Es war wie in einem Hitchcock-Film: Nach einem Verhandlungsmarathon von 24 Monaten und 25 Runden, immer wieder kurz davor zu scheitern, gelangten in der Nacht des 31. Dezember 1991, vier Minuten vor zwölf, die Vertreter der salvadorianischen Regierung und der FMLN in New York zu jener historischen Übereinkunft, die am 16. Januar 1992 in den Friedensvertrag von Chapultepec münden sollte. Es waren die letzten Minuten der Amtszeit des UNO-Generalsekretärs Perez de Cuellar, und niemand konnte zu diesem Zeitpunkt wissen, wie sich der bevorstehende Amtswechsel im UN-Headquarter auf die Verhandlungen um El Salvador auswirken würde. In Deutschland hat die Nachricht vom Frieden in El Salvador kaum Schlagzeilen gemacht. Zu sehr war man mit sich selbst beschäftigt und zu wenig hätte sich auch ein solch hart erhandelter Kompromiß einordnen lassen in den hierzulande doch viel „kompromißloseren“ Lauf der Dinge und Verträge…
Zugegeben, selbst der über Jahre interessierte, wenn auch entfernte Beobachter des salvadorianischen Bürgerkrieges war zunächst geneigt, der, wie man später sehen sollte, letzten Verhandlungsrunde eher die Bedeutung des „steten Tropfens“ als die des Finales zuzuschreiben. Als dann auf mexikanischem Boden, im Schloß von Chapultepec, El Salvadors Präsident Cristiani eigenhändig (die Unterschriften der Verhandlungskommissionen hätten es formal auch getan) das Abkommen unterzeichnete und danach den versammelten Comandantes der FMLN erstmals nach 22-monatigen Gesprächen die Hand reichte, da herrschte Erstaunen und wohl auch Bewegtheit, und dies nicht nur unter den Augenzeugen …
Nun, da die salvadorianische Geschichte durch das neue Prisma des Friedensschlusses zurückzuverfolgen ist und sich manche alte Konturen darin zwangsläufig auf neue Weise brechen, stehen die „Salvadorologen“ vor einer nahezu erdrückenden Herausforderung: Sie sind gehalten, gewissermaßen „in einem Zug“ die Einseitigkeiten vergangener revolutions- bzw. konfliktheoretischer Paradigmen zu überwinden, das darauf folgende Theorievakuum durch den – für El Salvador bislang vernachlässigten – demokratietheoretischen Diskurs zu verdrängen, und sich dabei über dessen, zumindest für Lateinamerika vorherrschende „Regimelastigkeit“ zu erheben. Mehr noch, es wird an ihnen liegen, ob El Salvador wie bisher in der vergleichenden Demokratiediskussion marginalisiert bleibt.
Der Friedensvertrag von Chapultepec und seine Implikationen für die salvadorianische Gesellschaft weisen gerade deshalb besonders nachdrücklich auf die Defizite bisheriger politologischer Lateinamerika-Paradigmen hin, weil sie grundsätzlich unerklärbar blieben, wenn nicht Anspruch, Wirklichkeit und die Widersprüchlichkeit gesamtgesellschaftlichen Wandels zum Gegenstand der Analyse würden. El Salvador hat weder die „fertige“ noch die gescheiterte Revolution zu bieten, weder die Kapitulation der linken „Terroristen“ noch deren Eingliederung in das zivile Leben als „geläuterte“ Salondemokraten, weder einen lehrbuchgerechten Regimewechsel noch einen Gegenputsch, es bedient weder das Klischee von der importierten „Miniausgabe“ des Ost-West-Konfliktes noch vom „reinen“ Klassenkampf zwischen den ewig gestrigen, wandlungs- und reformunfähigen vierzehn Familien und einem aufstrebenden Proletariat mit seinen Bündnispartnern. El Salvador hat die „Erwartungen“ nie erfüllt, nicht als man die schnelle Neuauflage der sandinistischen Revolution erhoffte oder befürchtete, nicht als man die Wahlniederlage der Sandinisten für die FMLN „hochrechnete“, und nicht als letztere ihre, für den Frieden letztlich entscheidende, wenn auch für die hauptstädtische Bevölkerung so schmerzliche Offensive genau in dem Augenblick lancierte, als der Fall der Berliner Mauer vom Fall linker Alternativen schlechthin zu künden schien.
