Die andere Logik… Der Frieden in El Salvador und der Fall der Berliner Mauer
Die folgenden Interviews wurden im September 1993 von zwei Mitgliedern unserer Redaktion in San Salvador geführt. Es handelt sich hier um eine Erstveröffentlichung von Auszügen. Auslassungen sind nur dann gekennzeichnet, wenn sie innerhalb der hier abgedruckten Redepassagen vorgenommen wurden. Natürlich repräsentieren die fünf Interviewpartner, vier Führungsmitglieder von Gruppierungen der FMLN und der persönliche Vertreter Präsident Cristianis bei den Friedensverhandlungen, nicht die gesamte Breite des politischen Spektrums in El Salvador. Unser Anliegen konnte es hier nur sein, mit unserer Auswahl sowohl die innerhalb der FMLN bestehenden Nuancierungen als auch das Phänomen einer „Neuen Rechten“ zu reflektieren.
Die Einheit der FMLN steht gegenwärtig wieder im Kreuzfeuer der Diskussion. Wenn das Fundament der Einheit vor dem Friedensvertrag in der gemeinsamen Anerkennung des bewaffneten Kampfes für Revolution und Sozialismus durch alle FMLN-Organisationen bestand, worauf gründet sich die Einheit dann heute?
In Wirklichkeit hat die FMLN niemals die Zielstellung verfolgt, für den Sozialismus zu kämpfen. Das Programm der FMLN, das von der FDR geteilt wurde, war kein Programm des Sozialismus, sondern eines für die Demokratie, das allerdings auch einen ökonomischsozialen Wandel vorsah, so zum Beispiel die Nationalisierung von wirtschaftlichen Unternehmen mit strategischer Bedeutung, doch darüber hinaus gab es keinen Entwurf für eine sozialistische Gesellschaft. Daß die FMLN zunächst für den Sozialismus gekämpft und dies dann angesichts der Veränderungen in Europa aufgegeben habe, das ist nur Propaganda. Die FMLN als solche besaß niemals ein sozialistisches Programm. Lediglich einige ihrer Komponenten, Organisationen, erklärten in ihren eigenen Programmen den Sozialismus zu ihrem historisch langfristigen Ziel. Doch das hatte keinen Eingang in das gemeinsame Programm gefunden. Auch die späteren programmatischen Modifikationen änderten daran nichts. Sie betrafen vielmehr Reformen an der ursprünglichen Plattform der FMLN/FDR, mit denen der demokratische Charakter der Revolution stärker akzentuiert werden sollte. Das geschah vor allem in unserer „Proklamation an die Nation“ vom September/Oktober 1990, welche die Friedensverhandlungen programmatisch vorbereitet hatte, und deren Inhalt sich auch in den Verträgen widerspiegelte. Man kann sogar sagen, daß dieses Programm die Grundlage für den Friedensvertrag von Chapultepec war. Denn die Regierung hat niemals irgendetwas vorgeschlagen. Sie hat stets auf der Basis unserer Vorschläge verhandelt.
Der Schwachpunkt von Chapultepec ist der sozialökonomische Teil. Der Vertrag enthält zwar auch solche Vereinbarungen, doch sie entsprechen nicht einem revolutionär-demokratischen Programm. Wir sind zur Zeit dabei, dies in der Plattform für unseren Wahlkampf zu komplettieren.
Wie würden Sie die Bedeutung des Vertrages von Chapultepec für den Transformationsprozeß in El Salvador einschätzen? Hat mit Chapultepec die demokratische Revolution ihr Ziel erreicht, wie es von der ERP zuweilen behauptet wird?
Wir betrachten die demokratische Revolution noch nicht als beendet. Und selbst in jener Organisation, auf die Sie sich beziehen, gibt es dazu keine einheitliche Position.
Die demokratische Revolution ist nicht vollzogen, weil erstens die Frage der Macht noch nicht gelöst ist. Zweitens sind selbst die vom Vertrag von Chapultepec vorgesehenen demokratischen Veränderungen noch nicht in die Praxis umgesetzt. Und drittens ist das sozial-ökonomische Programm noch keine Realität.
Der Vertrag von Chapultepec hat jene Transformation, von der Sie sprechen, in Gang gesetzt und zwar entsprechend den Eigentümlichkeiten unseres Prozesses. Dieses Problem, ob die Revolution zu Ende ist oder nicht, erweist sich jedoch als so abstrakt, daß es jetzt keine große Debatte hervorruft. Gegenwärtig geht es um die Erfüllung der Friedensverträge und um Veränderungen durch die Präsidentschaftswahlen 1994.
Die Theorie hinkt also ein wenig hinter der Praxis her, was vielleicht die These in Frage stellt, nach der es ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung gebe.
Um auf die Praxis zurückzukommen, ist der Eindruck richtig, daß die FMLN den PDC im Ringen um die Verwirklichung des Friedensvertrages als Partner betrachtet?
Besonders im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen ist es unabdingbar für uns, mit dem PDC ein Einvernehmen zu erreichen. Es ist wahrscheinlich, daß es in den Wahlen eine zweite Runde geben wird, und egal, ob da wir oder der PDC an zweiter Stelle stehen werden, wird eine Übereinkunft zwischen uns notwendig sein. Man muß doch den PDC der ARENA vorziehen. Ohne eine Koalition mit dem PDC wird es außerdem sehr schwierig sein. ARENA in den Munizipien zu schlagen. Und nach den Wahlen zur Asamblea Legislativa brauchen wir auch dort eine Kooperation mit dem PDC. Wir denken, daß das nötig ist, obwohl wir mit dem PDC während des Krieges große Konfrontationen hatten. Doch es hat Veränderungen gegeben, und jene die von seilen des PDC diese Konfrontationen heraufbeschworen hatten, sind gegangen. Während der Friedensverhandlungen haben wir und der PDC uns einander angenähert. PDC-Mitglieder haben dabei Aufgaben erfüllt, die einige Aspekte der Verhandlungen erst ermöglichten. Auf der anderen Seite besitzt der PDC eine große Basis im Volk. Das heißt, seine soziale Basis ist genauso zusammengesetzt wie unsere und war der unseren immer sehr nahe. Noch während des Krieges, als die PDC-Führung jene bekannte Position besaß, gab es in der Basis und auf dem mittleren Funktionärsniveau viele Beispiele einer Übereinstimmung.
