigsten Exportanteil des Landes ausgemacht. Die letzten vier ARENA-Regierungen haben die Landwirtschaft jedoch im Grunde völlig ruiniert und es sogar soweit getrieben, daß wir jetzt schon von einer richtigen Ernährungskrise sprechen müssen. Diese Maßnahmen seitens der Regierung wurden in den letzten 15-20 Jahren auf Anraten der Weltbank, des Amerikanischen Entwicklungsfonds sowie der Amerikanischen Entwicklungsbank getroffen, die der salvadorianischen Regierung nahegelegt haben, nicht mehr in die Landwirtschaft zu investieren, da diese kein Geld einbringt, sondern lieber die Gesamtheit der Nahrungsmittel für die eigene Bevölkerung aus dem Ausland zu importieren.
Radio Blau: Das war der erste Teil meines Interviews mit Balduino und Vladimir. Jetzt ein bißchen Musik von TOHIL.
Radio Blau: Weiter geht es mit dem zweiten Teil des Interviews: Seid ihr zum ersten Mal in Deutschland? Wie sind die Kontakte hierher entstanden? Und wie gefällt es Euch in Leipzig?
TOHIL: Wir sind sehr froh und glücklich, hier in Deutschland sein zu können. Es ist nicht das erste Mal. Wir sind schon 2004 einmal auf Tournee in Deutschland gewesen. Beide Male wurden wir eingeladen durch das Zentrum EineWelt der Lutherischen Kirche in Bayern. Es gibt sehr enge, solidarische Partnerschaftsarbeit zwischen der Lutherischen Kirche in Bayern und El Salvador, und das Ziel unserer Reise ist natürlich, daß wir hier von der Realität in El Salvador, unserer Kirche und unseren Gemeinden sowie der gesellschaftspolitischen Situation in unserm Land berichten können. Es ist allerdings das erste Mal, daß wir hier in Leipzig und überhaupt in Ostdeutschland sind. Wir sind sehr froh, hierher eingeladen worden zu sein und ehrlich gesagt sind wir gerade erst vom Bahnhof gekommen, aber das bißchen, was wir vom Bahnhof bis hierher zu Radio Blau sehen konnten, war schon sehr sehr schön. Natürlich haben wir Hoffnung, morgen noch mehr von der Stadt sehen und auch noch mehr Leipziger treffen zu können. Am meisten freut uns jedoch die Freundschaft und Solidarität der Leipziger Gruppe, die uns eingeladen hat, hier zu spielen.
Radio Blau: Ihr spielt heute Abend im NochBesserLeben und morgen in der Nathanaelkirche in Lindenau. Spielt ihr häufiger in Kirchen oder kirchennahen Stätten oder auch anderswo?
TOHIL: Uns ist es eigentlich völlig egal, wo wir spielen. Wir spielen einfach immer dort, wo es nötig ist und wo Menschen interessiert sind an unserer Botschaft über die Realität in El Salvador. Das kann in einem Kindergarten stattfinden, im Hinterhof einer Schule, vielleicht in einem Kloster, aber auch in einer Kirche oder eben wie heute Abend in einer Kneipe.
Radio Blau: Noch zu etwas ganz anderem: Im Vorgespräch hatten wir uns darüber unterhalten, daß leider nicht alle von Euch hier sein können. Wie kam es zu den Problemen auf dem Flughafen in Madrid?
TOHIL: Ja, wir sind tatsächlich sehr traurig und wütend darüber, daß einer von unserer Band jetzt nicht mit hier dabei sein kann: Francisco López, der Leiter unserer Gruppe, der aus beruflichen Gründen zwei Tage später fliegen mußte und somit nicht mit uns zusammen reisen konnte. Er ist über Madrid gekommen, und es ist dann so gewesen, daß er sich dort nach seiner Ankunft bei den Migrationsbehörden der Europäischen Union vorstellen mußte und dort auch das Einladungsschreiben der Bayerischen Kirche vorgelegt hat. Daraus geht hervor, daß er eingeladen ist und seine Reise sowie sein gesamter Aufenthalt incl. Kost und Logie auf diese Weise finanziert ist. Dieses Schreiben wurde jedoch von den europäischen Behörden nicht akzeptiert, so daß er einfach retour gesetzt wurde in den nächsten Flieger zurück nach Mittelamerika. Er hat noch darum gebeten, einen Anruf an das Zentrum EinWelt in Bayern tätigen zu können, um das Schreiben und die Einladung bestätigen zu lassen, doch dies wurde nicht erlaubt.
Radio Blau: Er ist quasi zurückgeschickt worden, nur weil er kein Europäer war?
TOHIL: Das kann ich nicht beschwören. Fakt ist jedoch, daß Francisco und außer ihm noch drei weitere Lateinamerikanerinnen in Madrid schlicht und ergreifend in den nächsten Flieger gesetzt und zurückgeschickt wurden.
Radio Blau: Ist das eine Form von Rassismus, der sich jetzt abzeichnet, da Europa seine Grenzen abschotten will gegenüber anderen Kontinenten wie Lateinamerika und Afrika?
TOHIL: Ich weiß nicht, ob das Wort „Rassismus“ hier richtig ist, aber Fakt ist, daß wir mit unserem Freund telefoniert haben und er uns gesagt hat, daß er in Madrid sehr schlecht behandelt wurde und daß er sich als Mensch einfach herabgesetzt und erniedrigt fühlt. Und, ja, es war definitiv Diskriminierung gegen Lateinamerikaner.
Radio Blau: Das sind sehr traurige Themen, über die wir bisher gesprochen haben und die sich auch in euren Liedern wiederfinden. Habt ihr trotzdem auch Lieder, die glücklicher sind und Freude verbreiten?
TOHIL: Na klar, wir haben neben den politischen Texten auf jeden Fall auch fröhlichere Inhalte und Rhythmen zum Tanzen, wie z.B. Salsa und Cumbia. Und natürlich wollen wir auch zum Tanzen einladen.
Radio Blau: Das alles kann man heute Abend ab 21 Uhr im NochBesserLeben in Plagwitz und morgen um 19.30 Uhr in der Nathanaelkirche in Lindenau erleben. Damit möchte ich mich ganz herzlich bedanken bei Ulrike von der Mittelamerika-Initiative Leipzig und bei Vladimir und Balduino von TOHIL.
TOHIL: Vielen Dank auch zurück an Radio Blau, daß wir hier die Möglichkeit bekommen haben, auch ein bißchen unseren Zorn und unsere Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen und natürlich für die Ankündigung unserer Konzerte. Vielen Dank.
Radio Blau: Gern geschehen. – Das waren TOHIL aus El Salvador. Sie waren so freundlich und haben im Anschluß an das Interview auch noch ein Lied live hier im Studio eingespielt. Das hören wir jetzt zum Abschluß.
TOHIL: … No pasarán …
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Bildquelle: Ulrike Purrer_