Die Situation in El Salvador ist offen, der Punkt des „no-return“ noch lange nicht erreicht. Und doch scheint dieses kleine Land auf dem mittelamerikanischen Isthmus die einmalige Chance zu besitzen, den Bruch zwischen zwei weltgeschichtlichen Epochen mit einer Balance ausschreiten zu können, die im gegenwärtigen globalen Kontext geradezu visionär anmutet. Wie gesagt, eine Chance, nicht mehr und nicht weniger…
Doch warum wurde nach elf Jahren Bürgerkrieg und ebensolangen Verhandlungsbemühungen der Friedensschluss gerade im Januar 1992 möglich, warum nicht schon früher, oder warum nicht erst später ?
In den gängigen Erklärungsmustern wird im wesentlichen von der Verknüpfung von vier Bedingungen ausgegangen: Erstens, der Zusammenbruch des europäischen Sozialismus und die Wahlniederlage der Sandinisten hätten die FMLN ideologisch und materiell „entwurzelt“; zweitens, angesichts des Mordes an den sechs Jesuiten der Zentralamerikanischen Universität am 16. November 1989 hätte die US-Administration die salvadorianische Regierung als kriegführende Seite de facto „fallengelassen“, als sie die bisherige Militärhilfe für diese um fünfzig Prozent kürzte und eine Ahndung der Menschenrechtsverletzungen forderte; drittens, habe die Novemberoffensive der FMLN 1989 endgültig die Unfähigkeit einer jeden Seite bewiesen, die andere militärisch zu besiegen; viertens, stelle El Salvador den weltweit beispiellosen Fall dar, daß die UNO durch ihre guten Dienste einen internen Konflikt erfolgreich vermittelt hat.
Gewiß treffen alle genannten Faktoren zu, und auch die Einzigartigkeit ihrer Verknüpfung sei hier unbestritten, doch was allerdings Widerspruch provoziert, ist eine zuweilen anzutreffende einseitige Interpretation und Gewichtung der einzelnen Faktoren. Auf den ersten Blick scheinen die Gründe internationaler Provenienz zu dominieren und somit auch die günstigeren Ausgangsbedingungen El Salvadors im Vergleich etwa zu Kolumbien, Peru oder auch Guatemala ihre einfache Erklärung zu finden: Der Bürgerkrieg wäre nach dieser Interpretation als die „Ableitung“ der Ost-West-Konfrontation ein vornehmlich internationaler Konflikt und konnte deshalb auch nur international gelöst werden. Das heißt, so könnte man meinen, das ursprüngliche Verhängnis sei letztlich zur besten Medizin geworden. Natürlich steht die Patronage der USA für die „counterinsurgency“ in El Salvador gänzlich außer Frage, und daß die Bush-Administration nach der Unterzeichnung des Vertrages von Genf im April 1990 mit pragmatischem Kalkül der Bitte des UN-Generalskretärs entsprach, nur noch Partei für den Frieden zu ergreifen, war sicher entscheidender für den Friedensschluß als die auf die zeitgleiche Bitte der UNO hin gewährte Unparteilichkeit Kubas und der Sowjetunion.
Parteienkonferenz zum Stand der Verhandlungen zwischen Regierung und FMLN in San Salvador – Sommer 1990
Gewiß wäre ohne eine Internationalisierung des Konfliktlösungsmechanismus -erinnert sei an den mittelamerikanischen Esquipulasprozeß, CONTADORA oder die „paises amigos“ des UN-Generalsekretärs (Venezuela, Mexiko, Kolumbien und Spanien) und natürlich an die Vermittlerrolle der UNO selbst -ein Friedensvertrag nicht zustande gekommen. Doch am Ende hat noch jedes Bürgerkriegsland gezeigt, daß der Impuls für den Friedenskompromiß und die Gewähr für dessen Irreversibilität nur von dem ausgehen kann, was einst den Konflikt ausbrechen ließ: von einer entscheidenden Verschiebung der innenpolitischen Kräftekonstellation. Daß der Konflikt allein deshalb ein von außen implantierter gewesen sein müsse, weil der Frieden möglich wurde, obwohl die sozioökonomischen Krisenursachen, die ihn einst hervorriefen, fortbestehen, wäre ein verkürzter und trügerischer Schluß, denn er ließe mit der profunden Legitimitätskrise des salvadorianischen politischen Regimes jenes entscheidende Zwischenglied außer acht, das 1979 am Beginn des Konfliktes stand, dann aber, ab dem Ende der 80er Jahre, Schritt für Schritt von den Herrschenden unter Kontrolle gebracht wurde, und ohne daß dies den gleichzeitigen Prestigeverlust der FMLN impliziert hätte. Dieses Paradoxon zu erklären und damit auch die Beweggründe der FMLN und Präsident Cristianis, unabhängig voneinander Ende 1989 bzw. Anfang 1990 den UN-Generalsekretär um dessen gute Dienste angerufen zu haben, ist nur mit der Analyse zweier, miteinander verflochtener innenpolitischer Phänomene möglich:
Erstens, hatte sich in El Salvador ein stabiles „negatives“ politischmilitärisches Gleichgewicht zwischen Guerrilla bzw. irregulärer und regulärer Armee herausgebildet, „negativ“ in dem Sinne, daß keine der beiden kriegführenden Seiten definitiv siegen oder besiegt werden konnte. Aber auch keiner der Kriegsgegner durfte angesichts einer latenten Kriegsmüdigkeit der salvadorianischen Bevölkerung die Hoffnung hegen, unter den gegebenen Bedingungen die eigene Gefolgschaft beträchtlich vergrößern, geschweige denn mobilisieren zu können. Dies bedeutet, das militärische Patt erwuchs zu einer innenpolitischen Sackgasse, in der die festgefahrenen politischen Gleise drohten, in die kollektive Selbstvernichtung zu führen. Anders gesagt, eine neue Qualität der Kompromißbereitschaft der Kriegsgegner erwies sich als die Vorbedingung dafür, daß man dann, auf einer neuen Grundlage, den Kampf dafür aufnehmen konnte, den eigenen Hegemonieradius über die jeweils traditionellen „claims“ hinaus und mit gesamtgesellschaftlichem Anspruch auszudehnen.