Das heißt, sollte es in den Präsidentschaftsivahlen eine zweite Runde geben, ist eine Allianz zwischen Convergencia Democrática/FMLN und PDC abzusehen?
Ja, die Gespräche dazu sind schon weit fortgeschritten. Sie werden schon seit längerer Zeit geführt, nicht nur mit dem PDC, sondern auch mit dem MNR und einigen neuen Parteien. Wir streben eine Kooperation an, ob es nun eine zweite Wahlrunde gibt oder nicht. Sollte es zur gemeinsamen Regierungsverantwortung kommen, hieße das, den Weg von Chapultepec weiterzugehen, egal, wie die Wahlen ausgehen würden. Gleichzeitig muß dafür eine Mehrheit in der Asamblea Legislativa gesichert werden, und das würde auch implizieren, gemeinsam in den Munizipien zu regieren. Der Kompromiß wäre der von Chapultepec.
Auch wenn sie Ihnen schon oft gestellt worden sein mag, möchte ich doch abschließend diese Frage noch einmal aufwerfen: In welchem Moment hat die FMLN endgültig festgestellt, daß ein militärischer Sieg für sie unerreichbar ist? Und warum hat sie die November offensive 1989 lanciert?
Wir haben die Möglichkeit eines militärischen Sieges nie völlig ausgeschlossen. Nein, nicht weil wir unseren militärischen Sieg für unerreichbar hielten, haben wir uns zu den Verhandlungen bereit erklärt. Doch gleichzeitig haben wir seit dem Beginn des Krieges im Jahre 1981 auch immer nach einer politischen Verhandlungslösung gesucht. Wenn Sie fragen, seit wann wir für Verhandlungen plädieren, so antworte ich. von Anfang an. Andererseits wurden wirkliche Verhandlungen dann möglich, als man verstand, daß man uns nicht militärisch besiegen kann. Daß es gerade die ARENA-Regierung war, die dies einsehen mußte, war gewiß ein Paradoxon. Denn diese Partei war ja unter der Losung entstanden: Verhandeln ist Verrat. Und sie blockierte später Duartes Verhandlungsbemühungen. Für Cristiani bedeutete „Dialog“ nur. sein internationales Image aufzupolieren. ARENA übernahm die Regierung mit der Einstellung des „totalen Krieges“. Sie beschuldigte sogar die USA. daß diese den Krieg nicht gewinnen wollen, weil sie – wo es nach Meinung von ARENA den „totalen Krieg“ brauchte – nur einen Krieg „niedriger Intensität“ führten, und daß wir nicht besiegt wurden, weil die USA uns gar nicht besiegen wollten.(…)
Als wir sahen, daß die von Cristiani vorgeschlagenen Verhandlungslösungen immer wieder auf die Kapitulation der FMLN hinausliefen bzw. auf etwas, das dem etwa gleichkam, nämlich auf unsere Beteiligung am politischen Leben ohne die vorherige Veränderung der Gesellschaft, und als danach ein erneuter Vorschlag unsererseits im Oktober 1989 wiederum auf die Ablehnung der Regierung stieß und als schließlich durch eine Bombenexplosion im Gebäude von FENASTRAS deren gesamte Führung ermordet worden war, begannen wir unsere Offensive. Und diese Offensive führte dazu, daß sich die Regierung zunächst einen militärischen Sieg aus dem Kopf schlug. Der ARENA-Flügel, der den „totalen Krieg“ favorisierte, wurde kleiner, weil der größte Teil in ARENA eine Wende vollzog. (…)
Später ließen die Wahlniederlage der Sandinisten und die Ereignisse in Europa bei der Regierung und der US-Administration noch einmal Hoffnung auf eine militärische Lösung aufkommen. So wurde im November 1990 eine weitere Offensive der FMLN notwendig, die weniger spektakulär als die von 1989, dafür aber militärisch effizienter war. Danach wurden die Verhandlungen endgültig auf den Weg gebracht. So waren selbst die Verhandlungen ein militärischer Erfolg; und man kann demzufolge nicht sagen, daß wir diese akzeptierten, weil wir militärisch erfolglos gewesen wären, sondern das Gegenteil war der Fall. Natürlich ist es von einer großen Symbolik, daß die Novemberoffensive 1989 parallel zu den Ereignissen von Berlin stattfand.(…) Die Logik der politischen Prozesse in El Salvador ist nicht die gleiche wie in Europa. Wir Kommunisten hier in El Salvador und die FMLN als Ganzes genießen Respekt. Klar, die Rechte versucht uns zu schmähen. Aber das ist nichts Neues. Das Denken der Salvadoreños geht in eine andere Richtung als das der Europäer. Viele Europäer – auch Linke – haben uns gefragt: Warum sprecht ihr noch vom Sozialismus? Hier, in El Salvador, kann man nicht nur vom Sozialismus sprechen, man muß es. Es ist eine völlig andere Logik.
(Das Interview führte Heidrun Zinecker am 9. September 1993 in San Salvador)