Das setzte schließlich zweitens eine politische Selbsterneuerung der beiden Kontrahenten und Verhandlungspartner voraus, der als die Evolution zu einer Neuen Rechten bzw. Neuen Linken bezeichnet werden kann. Diese Selbsterneuerung hat allerdings bei den genannten „Polen“ eine jeweils völlig andere zeitliche Dimension, organisatorische Gestalt und politische Kontinuität angenommen.
Dabei hatten die Rechten den Nachteil, ihre eigenen politischen Protagonisten erst konstituieren zu müssen und dies in permanenter Auseinandersetzung mit den Widersachern aus dem eigenen Lager, die in der Regel den „totalen Krieg“ favorisierten. Es ist immer noch schwierig, die Neue Rechte partei- bzw. organisationspolitisch zu orten. Spätestens während des Putsches der Jungen Militärs im Oktober 1979 war deutlich geworden, daß die Oligarchie über keine hegemoniefähige Partei verfügte. Der PCN* hatte sich verschlissen, der PDC konnte diese Rolle nicht wahrnehmen. In ihrer Unzufriedenheit beschritt die modernisierungswillige Oligarchie zwei alternative Wege zur korrupten und ineffizienten PDC-Regierung: zum einen die Politisierung der Unternehmerverbände und die Bildung von „think-tanks“, die, wie beispielsweise FUSADES (Fundación Salvadorena para el Desarrollo Económico y Social), seit Anfang der 80er Jahre neue Wirtschaftsstrategien neoliberalen Zuschnitts erarbeiteten, und zum anderen die – noch längst nicht abgeschlossene – Umfunktionierung der ursprünglich extrem rechten ARENA zur Hegemonialkraft der Modernisierungsexponenten im Block der Herrschenden.
Der Unternehmerstreik vom Januar 1987, der die Duarte-Regierung massiv unter Druck gesetzt hatte, markierte in dieser Hinsicht eine entscheidende Zäsur, die zeigte, daß der Krieg für die Herrschenden zum wirtschaftlichen Verlustgeschäft geworden war. Als die ARENA 1988 die Mehrheit in der Legislative und 1989 die Präsidentschaft erreicht hatte, bediente sie sich eines von FUSADES erarbeiteten Wirtschaftsprogramms. In El Salvador wurde damit der Neoliberalismus unter Kriegsbedingungen zur praktizierten Wirtschaftsdoktrin, seine ohnehin nur auf wirtschaftliche Wachstumsraten beschränkte „krisentherapeutische“ Wirkung jedoch schien zunehmend an die Beendigung des Krieges gebunden.
Unter dem inneren Druck ihres realpolitischen „Flügels“ hat es die ARENA vermocht, zum politischen Protagonisten einer sich erneuernden „alten“ Oligarchie zu werden und somit systemstabilisierend zu wirken. Präsident Alfredo Cristiani, der als ein Vertreter dieser Neuen Rechten gelten kann, war erst 1984 in die ARENA eingetreten. Etwa um die gleiche Zeit begannen in der ARENA auch die Bemühungen, den Einfluß ihres faschistoiden Vorsitzenden und Verantwortlichen für den Mord an Erzbischof Romero Roberto D’Aubuisson zurückzudrängen. Cristiani entstammt der Familie Cristiani-Burkhard, seine Frau Margarita den Lachs; das heißt, sie repräsentieren (wie übrigens auch der gegenwärtige Bürgermeister von San Salvador und Präsidentschaftskandidat der ARENA für die Wahlen von 1994 Armando Calderón Sol) den modernisierungswilligen Teil der Kaffeeoligarchie und eben des (jedoch nur äußerst unscharf zu fixierenden) realpolitischen „Flügels“ der ARENA. Somit hat der von den Neuen Rechten in und um ARENA ausgeübte politische Modernisierungsdruck dazu geführt, daß diese Partei das Hegemonievakuum im Block der Herrschenden wiederaufgefüllt hat.
Auch die Linken, vornehmlich in Gestalt der FMLN, waren einem vielfachen Erneuerungszwang ausgesetzt: Politischprogrammatisch hatte die FMLN den Sprung vom revolutionären Bruch der alten Macht auf bewaffnetem Wege hin zur schrittweisen Demokratisierung des bestehenden politischen Systems unter der Akzeptanz seiner Legalität in Gestalt der Verfassung von 1983 zu antizipieren. Organisatorisch mußte sie die Umwandlung der dominierenden militärischen Strukturen einer Befreiungsarmee zu einer legalen politischen Partei vorbereiten. Ideologisch war sie gehalten, den Kollaps des europäischen Sozialismus produktiv zu verarbeiten und ohne ihre alternative Gesellschaftsvision aufzugeben, die Diskussion um deren Inhalt unter Bewahrung ihrer organisatorischen Breite „auszuhalten“.
Dabei hatte sie den Vorteil, schon als „alte“ Linke relativ neu, das heißt unorthodox gewesen zu sein. Ihre in diversen Verhandlungsrunden dokumentierte politische Kompromißbereitschaft setzt im Vergleich zur Rechten weit früher ein, ist programmatisch untersetzt und kontinuierlich gewachsen; sie reichte von der Forderung nach einer revolutionär-demokratischen Regierung (1980), über den Vorschlag einer Regierung mit breiter Beteiligung (1984) bis hin zur Bereitschaft, den Status quo anzuerkennen, allein unter der Bedingung, daß die Wahlen um sechs Monate verschoben würden (1989). Die ideologische Erneuerung der FMLN gründet sich auf ihre vergleichsweise günstige Ausgangsposition, sich weder machtpolitisch kompromittiert haben zu können, noch den nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus eingetretenen „Aderlaß“ des Gros der lateinamerikanischen Linken erlitten zu haben. Auch war die FMLN ob ihrer Kreativität und „Aufmüpfigkeit“ immer eine der weniger geliebten „Bruderorganisationen“ kommunistischer Regierungsparteien gewesen. Dazu kommt, daß sie als eine aus fünf verschiedenen politisch-militärischen Organisationen bestehende Front ihre interne Diskussion (die zu Kontroversen mit zum Teil tragischen Folgen geführt hat) zwar militärischen Zwängen unterordnete, sie jedoch zumindest nicht verdrängt hat.
Die Auseinandersetzungen in der heutigen FMLN zeigen allerdings auch, daß ungeachtet der vergleichsweise günstigen Voraussetzungen ihre erfolgreiche Entwicklung zum Protagonisten einer Neuen Linken nicht vorprogrammiert ist. Auch von ihren Führungskräften wurde eine innere Krise beklagt, die aber mit der ersten Nationalkonvention im September 1993 und der dortigen Präsentation der gemeinsamen Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten von Convergencia Democrática/FMLN (zumindest bis zu den Wahlen 1994) ausgeräumt zu sein scheint. Oberflächlich betrachtet, stehen sich in der „Frente“ mit dem PCS und der FPL einerseits und der RN und ERP andererseits zwei differierende ideologische Konzepte – das des demokratischen Sozialismus und das des Sozialdemokratismus – gegenüber. Die fünfte Organisation, der PRTC, versucht die Widersprüche zwischen beiden „Polen“ auszubalancieren, ohne die eigene sozialistische Vision aufgegeben zu haben. Doch so schwierig es ohnehin ist, den konzeptionellen Unterschied zwischen demokratischem Sozialismus und Sozialdemokratismus zu definieren, so problematisch wäre es auch, starre Grenzen zwischen den Organisationen zu ziehen. Denn erstens findet nicht jeder Unterschied in der Diktion von Führungspersönlichkeiten und nicht jede Allianzpräferenz den adäquaten Widerhall in der Basis der entsprechenden Organisation, zweitens haben die Organisationen mit ähnlichen Ideologien oftmals größere Probleme im praktischen Umgang miteinander als mit ihren vermeintlichen Kontrahenten und drittens sind jene konzeptionellen Veränderungen, die eine Neue Linke ausmachen (Marktwirtschaft, Zivilgesellschaft, politischer Pluralismus im politischen System und innerhalb der FMLN) nicht -wie es manchmal den Anschein haben mag – nur die Domäne einzelner FMLN-Organisationen, sondern programmatisch fixiertes Allgemeingut der gesamten Partei.
Das Grundproblem bei der Konstituierung der Neuen Linken liegt vielleicht sogar weniger in der FMLN selbst begründet als in der Schwäche ihrer linken Partner, die erst das breite Profil einer Neuen Linken ausmachen würden und die Bildung eines demokratischen politischen Zentrums, in dem der PDC eine zentrale Stellung besäße, herausfordern könnten. Es bleibt abzuwarten, ob dies der FMLN zusammen mit ihrem Bündnispartner Convergencia Democrática (CD), welcher der gemeinsame Präsidentschaftskandidat Ruben Zamora angehört, gelingen wird, und wie sich FMLN und CD, die im Volk hinsichtlich ihres Anspruchs kaum voneinander unterschieden werden, im Kontrast zueinander profilieren können. Auch wenn Vertreter der Neuen Rechten und Neuen Linken durch ihre Unterschrift bezeugt haben, daß sie sich inhaltlich im Friedensabkommen von Chapultepec repräsentiert sehen, ist das Ringen um seine Umsetzung auch ein Ringen gegeneinander. Dabei geht es letztlich um die „Gretchenfrage“, ob und inwieweit der Frieden in El Salvador von gesamtgesellschaftlicher Transformation gestützt wird. Die Friedensverhandlungen selbst haben dies schon reflektiert, denn mit dem Einfluß der Armee und der Agrarfrage waren es genau die „Transformationsthemen“, um die am härtesten gestritten worden ist.
Der grundsätzliche Wandel des Charakters der Friedensgespräche vom Dialog zur Verhandlung, der in die Unterzeichnung eines Vertrages mit Kompromiß- und nicht Kapitulationcharakter mündete, vollzog sich zwischen September 1989 und Januar 1992, also dann, als 1) sich keine der beiden kriegführenden Seiten (weder militärisch noch politisch) in einer Position der Schwäche befand; 2) ein stabiles „negatives“ Patt die Kriegsmüdigkeit hat chronisch und die Gefahr der kollektiven Selbstvernichtung latent werden lassen; 3) die Kriegsgegner in den Prozeß einer Selbsterneuerung hin zu einer Neuen Rechten bzw. Neuen Linken eingetreten waren und im eigenen Lager Hegemonialfunktion ausübten; 4) mit der Beendigung des globalen Ost-West-Konflikts der salvadorianische Bürgerkrieg weltweit als Folge eines autochthonen Krisengeflechts anerkannt werden konnte und es gerade deshalb möglich geworden war, die interne Lösung international erfolgreich zu vermitteln. Welche Hoffnung auf einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, der mehr einschlösse als nur das Schweigen der Waffen, kann diese geschundene Land nun mit dem Friedensvertrag verbinden? Ist der Friedensvertrag tatsächlich Ausdruck bzw. der Beginn einer „Revolución Negociada“ oder sanktioniert er lediglich die Rückkehr zum politischen Vorkriegszustand?
Soviel ist klar, der Vertrag befriedigt nicht den ursprünglichen Traum der FMLN vom revolutionären Wechsel der politischen und ökonomischen Macht. Seine Unterzeichnung wurde nur möglich, nachdem sich die FMLN ausdrücklich in den legalen Rahmen der (erst später modifizierten) Verfassung von 1983 gestellt hatte. Gleichzeitig übertrifft der Gehalt des Friedensabkommens aber auch den zu Beginn des Jahres 1989 erreichten – je nach Interpretation – Höhe- bzw. Tiefpunkt der Kompromißbereitschaft der „Frente“, als diese sogar bereit gewesen wäre, sich zunächst mit formaldemokratischen Modifikationen der politischen procedere zu bescheiden. Das Abkommen von 1992 dagegen offeriert die Chance einer allmählichen Transformation der salvadorianischen Gesellschaft, da es 1) eine partielle Demilitarisierung des Landes und die zivile Kontrolle der Armee, 2) die zunächst formale (jedoch weit mehr als nur kosmetische) Demokratisierung des politischen Systems, 3) die Stärkung der Zivilgesellschaft und ihrer Konsensfähigkeit und 4) eine Entschärfung (wenn auch nicht Lösung) des Agrarproblems und die (vage) Chance für eine Entwicklung neuer Produzenten festschreibt.
Demilitarisierung bedeutet laut Vertrag von Chapultepec in erster Linie die Auflösung der berüchtigten Elitebataillone sowie der Guardia Nacional und Policia de Hacienda, die Reinigung und Reduzierung der Streitkräfte, eine neue, auf die Landesverteidigung abzielende Militärdoktrin, die Suspendierung der Zwangsrekrutierungen, die Auflösung der alten und die Bildung einer neuen Polizei, der Policia Nacional Civil.
Formale Demokratisierung schließt unter anderem die Legalisierung der FMLN als politische Partei und die Eingliederung ihrer Kämpfer in das zivile Leben, eine Verfassungsreform sowie ein neues Wahlgesetz (Código Electoral) ein. Die Aufhebung der Straflosigkeit und Ahndung der Menschenrechtsverletzung bildet dabei das Schlüsselglied zwischen formaler und realer Demokratisierung.
Die Stärkung der Zivilgesellschaft und der generellen Konsensfähigkeit in der salvadorianischen Gesellschaft wird einerseits befördert durch die Bildung des Foro para la Concertación Económica y Social, einem Forum des Dialoges zwischen Regierung, Werktätigen und Unternehmerschaft, und andererseits durch die Konstituierung von COPAZ (Comisión Nacional para la Consolidación de la Paz), einer aus Vertretern aller Parteien bestehenden Kommission, die zwar über keine Exekutivrechte verfügt, deren Beratungsfunktion jedoch bindenden Charakter besitzt.
Hinsichtlich der Agrarfrage wird im Vertragstext vor allem das verfassungsmäßige Limit von 245 Hektar und die Übergabe von Ländereien mit einer darüber hinausgehenden Fläche an die Ex-kämpfer beider Seiten unterstrichen, die Möglichkeit ihres Kaufs zum Marktpreis eingeräumt und die vorläufige Beibehaltung des bäuerlichen Besitzrechts in den ehemaligen Konfliktzonen festgelegt.
Gegenwärtig sind es vor allem drei Themen, anhand derer die tatsächliche transformatorische Bedeutung des Friedensabkommens von Chapultepec überprüft werden muß: die Chancen des freien Wettbewerbs unter der Bedingung neoliberaler Strukturanpassung, den Grad der zivilen Kontrolle der Armee sowie der Sanktionen gegenüber den von ihr begangenen Menschenrechtsverletzungen, die Schaffung der Voraussetzungen für wirklich freie Parlaments-, Munizipal- und Präsidentschaftswahlen 1994 und damit für eine Transition zu politischem Pluralismus. Dabei liegen einige der Grenzen der transformatorischen Bedeutung des Vertrages bereits im Vertragstext begründet.
Besonders augenfällig wird dies im sozialökonomischen Teil (Kapitel V) des Vertrages, in dessen Präambel bereits vermerkt ist, daß die „Frente“ die Wirtschaftspolitik der Regierung nicht notwendigerweise teilt. Zu jedem Vertragspunkt wurde ein mehr oder weniger großer Kompromiß erreicht, allein das neoliberale Wirtschaftsprogramm stand außerhalb jeder Diskussion. Dies kann sicher als das entscheidende Manko des Friedensvertrages gelten. Bereits eine der Abschnittsüberschriften macht explizit deutlich, daß das Abkommen lediglich auf Maßnahmen zur Minderung der sozialen Kosten des Strukturanpassungsprogramms abzielt. Die Vertragsbasis für den Umgang mit dem Agrarproblem verbleibt ihrerseits im Rahmen der schon seit 1983 gesetzlich fixierten Eigentumsverhältnisse (245 Hektar sind in El Salvador, dessen Gesamtfläche nur rund 21000 qkm beträgt, ein „normaler“ cafetalero-Großbesitz). In der Realität waren noch neunzehn Monate nach der Vertragsunterzeichnung höchstens zehn Prozent der zur Disposition stehenden Ländereien übergeben, und nur drei Prozent der demobilisierten FMLN-Kämpfer hatten den ihnen zustehenden Boden schon erhalten.
Die Armee ist fraglos jene Institution, die laut Vetrag den größten Veränderungen unterliegt. Allerdings beinhaltet der Vetragstext keinerlei Mechanismen, die eine zivile Kontrolle der Armee praktisch garantieren würden. Die Streitkräfte haben sich massiv gegen eine Beschneidung ihrer Autonomie zur Wehr gesetzt. Dabei erweist sich die Ahndung der durch sie begangenen Menschenrechtsverletzungen (die Kommission der Wahrheit hat insgesamt 22000 Fälle dokumentiert) als das entscheidende Kriterium dafür, inwieweit die Streitkräfte tatsächlich schon unter ziviler Kontrolle stehen. Dies gestaltet sich vornehmlich als eine Kraftprobe mit der Tandona, jener großen tanda (Kurs), welche die Graduierten der Gerardo-Barrios-Militärschule des Jahrgangs 1966 erfaßt, dem unter anderem der ehemalige Verteidigungsminister Emilio Ponce und sein Stellvertreter Juan Orlando Zepeda oder auch der Ex-Luftwaffenchef Juan Rafael Bustillo angehörten, die den Befehl für den Mord an den Jesuitenpatern gaben bzw. unterstützten. Cristiani hatte diese Kraftprobe zunächst gescheut und später verschleppt. Drei Tage vor der Veröffentlichung des Berichts der Kommission der Wahrheit hatten Ponce und Zepeda bei Präsident Cristiani ihren Rücktritt eingereicht. Inzwischen haben sie den Wunsch geäußert, sich verstärkt der Politik zuwenden zu wollen, was mit der zeitweiligen Präsidentschaftkandidatur Bustillos für den PCN schon einmal bedrückende Realität geworden war. Noch ist die Armee für zentralamerikanische Verhältnisse vergleichsweise groß, und es bleibt abzuwarten, ob sie, die einst für eine traditionelle Militärdiktatur Pate stand, um dann zum modernen Kriegsagenten hinter formaldemokratischen Kulissen zu werden, nunmehr in der Lage sein wird, einen „demokratischen Professionalismus“ an den Tag zu legen.
Im Kapitel IV des Abkommens von Chapultepec wird die Reform des Código Electoral initiiert, die im Januar 1993 abgeschlossen wurde und mit der die juristische Voraussetzung für erstmals wirklich allgemeine und freie Wahlen, das heißt unter der gleichberechtigten Partizipation aller legal eingeschriebenen politischen Parteien, gegeben ist. Sollte Realität werden, was dort de jure fixiert ist, so werden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 1994 den Beginn des Übergangs zu politischem Pluralismus in El Salvador und damit eine entscheidende Zäsur in der Transition zu einem demokratischen Regime markieren. Noch besteht aber die Befürchtung, daß von den 2.700 430 wahlberechtigten Salvadorenos 673 649, die nicht im Wahlregister eingetragen sind und/oder keinen Wahlausweis besitzen, ihr Wahlrecht nicht werden wahrnehmen können. Das Oberste Wahltribunal erkennt an, daß auf diese Weise etwa 30 Prozent der Wahlberechtigten von den Wahlen ausgeschlossen wären, wobei noch nicht die in den USA, Kanada und Mittelamerika wohnenden Salvadorenos mitgezählt sind. Es liegt auf der Hand, daß die CD/FMLN, die ihre Wählerschaft vor allem in den Unterschichten sucht, sich angesichts einer solchen vorprogrammierten „Zwangsabstinenz“ großer Teile der Bevölkerung besonders benachteiligt sieht. Die Legitimität der Wahlen wird somit zwar auch 1994 eine beschränkte sein, doch sie wird sich – sollte ein Wahlbetrug ausgeschlossen bleiben – entscheidend positiv von der aller vorangegangenen Wahlen seit 1931 abheben. Wie die Wahlen auch ausgehen mögen, das Hauptproblem des Wahlsiegers wird darin bestehen, wie er beides, Stabilität und Demokratisierung, zu sichern und miteinander zu verknüpfen weiß. Die frühere Kriegs- und gegenwärtige Gewaltmüdigkeit hat in der Bevölkerung zu einem dominierenden „Sicherheitsbedürfnis“ geführt. So gesehen wäre eine knappe absolute Mehrheit in der ersten Wahlrunde, die die Gesellschaft stark polarisieren würde, das am wenigsten wünschenswerte Resultat. Die Konstituierung eines politischen Zentrums, dessen Kern zweifellos der PDC bilden würde, wäre daher eine der notwendigen Voraussetzungen für politische Stabilität in El Salvador. Völlig ungewiß ist in diesem Zusammenhang die Rolle, welche die neuen (evangelischen) Parteien spielen werden.
Bei einem Sieg der ARENA mit ihren möglichen Koalitionspartnern und einer dann zu erwartenden starken linken Opposition wäre ein zähes Ringen um die Aushöhlung bzw. die „Fortschreibung“ des Friedensvertrages angezeigt. Das positive Szenario hieße dann eine Entwicklung hin zur Institutionalisierung eines Systems profilierter und konsolidierter Parteien, das in der Tendenz Parteienpluralismus garantieren könnte. Als das negative Szenario könnte die Verschiebung des heute instabilen Gleichgewichts zwischen autoritärer und demokratischer Tendenz zu einer „modernisierten“ Autoritarismusvariante oder zu einer „violenten“ Demokratievariante gelten.
Sollten – was jedoch nur wenig wahrscheinlich ist – CD/FMLN und PDC, die in einer zweiten Wahlrunde aller Wahrscheinlichkeit nach miteinander koalieren würden, die Wahl gewinnen, dann bestünde einerseits die Chance, daß sich daraus im unabdingbaren Zusammenspiel mit sozialökonomischen Transformationen ein demokratisches politisches Regime entwickeln könnte, andererseits allerdings auch die Möglichkeit einer salvadorianischen „Spielart“ des chilenischen Schicksals von 1973, wenn auch mit anderen Ausgangsbedingungen. In jedem Fall kann sich die FMLN mehr auf ihre Fahnen schreiben als die bloße Rückkehr zum Vorkriegszustand. Im Vergleich zu 1979/80, als keine politische Kraft (weder der PDC noch die erst entstehende FMLN) dazu in der Lage war, das bestehende machtpolitische Vakuum aufzufüllen, haben seitdem die demokratischen Akteure eine solche Legitimität erreicht, die sie in die Position versetzt, auch gesamtgesellschaftlich konsensbildend wirken zu können. Der Friedensvertrag selbst ist noch kein Ausdruck einer „Revolution Negociada“, doch wäre durchaus denkbar, daß – sollte die Gesellschaftsvision der FMLN einst tatsächlich Realität werden – dieser dann (im historischen Rückblick) als der „Gesellchaftsvertrag“ einer „Revolution Negociada“ gelten wird.
El Salvador bedient damit nicht jenen „klassischen Transitionsfall“ eines zeitlich komprimierten Regimewechsels, sondern der Regimewandel hat hier einen ausgeprägten prozessualen Charakter. Am Beginn einer ersten Phase war mit dem Sturz des Präsidenten General Romeros 1979 der „akute“ Autoritarismus unter dem Druck einer Massenmobilisierung mit revolutionärem Impetus aufgebrochen worden. Gleichzeitig blieb bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages das Militär der entscheidende politische Akteur hinter formaldemokratischer Staffage. Die „formale“ Demokratie war in dieser Periode zwar durch ein Mehrparteiensystem, aber nicht von einem profilierten Parteienpluralismus gestützt. Schließlich befand sich das Land im Kriegszustand, der als das Gegenteil einer demokratischen Gesellschaft schlechthin gelten kann. Mit dem Friedensvertrag von Chapultepec, der das instabile Gleichgewicht zwischen einem nun „latenten“ Autoritarismus und einem aufkommenden gesamtgesellschaftlichen Demokratiepotential fixiert hat, begann die zweite Phase der Transition. Die Wahlen von 1994 werden das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung kippen und besitzen daher eine wahrhaft historische Bedeutung. Sie könnten zum Beginn einer dritten Phase der Transition werden, könnten aber auch lediglich die zweite Phase vertiefen oder gar, im negativsten Fall, „aushöhlen“.
War die Auseinandersetzung um Demokratisierung in der ersten Phase eine vornehmlich militärische, so dominiert in der zweiten Phase das politische Ringen um die Vertiefung der Transition, in der dritten Phase kann politische Demokratisierung nur fortgeführt werden, wenn neben der politischen Gesellschaft die Zivilgesellschaft und die Ökonomie zum entscheidenden Austragungsort der Kontroverse werden. In der Zivilgesellschaft wird sich entscheiden, ob El Salvadors Demokratiepotential groß genug ist, nicht nur die kriegerische, sondern auch die „diffuse“ politisch-kriminelle Gewalt, die ihr nachgefolgt ist, zu überwinden. In der Wirtschaft wird es von der Stärke bzw. Förderung der kleinen Produzenten abhängen, ob eine „Nueva Economía Popular“ Lebenschancen hat.
El Salvador steht somit für den bisher einzigartigen Fall in Lateinamerika, daß eine auf bewaffnetem Wege in Angriff genommene – allerdings nicht vollzogene Revolution – der Ausgangspunkt und der Katalysator für eine (bei weitem noch nicht abgeschlossene) Regimetransition auf friedlichem Wege war. Dies mag lediglich ein Indiz für den letzten „Ausläufer“ eines längst vergangenen Zeitalters sein. Es kann aber auch heißen, daß, anders als auf dem inzwischen „redemokratisierten“ Südkonus, die Demokratie in Mittelamerika grundsätzlich „neuerrichtet“ werden muß.
* Diese und weitere Abkürzungen siehe Parteienlexikon.